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Full text of "Aglaja : ein Taschenbuch für das Jahr .."

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http:/www.archive.org/details/aglajaeintaschen1824duke 


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oedruckt 1818 N Vealgge 
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BEI JOH. BAPT. WALLISHAUSSER. 


Warsgwlxis. Junker E. 
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Ihrer kaiſerlichen königlichen Hoheit 


der 
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Maria Dorothea, 


kaiſerlichen Prinzeſſin und Erzherzogin 
von Oſterreich, 


ehrfurchtsvoll gewidmet 1 


vom Verleger. 


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Madonna 


Gemählde von Fra Bartolomeo a St. 
Marco. 


Das Original befindet ſich in der Gemählde- Gallerie Sr. 
Durchlaucht des Herrn Fürſten Eſterhezy⸗ 


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Gemählde von Domenichinso. 


Das Original befindet ſich in der Sammlung des Herrn M. 
Grittner. 


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Gemählde von Onoro Marinaro⸗ 


Das Original befindet ſich in der Gemählde-Gallerie Sr. 
Durchlaucht des Herrn Fürſten Erſterhäzy. 


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IV. 
Studierende Mönche. 


Gemählde von Rembrandt. 


Das Original befindet ſich in der Gemählde-Gallerie Sr. 
Durchlaucht des Herrn Fürſten Eſterhszy. 


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V. 
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Gemählde von P. Krafft. 


Das Original befindet ſich in der Gemählde-Gallerie Sr. 
Durchlaucht des Herrn Fürſten Johann Liechtenftein. 


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Correggio's Porträt, 
von ihm ſelbſt gemahlt. 


Das Original befindet ſich in der Gemählde⸗ Gallerie Se⸗ 
Durchlaucht des Herrn Fürſten Eſterhäzy. 


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für das Jahr 1824. 


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Mere Etienne Durand galt für den reichſten Mann in 
dem Bezirke von Beaune, einem der ſchönſten Landſtriche 
Burgunds, wo er ſich bald nach der Schreckenszeit der fran— 
zöſiſchen Revolution angekauft hatte. Auch kannte man weit 
und breit keinen wohlthätigeren Mann als ihn, weßhalb er 
von ſeinen Nachbarn, meiſt armen, fröhlichen Winzern, ge— 
wöhnlich nur Vater Durand genannt wurde. In der That 
ſchien Herr Durand feinen Reichthum mehr für Andere, als 
für ſich ſelbſt, zu beſitzen. Er lebte mäßig, beynahe karg; be— 
wohnte die ſchlechteſten Zimmer ſeines Schloſſes, und kleidete 
ſich wie ein gemeiner Bürger von Paris, welches geweſen zu 
ſeyn er nicht verhehlte. Dagegen ſcheute er keinen Aufwand, 
wenn es darauf ankam, einen dürftigen und zugleich recht— 
ſchaffenen Mann zu unterſtützen, oder ihm einen guten Tag 
zu machen. Bey ſolchen Anläſſen gab es nur eine Gränze, 
welche ſeine Freygebigkeit nie überſchritt: er hatte es ſich, 
wie man bemerken konnte, zum Grundſatze gemacht, ſeine 

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ih 

Beſitzungen ſtets in dem Umfang’ und Werthe zu erhalten, 
die ſie zu der Zeit, da er ſie kaufte, gehabt hatten. Dieſes 
Stammvermögen bewahrte Herr Durand wie ein Heiligthum: 
aber er zeigte ſich eben fo abgeneigt, daſſelbe zu vermehren, 
als es zu vermindern; ja er ſchien, ſeitdem er jene Beſitzun⸗ 
gen erworben, jeden Zuwachs ſeines Wohlſtandes als eine 
Laſt zu betrachten, deren er ſich ſobald als möglich wieder ent⸗ 
ledigen müßte. . 

Auf welche Weiſe Vater Durand zu ſeinem großen Vermö⸗ 
gen gekommen, war in der Gegend nicht bekannt. Man vermu⸗ 
thete, daß der Weinhandel, welchen er früher betrieben, den 
Grund dazu gelegt, und daß ihn dann mehrere glückliche Un⸗ 
ternebmungen im Kauf und Verkauf von Nationalgütern in 
den Stand geſetzt hätten, die weitläufigen Ländereyen an ſich 
zu bringen, in deren Beſitze er ſich gegenwärtig befand. 
Dieſe Ländereyen hatten ehemahls den Herren von Sorville an— 
gehört, einem altadeligen Geſchlechte, deſſen letzter Stamm⸗ 
halter, unter der Herrſchaſt des Wohlfahrtsausſchuſſes, das 
Opfer feiner Anhänglichkeit an die königliche Regierung gewor⸗ 
den war. Es ging das Gerücht, Durand habe, als Mitglied 
der Pariſer Nationalgarde, den unglücklichen Marquis von 
Sorville auf dem Wege zur Guillotine begleitet, und der Ein: 
druck, welchen die Hinrichtung dieſes edlen Mannes auf ihn 
machte, ſey vornehmlich Urſache geweſen, warum er einige 
Zeit nachher fein Gewerbe in der Vorſtadt St. Martin auf: 
gegeben, und Paris ſelbſt verlaſſen habe. 

Wirklich ſchien Vater Durand der un glücklichen Familie, 
deren Beſitzthum er eingetreten, eine mehr als gewöhnliche 
Theilnahme zu widmen. Man wußte, daß er ſich viele Mühe 


5 


gegeben, den Aufenthalt von Sorsville's kranker Gemahlin und 
deſſen unmündigem Söhnlein auszuforſchen, welche nach der 
Verhaftnehmung des Marquis die Flucht ergriffen, und nach- 
dem fie einige Monate hülflos umhergeirrt, in einem klei— 
nen Gränzorte Deutſchlands, wie ſpätere Nachrichten verſicher— 
ten, bald nach einander geſtorben waren. Auch lange nach die— 
ſer Zeit bemerkte man, daß ſich Durand bey Reiſenden und 
zurück gekommenen Ausgewanderten oft ſehr angelegentlich 
um nähere Auskünfte über das Schickſal jener unglücklichen 
Flüchtlinge erkundigte. Wenn er dann entweder keine, oder 
nur die Beſtätigung der früheren Nachrichten von ihrem bekla— 
genswerthen Tode erhielt, fand man ihn ſtets tiefſinniger und 
ſtärker gerührt, als man es von ſeiner heiteren Gemüthsart 
bey anderen Anläſſen gewohnt war; daher ſich Manche nicht 
enthalten konnten, zwiſchen Durand und dem verſtorbenen 
Marquis irgend ein geheimes Verhältniß anzunehmen, über 
deſſen eigentliche Beſchaffenheit jedoch Niemand eine wahr: 
ſcheinliche Vermuthung aufzuſtellen wußte. 

Ungefähr zwey Jahre nach dem Ankaufe feiner großen Be 
ſitzungen ſchloß Herr Durand, der ſeit längerer Zeit Witwer 
war, eine zweyte Heirath mit einer jungen Perſon von ange— 
nehmer Geſtalt und lebhaften Character, die er vor kurzem 
kennen gelernt hatte. Der ſchon ziemlich bejahrte, aber noch 
rüſtige Mann liebte ſeine junge Frau ungemein, und auch ſie 
war ihrem Gatten herzlich zugethan, obwohl ihre Anſichten 
und Neigungen nicht immer mit den ſeinigen übereinſtimmten. 
So war ſie zum Beyſpiele mit ſeiner allzugroßen Freygebigkeit 
gegen Nachbarn und Fremde keineswegs einverſtanden, woge— 
gen fie ihn beſchuldigte, in feinen eigenen Haufe es nicht feiz 


6 


ten an dem ſchicklichen Aufwande fehlen zu laſſen. Nicht mes: 
niger hatte fie gegen Durands altfränkiſche Manieren und ges 
gen die Treuherzigkeit einzuwenden, womit er feines ehmahli⸗ 
gen Gewerbes in Paris und feiner guten Nachbarn in der Vor— 
ſtadt St. Martin noch öfters erwähnte. Man brauchte es, 
meinte ſie, eben nicht zu wiſſen, daß der reiche Gutsbeſitzer 
Durand, und Meiſter Etienne, der Böttcher am Thore St. 
Martin, eine und dieſelbe Perſon ſen. Dagegen hielt es 
Frau Suſanne — dieß war ihr Nahme — nicht für überflüſ— 
Tg, ihrer eigenen guten Herkunft gelegentlich zu gedenken; 
denn ſie hatte die Ehre, eine geborne Pariſerin aus dem ge— 
bildeten Mittelſtande zu ſeyn, und unter ihren Verwandten 
Leute in Aemtern und Würden zu zählen. 3 

Madame Durand gebar ihrem Gatten eine Tochter, wel: 
che bald der Augapfel des Vaters, und der Stolz der Mutter 
ward. In der That konnte man kein ſchöneres, anmuthige— 
res Kind ſehen, als die kleine Adele, wie Frau Suſon ihr 
Töchterchen, nicht eben zur Zufriedenheit ihres Mannes, ge— 
nannt hatte. Er fand den Nahmen zu vornehm für die Toch⸗ 
ter eines ehrlichen Bürgers aus der Vorſtadt St. Martin, 
den ein glückliches Ungefähr doch zu weiter nichts, als zu dem 
erſten Winzer des Bezirkes von Beaune gemacht hätte. Aber 
Frau Suſanne lachte über dieſe Bedenklichkeiten ihres Ehe— 
herrn; ſie meinte, der beſte Mann in Frankreich ſollte ſich 
einſt nicht zu vornehm dünken, um ihre Adele zu werben, die 
ſo hübſch wäre, wie eine Prinzeſſin, und, wenn Durand es 
darnach anſtellte, wohl auch fo reich werden könnte. Deßhalb 
eben war ſie mit ſeiner gutherzigen Verſchwendung, wie ſie 
ihres Mannes Mildthätigkeit nannte, oft recht unzufrieden; 


7 


denn Adele konnte, ihrer Meinung nach, des Geldes gar 
nicht zu viel haben, um des Eidams werth zu ſeyn, welchen 
ſich Frau Suſon künftig einmahl unter den Würdenträgern 
des Reiches auszuwählen gedachte. 

Adele wuchs indeſſen heran, ſo zierlich und fein gebildet 
als die Mutter, und fo verſtändig und gut geartet, als der 
Vater es wünſchte. Der ehrliche Mann konnte, oder wollte es 
nicht hindern, daß ſeine Tochter in allerley Künſten und Fer— 
tigkeiten unterrichtet wurde, die er zwar für überflüſſig hielt, 
worauf aber ſeine Frau einen ungemein hohen Werth ſetzte. 
Adele tanzte und fang, zeichnete ein wenig, plauderte italie— 
niſch und engliſch, und benahm ſich bey dem allen mit ſo viel 
natürlicher Grazie und Beſcheidenheit, daß alle Welt von ihr 
entzückt war. Durand ſelbſt, vor deſſen Augen die Liebenswür— 
digkeit ſeiner Tochter ſich täglich mehr entwickelte, fing nach 
und nach an, ſich mit der Erziehungsweiſe ſeiner Gattin 
guszuſöhnen. Er widerſetzte ſich ihren Anordnungen immer 
weniger; zahlte ohne Murren die theuren Meiſter, Bücher, 
Inſtrumente u. ſ. w., welche Frau Suſanne von allen Seiten 
zu Adelens Unterrichte herbeyzuſchaffen wußte, und ließ es ge— 
ſchehen, daß die ganze Einrichtung des Hauſes nach und nach 
ein feineres und vornehmeres Anſehen erhielt. Während er ſelbſt 
ſeiner einfachen Lebensart getreu blieb, ward die Umgebung 
ſeiner Frau und Tochter zuſehends reicher und glänzender; 
und indem er feine Geſchäfte noch fortwährend in einer Hin— 
terſtube des Wirthſchaftsgebäudes abmachte, verwandelten 
ſich die großen Gemächer des Schloſſes, welche bisher leer 
geſtanden, allmählich in geſchmackvoll verzierte Concert- und 
Geſellſchaftsſäle, worin die ſchöne Welt der umliegenden Ge⸗ 


8 

gend an beſtimmten Tagen zuſammenkam, um Adelens Taten: 
te zu bewundern, und nebenbey der guten Küche der Haus— 
frau und Herrn Durands trefflichen Weinen zuzuſprechen. 
Madame Durand bewies bey ſolchen Gelegenheiten, daß eine 
Pariſerin, von welchem Stande ſie auch ſey, in der Provinz 
wenigſtens, eine Dame von Rang vorſtellen könne, ſobald 
es ihr beliebt; denn nichts übertraf die ungezwungene Artig⸗ 
keit, womit ſie ihre Geſellſchaft empfing, es müßte denn die 
treuherzige Unbefangenheit ſeyn, mit welcher Durand ſelbſt ſich 
unter feine Gäſte miſchte, ohne im geringſten etwas von ſei— 
nem altfränkiſchen Weſen abzulegen. 

Durands Tochter näherte ſich jetzt dem Alter, wo die per⸗ 
ſönliche Anmuth durch den Reitz des Geſchlechtes erhöht wird. 
Ihre üppiger aufblühende Geſtalt fing an, ſich mit dem 
Schleyer jungfräulicher Scham zu umziehen; ihre kindliche 
Lebhaftigkeit ging zuweilen in Ernſt und Nachdenken über; 
fie bewegte ſich, und ſprach gemeſſener; wenn fie fang oder 
las, ſchien die Empfindung über ihre Kunſtfertigkeit vorzu⸗ 
herrſchen: — in ihrem ganzen Weſen war mehr Innigkeit und 
Seele. Die Frauen bemerkten dieſe Veränderung mit Las 
cheln, wohl auch mit aufkeimender Eiferſucht; in den Bli⸗ 
cken der Männer verrieth ſich eine wärmere Theilnahme, als 
ſie dem ſchönen Kinde bisher bewieſen hatten. Madame Durand 
war ſchon zuweilen mit dem Gedanken au die Wahl eines 
Eidams beſchäftigt; aber bey weiterer Ueberlegung fand ſich, 
daß noch Niemand die Eigenſchaften vereinigte, welche ihre 
Anſprüche in dieſer Hinſicht befriedigen konnten. Ihr Mann, 
mit dem ſie über dieſen Gegenſtand einmahl ſprach, nahm 
eine ernſthafte Miene an, und brach die Unterredung mit der 


9 


Bemerkung ab: »Es fen wohl noch zu früh, au Adelens Ber: 
heirathung zu denken; übrigens halte er es für's Beſte, das klu⸗ 
ge Mädchen dereinſt ſelbſt wählen zu laſſen; denn am Ende 
hätten die Töchter in dieſen Dingen nicht nur einen beſſeren 
Geſchmack, ſondern nicht ſelten auch mehr Verſtand, als Va— 
ter und Mutter zuſammengenommen. « 

In der That war es die Ueberzeugung von der natürlichen 
Unbefangenheit und dem guten Verſtande feiner Tochter, was 
Herrn Durand gegen die ehrſüchtigen Plane feiner Srau gleich: 
gültiger machte, als er es wohl ſonſt geweſen ſeyn würde. 
Adele hatte, ungeachtet ihrer geſelligen Neigungen und Vor⸗ 
züge, wenig Hang, eine auffallende Rolle in der Welt zu 
ſpielen. Sie liebte die Beſchäftigung mit den ſchönen Künſten 
aus Geſchmack, nicht aus Eitelkeit. Die Ausbildung ihrer Tas 
lente war ihr ſo leicht geworden, und ſie fand ſo viel Vergnü⸗ 
gen darin, fie auszuüben, daß es ihr eben fo wenig einfiel, 
auf dieſe Talente ſtolz zu ſeyn, als der Vogel darauf ſtolz iſt, 
wenn er die Flügel erhebt, um ſich in die Luft zu ſchwingen. 
Die Lobſprüche, die man ihrer Geſtalt und ihren Geiſtesgaben 
ertheilte, waren zu alltäglich und zum Theil zu übertrieben, 
um einen beſondern Eindruck auf ſie zu machen; die Männer, 
deren Huldigungen fie empfing, hatten zu wenig ausgezeich- 
neten Werth, um ihr gefährlich zu werden. Noch immer hat⸗ 
te ſie keinen Mann kennen gelernt, der nach ihrem Gefühl, 
an Adel der Geſinnung und Liebenswürdigkeit des Characters, 
ſich mit ihrem guten alten Vater vergleichen ließe; und 
fo war es eigentlich die ſchmuckloſe Tugend dieſes trefflichen 
Mannes, deren bloßer Anblick ſeine ihm gleichgeartete Toch⸗ 
ter, mitten in dem Glanz und Flitter der ſogenannten ſchönen 


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Welt, vor den Berirrungen der Künſteley und der Eitelkeit ber 
wehrte. 

So viel Urſache Herr Durand indeſſen hatte, mit dem 
Betragen ſeiner Tochter zufrieden zu ſeyn, ſo war doch nicht 
zu verkennen, daß ihn öfters geheime Sorgen beunruhigten, 
deren Gegenſtand Adelens Zukunft zu ſeyn ſchien, und daß 
ſeine Unruhe größer ward, je näher der Zeitpunct kam, wo er 
billiger Weiſe auf ihre Verheirathung bedacht ſeyn mußte. 
Es war, als ob er irgend ein Ereigniß befürchtete, das der 
Zufriedenheit und dem Glücke des theuren Kindes drohte, und 
welches abzuwenden nicht in ſeiner Macht ſtünde. Bey allen 
Tugenden, welche Adelen ſchmückten, mußte man geſtehen, 
daß ihr eine gewiſſe Weichlichkeit und Verzärtelung des Gefüh— 
les anhing, die es ihr ſchwer gemacht haben würde, die Ent— 
behrungen der Armuth, oder auch nur die Beſchränktheit mit— 
telmäßiger Umſtände zu ertragen. Dieſe Vorſtellung ſchien 
die Einbildungskraft des redlichen Mannes jetzt oft zu beſchäf⸗ 
tigen; er machte ſich nun ſeine Nachgiebigkeit gegen das 
eitle Erziehungsſyſtem ſeiner Frau ernſtlich zum Vorwurfe, 
und tadelte es manchmahl laut, daß Adele dadurch an Be— 
quemlichkeiten und Genüſſe gewöhnt worden, welche fie viel⸗ 
leicht einſt ſchmerzlich vermiſſen würde. In ſolchen Augenbli⸗ 
cken ſprach er ſo ſeltſam von der Unſicherheit des Reichthums, 
und der Glücksgüter überhaupt, als ob er ſein ganzes Vermögen 
auf eine falſche Karte geſetzt, oder auf ſchwanken Bretern den 
Winden und Wellen preis gegeben hätte. 

Frau Suſanne hielt dieſe Aeußerungen Anfangs bloß für 
hypochondriſche Einfälle, von denen ſie ihren Mann überhaupt 
nicht frey ſprach, und achtete deßhalb wenig darauf. Indeſſen 


11 


fand ſie in der damahligen Lage Frankreichs doch unvermuthet 
Anlaß, der mißmuthigen Stimmung ihres Gatten noch eine 
andere, tiefer begründete Deutung zu geben. Die Schlacht 
bey Leipzig hatte den Militärdespotismus und den kaiſerlichen 
Thron geſtürzt. Die Ausgewanderten waren mit den Bour— 
Bons zurückgekehrt; allen Verhältniſſen des Landes und der Bür— 
ger ſchienen große Veränderungen bevor zu ſtehen, und beſon— 
ders erwartete man, die Käufer der Nationalgüter von allen Sei— 
ten bedroht und angefochten zu ſehen. Obgleich die Familie, 
welche ehemahls Durands Güter beſeſſen hatte, in den Stür—⸗ 
men der Revolution untergegangen, und wie man gewiß zu 
ſeyn glaubte, gänzlich erloſchen war, ſo wußte man doch nicht, 
welche Anſprüche vielleicht der Staat auf Beſitzungen machen 
dürfte, die zur Zeit der Geſetzloſigkeit weit unter ihrem Wer- 
the erkauft worden waren. Dieß, meinte Frau Suſanne, 
müſſe der Grund von der zunehmenden Unruhe, und den mit— 
unter ſeltſamen Reden ihres Gatten ſeyn. Es ſchien ihr da— 
her nothwendig, das Intereſſe ihres Hauſes ungeſäumt durch 
eine ſtaatskluge Verbindung zu ſichern, und die Wahl ihres 
Eidams nicht länger zu verſchieben, der, wie es ſich von ſelbſt 
verſtand, nur einer der erſten und einflußreichſten Familien 
des Departements angehören konnte. Sie beſchloß, dieſes Vor— 
haben in aller Stille und ohne Wiſſen ihres Mannes einzulei— 
ten, da feine Geradheit, und das, was fie feine Vorurtheile 
nannte, dem Gelingen eines ſolchen Unternehmens eher hin— 
derlich als zuträglich ſeyn mußten. 

Unter Durand's Nachbarn war der Baron von St. Flour 
einer der bedeutendſten. Seine Familie gehörte zum alten Adel, 
und war mit dem ehemahligen Beſitzer von Durand's Gütern 


22 


in entferntem Grade verwandt. Der Baron hatte den Ruf, 
ein Mann von Welt und großer politiſcher Gewandtheit zu 
ſeyn. Er war gleich im Anfange der Revolution zur Democra— 
tie übergegangen, und hatte bey allen Veränderungen der Ger 
walt ſich immer folgerecht derjenigen Parthey angeſchloſſen, 
welche die ſtärkſte zu ſeyn ſchien. Mit ſeinem Vetter und Nach⸗ 
bar, dem Marquis von Sorville, ſtand der Baron in einem 
Verhältniſſe, worüber die Welt nicht ſehr günſtig urtheilte. 
Einige behaupteten geradezu, der Angeber, welcher den Mar⸗ 
quis der Blutgier des Wohlfahrtsausſchuſſes ausgeliefert, ſey 
kein Anderer, als ſein Vetter St. Flour geweſen. Wenigſtens 
glaubte man ziemlich allgemein, daß es nicht des Barons 
Schuld war, wenn ſein Anſchlag, ſich in den Beſitz von Sorvil⸗ 
le's Gütern einzudrängen, ihm nicht gelungen. Ueberhaupt hatte 
Herr von St. Flour, ſeiner wetterwendiſchen Politik ungeachtet, 
wenig Fortgang in feinen Unternehmungen. Sein Witz und 
ſein Vermögen erſchöpften ſich in Entwürfen des Ehrgeitzes 
und der Habſucht, ohne daß er bisher ſeine ſelbſtſüchtigen 
Zwecke erreicht hätte. Indeſſen verſtaͤnd er es mindeſtens, durch 
ſeine unermüdete Thätigkeit die Aufmerkſamkeit der Menge auf 
ſich zu ziehen, und durch die Zuverſicht, womit er in ent⸗ 
ſcheidenden Augenblicken ſich in die Nähe der Mächtigen 
drängte, von Zeit zu Zeit den Glauben zu erwecken, daß er im 
Begriffe ſey, eine wichtige Perſon vorzuſtellen. So hatte ſich 
auch jetzt die Meinung verbreitet, daß er unter den Häuptern der 
Royaliſten ſehr warme Freunde habe, und nächſtens ſelbſt ei⸗ 
ne der erſten Stellen in der Verwaltung des Departements 
antreten werde. 

Auf dieſen Mann und deren Familie richtete Madame Du⸗ 


13 


rand nun ihr Augenmerk, um ihrem Hauſe eine Schutzwehr 
gegen die Gefahren der Zeit zu verſchaffen. Zwar wußte fie, 
daß Durand einen alten Groll gegen den Baron hatte, und 
daß beyde Männer ſich ſelten oder nie ſahen; doch dieſe 
Schwierigkeit, die auf Mißverſtändniſſen und längſt vergeſſe— 
nen Zwiſtigkeiten zu beruhen ſchien, hoffte ſie zu überwinden. 
Herr von St. Flour hatte einen Sohn, der nach ſeinem Al⸗ 
ter und Aeußern ganz dazu geeignet war, mit der reitzenden 
Adele das ſchönſte Ehepaar in dem Departement der Gold— 
küſte zu machen. Der junge Herr hatte eine Figur zum Mah— 
len, ſaß zu Pferde, wie angegoſſen, ſchwebte oder tanzte mehr, 
als er ging, und galt unter den Artistes tailleurs des Bezir⸗ 
kes von Begune für das vollkommenſte Muſter eines jungen 
Mannes nach der Mode, die Muſterbilder in dem Parifer Das 
men⸗Journal nicht ausgenommen. Einige bejahrte Prüden rühm⸗ 
ten ſeinen Witz, und von ſeinen Sitten ſagte man, daß ſie 
nicht ſchlimmer ſeyen, als es von einem liebenswürdigen Wild— 
fang ſeiner Art billiger Weiſe zu verlangen wäre. Der junge 
Baron war nach einer längeren Abweſenheit ſo eben von 
Paris zurück gekommen; der Zeitpunct konnte daher, nach der 
Meinung der Madame Durand, nicht günſtiger ſeyn, das ſpröde 
Herz ihrer Tochter durch die Erſcheinung dieſes ſieggewohnten 
Liebesritters zu überraſchen. 
Madame Durand hatte mit der Mutter des Glücklichen, 
den ſie ſich zu ihrem Schwiegerſohne erſehen, alles auf's beſte 
gekartet. Frau von St. Flour war ihrem verdeckten Antrage 
mehr als auf halbem Wege entgegen gekommen; denn die dar 
ronin, eine Dame von großem Scharfſinne, hatte die wich— 
tigen Vortheile auf den erſten Blick erkannt, welche von ei— 


14 

ner Verbindung ihres Sohnes mit der Erbin des reichen Dur 
rand, für die verfallenen Finanzen des Hauſes St. Flour zu 
erwarten waren. Ihr Gemahl ſollte für's Erſte noch aus dem 
Spiele gelaſſen werden, um Durand's zu beſorgenden Wi⸗ 
derſtand nicht gleich Anfangs aufzuregen. Dagegen unterließ 
die Baronin nicht, ihrem Sohne Victor den von bey— 
den Müttern entworfenen Heirathsplan, als eine Sache von 
größtem Belang für das Intereſſe der Familie, an's Herz zu 
legen. Dieſer fand ſeiner Seits recht viel Geſchmack an der 
kleinen niedlichen Bäuerin, wie ſeine Mutter Adelen unter 
vier Augen genannt hatte. Er verſicherte, in Paris wenige Opern- 
mädchen gekannt zu haben, die ſich einer eleganteren Tours 
‚ nüre rühmen könnten, als feine reitzende Nachbarin. Des 
Eindruckes zum voraus gewiß, den ſeine Vorzüge auf Ade— 
lens unerfahrenes Herz machen müßten, erklärte er ſich bereit, 
die Wünſche der beyden guten Damen auf's wirkſamſte zu une 
terſtützen. Der Tag wurde feſtgeſetzt, an welchem er, von ſei⸗ 
ner Mutter begleitet, der ſchönen Adele den erſten Beſuch an 
ihrer Toillete machen ſollte. Die verbündeten Mächte hofften 
durch dieſen kühnen Ueberfall den verliebten Krieg gleich Anfangs 
in die Mitte des feindlichen Landes zu verſetzen, und durch die 
entſchiedene Ueberlegenheit eines allgemeinen Angriffs dem 
Feinde die Mittel und den Willen zu ſeiner Vertheidigung zu— 
gleich zu benehmen. 

Durand, der ſich eben bey ſeiner Tochter befand, war 
ſehr erſtaunt, den größten Gecken auf zwanzig Meilen in der 
Runde, an der Seite feiner ſtolzen Mutter, in der Morgen- 
ſtunde in Adelen's Zimmer treten zu ſehen. Er warf einen 
finſtern Blick auf ſeine Hausfrau, deren unruhige Geſchäf— 


15 


tigkeit, ihn zu entfernen, ihm nun auf einmahl erklärt war. 
Das Betragen der Angekommenen, und die Art, wie es von 
Frau Suſon erwiedert wurde, ließen ihn über die Abſicht dieſes 
Beſuches keinen Augenblick zweifelhaft. Da er indeß in dem 
Benehmen ſeiner Tochter nichts entdeckte, was jener Abſicht 
günſtig ſchien, erheiterte ſich ſeine düſtere Stirne unvermerkt, 
und er ward allmählich ſo treuherzig, offen und munter, daß 
Frau Suſanne und ihre Gäſte ihn ſchon halb und halb für ih— 
ren Plan gewonnen glaubten. Mit feiner gewohnten altfrän⸗ 
kiſchen Höflichkeit erwies er der Baronin alle Auszeichnung 
und Ehre, worauf ihr Stand Anſpruch zu baden ſchien, und 
ſprach dabey ſo viel von ſeinem ehemahligen Gewerbe zu Pa⸗ 
ris, von ſeinen bürgerlichen Obliegenheiten, Gewöhnungen 
und Anſichten, als ob es darauf ankäme, den Abſtand recht 
auffallend zu machen, der ihn und die Seinigen von ihren 
vornehmen Nachbarn trennte. Einige Bemerkungen, welche 
die Baronin von St. Flour über die ausgleichende Macht des 
Geldes vorbrachte, ließ er unbeachtet fallen; feine Frau aber, 
die dem Geſpräche gern eine andere Wendung gegeben hätte, 
neckte er gutmüthig über ihre weltkluge Vorſicht und Politeſſe, 
die doch nicht immer gut machen könnten, was ſeine plumpe 
Aufrichtigkeit verderbe. — Dieß Alles geſchah mit fo viel gu— 
tem Humor, und mit fo wenig Anſchein von Abſicht, daß Keis 
nes eigentlich wußte, woran es mit ihm ſey; und da er am 
Ende die Baronin und ihren Sohn bis an das Thor des Hau— 
ſes begleitete, fuhren Beyde hinweg, zwar nicht ſo triumphi— 
rend als ſie erwartet hatten, aber doch nicht ohne Hoffnung, 

dem Zwecke ihres Veſuches ein andermahl näher zu rücken. 
Als Madame Durand mit ihrem Manne und ihrer Toch— 


16 


ter allein war, glaubte ſie nicht länger anſtehen zu dürfen, 
ihren bisher geheim gehaltenen Plan mit gehöriger Vorſicht 
aufzudecken. Durand hörte ſie ruhig an, und fragte dann Ade⸗ 
len: wie ihr der junge Herr gefiele ?— Sie zögerte einen Aus 
genblick. »Wenn meine gute Mutter nicht ungehalten werden 
will,« fagte fie dann mit beſcheidener Faſſung — »ganz und 
gar nicht !« — »Das hab' ich vermuthet,« erwiederte Durand, 
»und ſomit weißt du, Frau, was aus deinem Projecte werden 
wird.« — »Eine Heirath!« rief Frau Suſanne lebhaft — und 
zwar eine der beſten, die es geben kann, oder ich müßte noch 
7 weniger von der Sache verſtehen, als das kleine Ding hier. — Es 
kommt dabey auf mehr an, als auf das, was ſo einem kindiſchen 
Mädchen gefällt. Ich habe Gründe — Gründe — »Politiſche,« 
fiel Durand ein; »ich weiß, Mütterchen, ich weiß! Aber nimm 
dich in Acht, daß deine Klugheit dich nicht weiter vom Ziele 
abführt, als es die redliche Einfalt thun könnte. Dieſe St. 
Flour's zum Beyſpiel dünken ſich mächtig fein und klug; aber 
ich ſetze meine alte Böttcherkappe, mit vollwichtigen Louisdors 
gefüllt, an des windigen Junkers neuen Federhut, ſie bringen 
es auch jetzt nicht weiter, als es der politiſche Freyherr, mit 
aller ſeiner Staatskunſt und Niederträchtigkeit, nach dem Tode 
ſeines unglücklichen Vetters gebracht hat. Er denkt jetzt von 
dem ehrlichen Etienne zu erhalten, was er von den Blutmen— 
ſchen und Schelmen, ſeinen Spießgeſellen, nicht erlangen 
konnte. Doch wiſſe, Frau, und merk' es wohl,“ — ſetzte er 
hinzu, indem er aufſtand, um hinweg zu gehen: — »daß ich 
dieſes Schloß mit allem Zubehör eher dem erſten Strafen 
bettler, der mich um ein Almoſen anſpricht, erb- und ei⸗ 
genthümlich überlaſſe, als ich es zugebe und mit anſehe, daß 


N 


die treuloſen Verwandten des rechtſchaffenen Sorville ihren 
Sitz darin auffchlagen.«- 

Frau Suſon war äußerſt betroffen, als fie ihren Eheherrn 
ſo ſprechen hörte, und mit ernſter, aber ruhiger Miene aus 
dem Zimmer gehen ſah. Sie wußte, daß, wenn er in dieſem 
Tone ſprach, eine Aenderung ſeines Entſchluſſes kaum mehr zu 
erwarten war. Die Vorſtellung, daß ſie ihren Plan würde auf— 
geben müſſen, nachdem ſie ihn mit der Baronin ſchon völ— 
lig in's Neine gebracht, griff ſie ſo heftig an, daß ſie vor den 
Augen ihrer Tochter in einen Strom von Thränen ausbrach. 
Adele that, was fie konnte, um ihre Mutter zu beruhigen‘, 
welches ihr nach und nach auch gelang. Die lebhafte Frau fing 
an, neue Hoffnungen zu ſchöpfen, wobey ſie vorzüglich auf 
die kindliche Liebe »ihrer guten, guten Tochter“ rechnete, 
wie ſie Adelen unter vielen Liebkoſungen verſicherte. In der 
That war dieſe durch den außerordentlichen Antheil, den ih— 
re Mutter an der vorgeſchlagenen Verbindung zu nehmen ſchien, 
in ihrem Widerwillen gegen dieſen Heirathsplan etwas wan— 
kend geworden. Die Gründe, welche ihre Mutter dafür ans 
führte, kamen ihr allerdings wichtig vor. Die Abneigung des 
Vaters gegen den alten Baron wußte Frau Suſanne als die 
Folge früherer Mißverſtändniſſe vorzuſtellen, von deren Ungrun— 
de ſich Durand ſelbſt überzeugen würde, wenn er den Baron 
näher kennen lernte. Uebrigens betheuerte die Mutter, ſie ſelbſt 
würde nie zugeben, daß man ihr liebes Kind in einer ſo wich— 
tigen Sache übereilte, oder es zwänge, einem Manne, den es 
nicht lieben könnte, die Hand zu reichen; Alles, was ſie verlan— 
ge, beſtehe darin, daß der Umgang mit der Familie St. Flour 
nicht abgebrochen werde, und daß Adele ſich die Mühe nehme, 

V 


16 


den Character des jungen Mannes zu prüfen, den ſie ihr in 
mütterlicher Wohlmeinung zugedacht habe. 

Gegen ſo beſcheidene Forderungen war nichts einzuwenden, 
und da nun Adele ſelbſt ihre Bitten mit den Wünſchen ihrer 
Mutter vereinigte, ließ es auch Durand geſchehen, daß der 
Umgang mit der Familie ſeines Nachbars, auf einem äußer— 
lich freundſchaftlichen Fuße fortgeſetzt wurde. Schon bey dem 
zweyten Beſuche, den Baron Victor und feine gnädige Mama 
in Durand's Schloſſe ablegten, zeigte es ſich, daß ſie, aus 
eigenem Antrieb, oder gewarnt von Frau Suſanne, ihre Ab— 
ſichten auf Eroberung entweder aufzugeben, oder darin nach 
einem ganz veränderten Operationsplane vorzugehen Willens 
waren. Ihre Ankunft ſchien zufällig; ſie hatten ein Geſchäft 
in dem nahen Dorfe gehabt, und waren nur im Vorbeygehen 
heraufgekommen, um den Damen einen guten Morgen zu ſa— 
gen. Das Geſpräch blieb in den Gränzen der gewöhnlichſten 
Unterhaltung; kein Wort, keine Miene, die auf einen vor⸗ 
bedachten Zweck bezogen werden konnten! Nach einem kurzen 
Verweilen empfahlen fie ſich, beynahe eben fo unvermuthet, 
als ſie gekommen waren. — Das nächſte Mahl erſchien Frau 
von St. Flour allein; es war eine kleine Wirthſchaftsangele⸗ 
genheit, die ſie mit ihrer Frau Nachbarin zu beſprechen hatte. 
Wieder ein anderes Mahl kam Baron Victor, um bey Herrn 
Durand ein Vorwort für einen jungen Winzer einzulegen, der 
ein Dienſtmädchen aus Durand's Hauſe zu heirathen wünſchte; 
und ſo fehlte es nie an Anläſſen, wodurch unvermerkt ein 
nachbarlich freundliches Verhältniß herbeygeführt wurde, das 
keinen anderen Zweck zu haben ſchien, als durch wechſelſei— 
tige Rückſichten und Dienſtleiſtungen das Nebeneinanderſeyn 


9 


zweyer Familien angenehmer und für beyde Theile nützlicher zu 
machen. 

Zugleich hatte es völlig des Anſehen, als ob der achtungs— 
werthe Character des alten Durand und der unſchuldige Lieb— 
reitz feiner Tochter, eine eben fo ſchnelle als heilſame Verän— 
derung in der ganzen Denkart und Handlungsweiſe des jungen 
St. Flour hervorgebracht hätte. Die geckenhafte Zuverſicht des 
jungen Menſchen war gleichſam verſchwunden, als er das zwe y— 
te oder dritte Mahl vor Adelens Augen erſchien. Er bewies 
ihr große Aufmerkſamkeit, doch war mehr Achtung und zarte 
Theilnahme, als ſelbſtgefällige Zudringlichkeit in ſeinem Beneh⸗ 
men ſichtbar. Er lobte ſie mit Feinheit; wenn er ſcherzte, ver⸗ 
mied fein Witz die Bitterkeit des Spottes. In feinen Geſprä⸗ 
chen mit Herrn und Madame Durand war er überlegt und 
beſcheiden. Sogar ſein ſchwebender Gang erhielt mehr männ— 
liche Feſtigkeit; nur der modiſche, immer ſehr gewählte An: 
zug, und der liſpelnde Ton der Sprache verriethen noch den 
Pariſer-Stutzer. — Madame Durand ermangelte nicht, ihre 
Tochter und auch ihren Mann auf dieſe Veränderung aufmerk— 
ſam zu machen, welche nach ihrer Behauptung ein eben fo 
ſchöner Beweis von Victor's trefflichen Naturanlagen ſey, als 
von der Stärke ſeiner Liebe zu Adelen. Da weder ihre Toch— 
ter, noch Vater Durand dieſer Behauptung geradezu wider— 
ſprachen, ſo glaubte die gute Frau der Erfüllung ihres Lieb— 
lingswunſches ſchon ziemlich nahe zu ſeyn, und ſie nahm ſich 
vor, nächſtens einen entſcheidenden Schritt zu thun, um ihr 
lange genährtes Heirathsproject endlich in Ausführung zu 
bringen. 

Es iſt zweifelhaft, ob und wie bald Frau Suſon ihre Ab- 

V 2 


20 


ſicht erreicht hätte, wenn der einfache Gang dieſer häuslichen 
Begebenheiten nicht plötzlich durch Ereigniſſe von ungleich grö— 
ßerem Belange wäre unterbrochen worden. Die Nachricht, daß 
Napoleon die Inſel Elba verlaſſen habe, und auf franzöſiſchem 
Boden gelandet ſey, erreichte die Gegend von Braune. Die 
allgemeine Bewegung, welche dieſe außerordentliche Begeben— 
heit in ganz Frankreich hervorbrachte, wurde in den öſtli— 
chen Departements mit am ſtärkſten empfunden. Die Rei: 
me der Zwietracht, welche ſeit einem Jahre unter der Nation 
ausgeſtreut worden, hatten ſich in dieſen Gegenden vorzüglich 
angehäuft; die Nähe bedeutender Militärcorps nährte den 
Geiſt der Unruhe, der unter dem Volke verbreitet war, und 
in der letzten Zeit hatte der wiederhohlte Wechſel der Depar⸗ 
tements- Verwaltung die Maffe der Miß vergnügten nach einer 
Veränderung im Ganzen begierig gemacht. Die Anhänger des 
alten und des neuen Syſtems ſahen ſich nach Häuptern um; 
der Ehrgeitz der Führer drängte ſich, hier im Kleinen, wie 
dort im Großen, an die Spitze der ungeduldigen Parteyen. 
Auf die Nachricht von der Landung und dem herannahenden 
Zuge des ehemahligen Kaiſers ſtockten alle Geſchäfte; die Stra⸗ 
fen waren mit unruhigen Volkshaufen, und kleinen, ſich in 
allen Richtungen durchkreuzenden Truppenabtheilungen be— 
deckt; man erwartete in jedem Augenblick den Ausbruch des 
Bürgerkrieges, dem ein neuer allgemeiner Krieg mit dem Aus⸗ 
lande unverzüglich folgen zu müſſen ſchien. 

In ſolchen Umſtänden glaubte der alte Baron von St. 
Flour nicht müſſig bleiben zu dürfen. Ein falſches Gerücht, 
welchem feine Eitelkeit Glauben zu verfchaffen ſuchte, ver⸗ 
breitete die Meinung unter dem Volke, daß er zum Präfec— 


21 


ten des Departements der Goldküſte ernannt ſey. Der Ba— 
ron erſchien, als ob er die öffentliche Huldigung zum Vor— 
aus empfangen wollte, mit ungewöhnlichem Prunke unter 
den bewegten Volksmaſſen. Die vermeinte Ernennung ei: 
nes ſo wenig beliebten Mannes zur erſten Würde des De— 
partements, machte unter der Mehrheit der Einwohner ei— 
nen ſehr unaugenehmen Eindruck. Die Oſtentation, womit 
er ſich überall zeigte, ſchien das unwillkommene Gerücht zu 
beſtätigen, und zugleich der allgemeinen Stimmung Hohn zu 
ſprechen. Der beſſere Theil des Volkes entfernte ſich, wo die 
Staats» Saroffe des Barons ſichtbar ward; derjenige Theil, 
deſſen Aufmerkſamkeit mit ihm beſchäftigt war, ſchien von 
ſehr zweydeutigen Empfindungen beſeelt, welche aber von der 
Eigenliebe des Barons ganz zu ſeinem Vortheile ausgelegt 
wurden. 

Während dieſes vorging, wurde das Haus des Herrn Du— 
rand durch einen Vorfall anderer Art in Unruhe und Be— 
trübniß verſetzt. Eine Anfangs unbedeutend ſcheinende Krank- 
heit der Frau Suſanne nahm plötzlich eine ſehr bedenkliche Wen⸗ 
dung, und ſeit zwey Tagen erklärten die Aerzte, daß ihr Le— 
ben in Gefahr ſey. Die ungemeine Liebe, welche Durand für 
ſeine gute Suſanne fühlte, machte ihn nicht nur ihre kleinen 
häuslichen! Zwiſtigkeiten, ſondern auch den mächtigen Streit 
vergeſſen, von dem außer ſeinem Hauſe Land und Volk be— 
wegt wurden. Seit drey Tagen hatten er und ſeine Tochter 
das Krankenbett ſeiner Frau nicht mehr verlaſſen. Die verfloſ— 
ſene Nacht war eine der unruhigſten geweſen; jetzt ſchien die 
Heftigkeit des Fiebers etwas nachzulaſſen. Herr Durand und 
Adele ſaßen ſchweigend an der Seite der Kranken, als plötz— 


22 


lich ein dumpfes Geräuſch, und bald darauf das wilde Ge— 
ſchrey einer bewegten Volksmenge ſie und die Kranke aus 
ihrer Stille aufſchreckte. Der Lärm, der Anfangs von der 
Straße kam, näherte ſich, vom Hof und der Treppe her, der 
Thüre des Zimmers. — Frau von St. Flour ſtürzte leichenblaß 
herein, auf das Bett der Kranken zu, und warf ſich in ihre 
Arme, indem fie rief: »Retten Sie uns, um Gotteswillen! 
retten Sie uns!« — Ihr Sohn folgte ihr bleich und zitternd. — 
»Ach, Gott, mein Mann!« rief die Baronin, noch einmahl 
ſich aufraffend; »o theurer Herr Durand, retten Sie meinen 
Mann! die Wüthenden ermorden ihn !«— Ein Blick aus den Fen⸗ 
ſtern hatte Durand ſchon über die Urſache dieſes furchtbaren 
Auftrittes belehrt. Die Kutſche des Barons ſtand auf dem 
Schloßhofe, von einem Haufen lärmender Landleute umringt, 
von denen einige den Schlag der Kutſche öffnen wollten, an— 
dere den vor Entſetzen bebenden St. Flour drohend abhielten, 
herauszuſteigen. Durand eilte aus der Thür, nachdem er Ade— 
len mit zwey Worten ihre Mutter zu verdoppelter Sorgfalt 
empfohlen hatte. 6 
Der Eindruck, welchen dieſer außerordentliche Auftritt auf 
die Kranke machte, war überaus erſchütternd. Sie ſchien da— 
durch im erſten Augenblicke ganz zur Beſinnung gebracht, und 
mit wunderbarer Geiſtesgegenwart bloß mit der Gefahr be— 
ſchäftigt, worin Frau von St. Flour und ihre Angehörigen 
ſchwebten. Die Baronin und deren Sohn hatten ſich inzwi⸗ 
ſchen etwas von ihrem Schrecken erhohlt; fie fingen an, ſich zu 
ſchämen, daß fie über ihr eigenes Mißgeſchick den Zuſtand ih— 
rer todeskranken Wirthin fo ganz vergeffen hatten. Deſto ei— 
friger zeigten ſich nun Beyde um die gute Frau Durand ber 


23 


müht, bey welcher auf die kurze unnatürliche Kraftanſtren⸗ 
gung eben ſo ſchnell die äußerſte Abſpannung gefolgt war. 
Schon verdunkelten ſich ihre Vorſtellungen wieder, und ſie ver— 
ſank in völlige Bewußtloſigkeit, bevor ihr Mann, deſſen Ab— 
gang ſie noch bemerkt, und um den ſie einige Mahle gefragt 
hatte, wieder zurückkam. 

Durand war kaum auf der Terraſſe des Schloßhofes erſchie— 
nen, als der Lärm und die Wildheit des Volkshaufens ſich lege 
ten. Er rief den Landleuten zu: ob fie fein Haus nicht Fennz 
ten? und ob das Unglück ſelbſt bey ihm keine Freyſtatt mehr 
finden ſollte? — Die Bauern näherten ſich Herrn Durand, 
um ihm zu erklären, daß der ganze Auflauf von einigen muth— 
willigen jungen Leuten verurſacht worden, welche hinter dem 
Wagen hergelaufen; denen Andere aus Neugierde, ſie ſelbſt 
aber nur in der Abficht gefolgt wären, um einen größeren Uns 
fug zu verhindern. Die Ungeſtümſten hätten ſich bereits ent— 
fernt, da ſie gehört, daß dieſes das Schloß des Herrn Du— 
rand ſey, und Alles wäre ſchon früher zur Ordnung zurückge— 
kehrt, wenn die Dame und der junge Herr durch ihr Ge— 
ſchrey und ihre übereilte Flucht die müſſige Menge nicht ſelbſt 
dem Wagen nachgezogen hätten. — Durand war indeſſen an 
den Schlag der Kutſche gekommen, und ſtreckte dem Baron 
feine Hand entgegen, welche dieſer ſcheu und zitternd ergriff. — 
»Ich nehme dieſen Herrn in meinen Schutz,« rief er den 
Bauern zu, „und bitte euch nun, gute Leute, mein Haus in 
aller Stille zu verlaſſen; denn meine Ehefrau, die ihr kennt, 
iſt ſchwer krank, und bedarf der Ruhe, ſo wie dieſer Herr und 
feine Familie, die ihr über Gebühr erſchreckt habt. «“ Nach 
dieſen Worten führte er den Baron über die Terraſſe in ſeine 


24 ; 


Wohnung, während die Landleute geräuſchlos den Hof verließen, 
wie Vater Durand es von ihnen verlangt hatte. 

Die Kranke lag noch in einem matten, dem Schlummer 
ähnlichen Zuſtande, ohne ſichtbare Theilnahme an dem, was 
um ſie vorging. Auf einmahl richtete ſie ſich auf, und fragte, 
ob ihr Mann zurück, und der Baron gerettet ſey. In demſel⸗ 
ben Augenblicke traten Beyde in das Zimmer. Frau Suſanne 
hatte den Baron nicht ſo nahe vermuthet, noch weniger ge— 
hofft, ihn an ihres Mannes Seite zu ſehen. Ungeachtet ihrer 
körperlichen Schwäche konnte ſie einen Ausruf der Freude nicht 
unterdrücken. — Nach einer Weile winkte ſie die zwey Männer 
an ihr Bett, und legte ſchweigend ihre Hände in einander. 
Frau von St. Flour, von dieſem Anblicke ergriffen, zog Ade— 
len in einer Aufwallung wahrhaft mütterlicher Zärtlichkeit an 
ihre Bruſt; Victor, nicht weniger gerührt, neigte ſich gegen 
dieſe Gruppe, indem er einen ehrerbiethigen Kuſ auf Adelens 
Schulter drückte. Selbſt der Baron, der mit fichtbarer Verle⸗ 
genheit eingetreten war, ſchien von der Macht dieſes ſchönen 
Augenblickes auf eine ihm ungewohnte Weiſe bewegt und er- 
hoben. Vielleicht find fo verſchiedenartige Menſchen in dent: 
ſelben Momente nie von fo übereinſtimmenden und edlen Ge— 
fühlen durchdrungen geweſen. 

Durand war der erſte, der ſeine ruhige Faſſung wieder 
erhielt, und die Uebrigen, ſeine Frau zuerſt, erinnerte, daß 
ſolche Gemüthsbewegungen ihrem Geſundheitszuſtande nicht 
zuträglich wären. Frau von St. Flour ſtimmte dieſer Bemer⸗ 
kung lebhaft bey, indem ſie ihren Gemahl und ihren Sohn 
antrieb, ſich für jetzt zu entfernen, und die theure Kranke der 
Ruhe zu überlaſſen. Sie ſelbſt erklärte, die Nacht bey Ma⸗ 


25 


dame Durand zubringen zu wollen, was nach einigen Eins 
wendungen auch zugeſtanden werden mußte. Der Baron und 
Victor verließen das Haus, ungewöhnlich gerührt, und voll 
aufrichtiger Bewunderung für den edlen Character ihres 
großmüthigen Nachbars. Auch Durand fühlte ſich der gan— 
zen Familie weniger abgeneigt, als er es ſonſt geweſen; und 
ſo ſchien der Zuſammenfluß widriger Umſtände unvermuthet 
eine Annäherung zwiſchen Perſonen bewirkt zu haben, wel— 
che noch vor kurzem einander fremd, ja feindlich gegenüber 
geſtanden. 5 

Die gute Frau Suſon ſah ſich auf ſolche Weiſe der Ers 
füllung ihrer Wünſche in einem Zeitpuncte nahe gebracht, wo 
die Hoffnung verſchwand, daß ſie dieſes Triumphes lange 
würde genießen können. Ihre Krankheit verſchlimmerte ſich, 
aller angewandten Mittel ungeachtet, von Tag zu Tage; die 
Aerzte erklärten endlich, daß ihr Leben nicht mehr zu retten 
ſey. Adele war außer ſich; Durand ſelbſt, deſſen Gleichmuth 
ſonſt auf jeder Probe beſtand, hatte alle Faſſung verloren. 
In dieſen Umſtänden war die Gegenwart der Frau von St. 
Flour, welche die Kranke nicht mehr verließ, eine große Stütze, 
und ein wahrer Troſt für die Familie. Frau Suſanne betrach⸗ 
tete ſie als ihre zärtlichſte Freundin; bis zu den letzten Au— 
genblicken ihres Lebens waren die Geſpräche mit der Baronin 
über die nahe Verbindung ihrer Kinder die angenehmſte Er: 
heiterung der Sterbenden. Als ſie ſich plötzlich ſehr ſchwach em⸗ 
pfand, empfahl fie derſelben noch einmahl ihre Tochter und 
ihren alten Freund Etienne, der, wie ſie ſchmerzlich lächelnd 
ſagte, zwar manchmahl etwas wunderlich, aber dennoch die be⸗ 
ſte Seele auf Erden wäre. Nach dieſen Worten ſank ſie in 


26 


den Arm ihrer neuen Freundin zurück, und verſchied, ohne 
die lächelnde Miene zu verändern, mit der ſie ihrem Gatten 
und dem Glück ihrer Ehe die ſchönſte und zugleich kürzeſte 
Lobrede gehalten hatte, welche ein Ehemann, in einer fo ern— 
ſten Stunde von feiner Frau zu hören, billiger Weiſe erwar— 
ten kann. 8 

Der harte Schlag, welchen Herr Durand und feine Toch- 
ter durch dieſen Todesfall erlitten, war um ſo betäubender, je 
unerwarteter er fie traf, und je verworrener die äußeren Um⸗ 
ſtände waren, unter denen er erfolgte. Adele beſonders war 
in einem Gemüthszuſtande, der ſie unfähig machte, ſich in 
ſich ſelbſt und in das, was um ſie vorging, zu finden. Alles, 
was in der letzten Zeit geſchehen, kam ihr wie ein ſeltſam 
ängſtigender Traum vor: — die außerordentlichen Begebenhei—⸗ 
ten, deren Kunde ſie vernommen, die Volksbewegungen, von 
denen ſie Zeuge war, die plötzliche Erkrankung und Gefahr 
ihrer Mutter, das Erſcheinen der Familie St. Flour an de— 
ren Sterbebette, endlich ihrer Mutter Tod und die ſonderba— 
ren Verhältniſſe, in welche fie und ihr Vater durch alles die- 
ſes mit jener Familie gekommen waren! Die tiefſte Traurig— 
keit bemächtigte ſich ihrer, als fie ſich nach dieſen Tagen der 
Unruhe und des Schreckens mit ihrem guten alten Vater al- 
lein ſah. Die Baronin hatte nach dem Leichenbegängniß, 
dem auch ihr Gemahl und ihr Sohn beywohnten, das Haus 
verlaſſen, aber nur, wie fie ſagte, um bald wieder zu kom— 
men. Adele hatte kein Herz zu dieſer vornehmen neuen Mut- 
ter, die ſich ihr an der Stelle der Verſtorbenen aufdrang, und 
der ſie ſich doch durch ſo Manches, was in der letzten Zeit 
geſchehen, ſehr verpflichtet glaubte. An Victor, und an das, 


27 
was er ihr nach dem Willen ihrer Mutter werden ſollte, dachte 
ſie jetzt noch nicht. Er hatte ſich ſeither, ſo wie ſein Vater, in 
einer beſcheidenen Entfernung gehalten, wahrſcheinlich, weil 
Beyde keinen Verdacht gegen die Uneigennützigkeit ihrer Ab— 
ſichten erregen wollten, und weil ſie das Intereſſe ihres Hau— 
ſes in den geſchickten Händen der Frau von St. Flour als 
lein ſchon für hinlänglich geſichert hielten. 

Als Durand anfing, ſich von feinem Schmerze zu erhohlen, 
entging es feinen: natürlichen Scharfblide nicht, mit welchem 
feinen und zugleich fiarfen Gewebe die Schlauheit der Ba: 
ronin feine gute Suſon, feine Tochter und ihn ſelbſt um— 
ſtrickt hatte. Er ſah, daß man Adel ens Verbindung mit dem 
jungen St. Flour für eine ausgemachte Sache hielt, und was 
das Schlimmſte war, er konnte ſich nicht verbergen, daß er 
durch fein Stillſchweigen zu den letzten Reden und Handlun— 
gen ſeiner Frau gewiſſer Maßen ſelbſt ſeine Einwilligung zu 
dieſer Verbindung gegeben hatte. Zugleich bemerkte er die in⸗ 
nere Unruhe und Befangenheit ſeiner Tochter; er kannte ihre 
kindliche Zärtlichkeit, und hielt ſie des Entſchluſſes wohl für 
fähig, ihre eigene Ueberzeugung und Zufriedenheit den letzten 
Wünſchen einer geliebten Mutter aufzuopfern. Jetzt bedauerte 
er ernſtlich, daß ihr Herz noch frey war, und daß er nicht 
ſchon früher irgend einen Heirathsplan feiner Gattin begün— 
ſtigt habe; denn der bloße Gedanke, daß ſein einziges Kind 
eine Beute der liſtigen St. Flour's werden könnte, war ihm 
ein Greuel und Abſcheu. Seine tiefgegründete Abneigung ge— 
gen dieſe Fawilie war ſeit dem Tode feiner Frau in ihrer 
ganzen Stärke wieder erwacht; und nur mit Mühe erhielt er 
es von ſich ſelbſt, nicht unverſehends und auf einmahl den 


20 


nachbarlichen Umgang abzubrechen, welcher von Seite der St. 
Flours mit allem Anſchein uneigennütziger Anhänglichkeit for t⸗ 
geſetzt wurde. Die eingetretene Trauerzeit ſchien von den 
Mitgliedern dieſer Familie als ein vollgültiger Grund betrach- 
tet zu werden, gegenwärtig jede Erklärung über die beabſich⸗ 
tigte Verbindung zu vermeiden, deren nicht ſehr entfernte Voll⸗ 
ziehung ſie übrigens als unbezweifelt vorausſetzten. 


a Die öffentlichen Angelegenheiten Frankreichs hatten in⸗ 
zwiſchen eine entſcheidende Wendung genommen. Napoleon 
war in Paris eingezogen, und von allen Seiten erhielt man 
Nachricht, daß ſeine Herrſchaft auf's neue befeſtigt ſey. Der 
laute Kampf der Parteyen ging in eine dumpfe Stille über; 
Alles war in gefpannter Erwartung der Dinge, die da kommen 
ſollten. Die Erneuerung des allgemeinen Krieges ſchien un⸗ 
vermeidlich. Noch einmahl ward die Bewaffnung der ganzen 
Nation in Anſpruch genommen. Baron St. Flour, den Grund— 
ſätzen ſeiner Politik getreu, ſäumte nicht, der Macht, für wel⸗ 
che ſich das Glück erklärt hatte, ſeine Huldigung zu leiſten; 
vor kurzem noch ein eifriger Royaliſt, war er in dem Departe- 
ment der Goldküſte einer der erſten, welche ſich und die Ihrigen 
zur Vertheidigung des Landes unter die kaiſerlichen Adler reih⸗ 
ten. Sein Sohn Victor erſchien in der geſchmackvollſten Capi⸗ 
tänsuniform, die man unter der Nationalgarde des Bezirkes 
von Veaune bisher geſehen hatte. Der militäriſche Befehlsha— 
ber des Departements betrieb die Volksbewaffnung mit großer 
Thätigkeit; am Ende glaubte auch Durand dem allgemeinen 


29 


Aufrufe ſich nicht entziehen zu dürfen. Er war, ſeines Alters 
ungeachtet, ein rüſtiger Mann, und ſeine alte Uniform von der 
Pariſer Nationalgarde gab ihm ſogar noch ein recht kriegeri— 
ſches Anſehen. So ſtellte er ſich an die Spitze ſeiner wackeren 
Nachbarn, nicht unzufrieden, in den Gefahren der Zeit ſeine 
häuslichen Sorgen vergeſſen zu können. 

Die Feindſeligkeiten hatten angefangen. Die franzöſiſche 
Haupt⸗ Armee war über die Sambre gegangen. Nach ein paar 
günſtigen Armeeberichten erfolgte eine kurze Stille; und nun 
verbreitete ſich, zuerſt dumpf und unbeſtimmt, dann mit ſtei⸗ 
gender Gewißheit und Ausführlichkeit, die Schreckensnachricht 
von Napoleons Niederlage bey Waterloo, von ſeiner Flucht 
und der gänzlichen Auflöſung der Armee. Beynahe mit gleicher 
Schnelligkeit, wie dieſe Nachrichten, breiteten ſich die zahllo— 
ſen Heereshaufen der Verbündeten über Frankreichs Boden aus, 
ohne irgendwo einen ernſthaften Widerſtand zu finden. Ein 
bedeutendes Corps von ſeltſamer Zuſammenſetzung näherte 
ſich in Eilmärſchen dem Departement der Goldküſte, um die 
Verbindung mit den Militärſtraßen des Südens zu gewinnen. 
Widerſprechende Gerüchte aller Art ſetzten die Einwohner in 
Unruhe und Schrecken; man ſprach von Eroberungsplanen der 
Alliirten, von der Brandſchatzung und Theilung Frankreichs. 
Der Commandant der Militärdivifion hatte einige zerſtreute 
Truppenabtheilungen an ſich gezogen, und ſtellte fie in Ber: 
bindung mit den Nationalgarden auf, um eine ihm wichtig 
ſcheinende Poſition zu behaupten. Der Uebergang über die 
Saone ſollte hartnäckig vertheidigt werden. Einen der vorzüg— 
lichſten Puncte der Vertheidigungslinie machte Durands Schloß, 


30 


welches, auf einer Anhöhe gelegen, die beyden Ufer des Fluſſes 
beherrſchte. a 

Ein Trupp von Coſaken zeigte ſich am jenſeitigen Ufer , 
ihm folgte in einiger Entfernung eine Abtheilung von deut⸗ 
ſchen berittenen Jägern und leichtem Fußvolk. Die Brücken über 
den ziemlich breiten und tiefen Strom waren abgebrochen, am 
diesſeitigen, höher liegenden Ufer einige kleine Batterien zweck⸗ 
mäßig aufgeſtellt, und die Urhöben mit franzöfifchen Truppen 
und Nationalgarden zahlreich beſetzt. Ein Parlamentär des 
deutſchen Anführers verlangte die Entwaffnung des Landvol— 
kes, welches durch einen ſtrengen Armeebefehl außer Kriegs- 
recht geſetzt worden. Der franzöſiſche Commandant antwortete, 
daß die Nationalgarden zu dem Militärſyſtem Frankreichs ge⸗ 
hörten, und daß er Verletzungen der Kriegsgeſetze, ohne Un⸗ 
terſchied der Waffen, auf gleiche Art vergelten würde. Die 
Verbündeten ruhten einen Tag, um ihre Pontons zu erwar⸗ 
ten, und alle ihre Verſtärkungen an ſich zu ziehen. Am näch⸗ 
ſten Morgen geſchah der Angriff mit überlegener Macht und 
tactiſcher Geſchicklichkeit; der Uebergang über den Fluß wurde 
erzwungen, und die Vertheidigungslinie getrennt, mit bedeu— 
tendem Verluſt von beyden Seiten. Das Corps, bey dem ſich 
Durand befand, ward von ſeinem Schloſſe abgeſchnitten, und 
mußte ſich in entgegengeſetzter Richtung zurückziehen. Ein zwey⸗ 
ter, nicht minder lebhafter Angriff zerſtreute den Reſt der franz 
zöſiſchen Milizen, und die Orte, worein ſie ſich zum Theil noch 
fechtend warfen, fielen in die Gewalt der Sieger. Die durch 
den Widerſtand des Landvolkes gereitzten Truppen begingen 
einige Unordnungen; die Anführer ſelbſt glaubten, durch ein 


31 


Veyſpiel der Strenge die Einwohner von der Theilnahme an 
dem Kriege abſchrecken zu müſſen. Man ſah einige Dörfer bren— 
nen; auch Durand's Schloß, vor deſſen Thoren noch bis zuletzt 
gefochten wurde, ſchien in Flammen zu ſtehen. 

Der alte Durand ſah aus der Ferne dieſem furchtbaren 
Schauſpiele zu. Seine Tochter war in dem Schloſſe; ſie hatte 
es, feiner dringenden Ermahnung ungeachtet, nicht verlaſſen 
wollen. Ihr Vater war um fie in unausſprechlicher Beängſti— 
gung. Zum Glücke wurde der Abſchluß eines Waffenſtillſtan⸗ 
des angekündigt, der ihm erlaubte, ſeine peinliche Stellung 
zu verlaſſen, und Adelen zu Hülfe zu eilen. Auf dem Wege 
ſchon hörte er, daß fein Schloß von ruſſiſchem Militar beſetzt 
ſey, und daß man den Anführer, der bey dem Angriffe ges 
fallen, ſchwer verwundet in daſſelbe gebracht habe. In ſeinem 
Hauſe angelangt, wies man ihn in eines der oberen Zimmer, 
wo ſeine Tochter ſich bey dem verwundeten Officier befinde. 
Als er in das Zimmer trat, ſah er Adelen an der Seite des 
Verwundeten ſtehen, mit dem Verbande ſeines rechten Armes 
beſchäftigt. Der junge Mann lag auf einem Ruhebette, blaß 
und erſchöpft von dem erlittenen Blutverluſte; er hatte ſeinen 
Blick, worin ſich Verwunderung und zunehmendes Wohlwol— 
len ausdrückten, auf Adelen gerichtet, welche, ohne auf ihn zu 
achten, bloß in ihr Geſchäft vertieft war. In der edlen Ge— 
ſichtsbildung des verwundeten Officiers war etwas, das den 
alten Durand unwillkührlich anzog; er glaubte dieſe Züge, 
oder ähnliche ſchon einmahl geſehen zu haben, und trat nä⸗ 
her, ſeinen intereſſanten Gaſt zu begrüßen. — Adele, die 
nun ihren Vater erblickte, flog an ſeinen Hals. Von ihr er— 
fuhr er, daß er die Rettung ſeines Schloſſes, und vielleicht 


32 


die ihrige, dem Edelmuthe des fremden Officiers zu danken 
habe, der ſelbſt ſchwer verwundet die ergrimmten Soldaten 
zurückgehalten, für den Widerſtand, welchen ſie vor Durands 
Schloſſe gefunden, an ſeinem Eigenthum und Blute Rache zu 
nehmen. i 

Während Adele noch ſprach, trat ein vornehmer Officier, 
von ſeinen Adjutanten und dem Wundarzte begleitet, in das 
Zimmer. Er näherte ſich dem Verwundeten, den er mit dem 
Nahmen Fedor begrüßte, mit vieler Theilnahme, und be— 
fahl dem Arzte, die Wunde des Lieutenants zu unterſuchen, 
und alle ſeine Kunſt zu deſſen Heilung aufzubiethen. Fedor 
machte eine abwehrende Vewegung, als ſich der Wundarzt 
ſeines verbundenen Armes bemächtigen wollte, indem er einen 
Blick voll Innigkeit auf Adelen warf, welche, dieß bemerkend 
und hoch darüber erröthend, an ihres Vaters Seite ſtand. 
Durand und der fremde General, deren Beachtung dieſes 
ſtumme Spiel nicht entging, ſchienen die Bedeutung desſel⸗ 
ben faſt zu gleicher Zeit zu errathen. Der General wendete 
ſich zu dem Hausherrn, und ſagte ſcherzend: »Mein junger 
Freund ſcheint hier einen Arzt gefunden zu haben, in den er 
mehr Vertrauen ſetzt, als in den Feldſcheer. Indeſſen kann 
ich unſern Chirurg zur Beyhülfe empfehlen; er iſt ein ge— 
ſchickter Mann, und wird den Anordnungen des ſchönen Doc⸗ 
tors nicht im Wege feyn.«— Durand ſtimmte in den aufge⸗ 
weckten Ton des Generals mit feiner gewöhnlichen Treuherzig- 
keit ein; die ganze Geſellſchaft ward in kurzem ſo vertraut 
und frohen Muthes, als ob hier lauter Freunde und alte Bes 
kannte verſammelt wären. Ehe ſich der General mit feinen - 
Begleitern entfernte, empfahl er Herrn Durand, und beſon— 


33 
ders der ſchönen Adele, ſeinen jungen Freund auf's dringend— 
ſte. »Sie würden einen Mann in ihm kennen lernen,“ fagte 
er, »den es mehr koſte, ein Feind der Franzoſen zu ſeyn, 
als es Sie koſten würde, ihn ſich zum Freunde zu machen; 
der es nicht nur werth ſey, in dieſem Lande gaſtfrey und 
milde behandelt zu werden, ſondern der auch ein Recht dazu 
habe; einen Mann, brav wie ſein Degen und treu wie Gold, 
den er, der General, aber halb und halb ſchon als einen Aus- 
reißer betrachte, und welchen er nicht einmahl darum 
ſchelten könne, ſo leid es ihm auch thun würde, einen ſeiner 
beſten Officiere und feiner liebſten Freunde zu verlieren. « 
Adele war in großer Verlegenheit während dieſer räthſel— 
haften Standrede, deren Sinn Fedors feurige Blicke deutlich 
genug zu erklären ſchienen. Dennoch lag etwas ſo ungemein 
Zartes in dem Betragen des jungen Officiers, und beſonders 
hatten feine Worte einen fo edlen Ausdruck von Beſcheiden— 
heit und Sanftmuth, daß fie von der raſchen Liebesbewer— 
bung, wofür fie die Rede des Generals und Fedors bedeutungs⸗ 
volle Blicke halten mußte, unmöglich verletzt werden konnte. 
Herrn Durand ſchien die Verwirrung, worin er ſeine Tochter 
ſah, fo wenig zu mißfallen, daß er es ſogar darauf anlegte, 
dieſelbe noch zu vermehren. Als der General fort war, und 
der Wundarzt Anſtalt machte, Fedors Verband noch einmahl 
genauer zu unterſuchen, ermahnte er ſeine Tochter, mit Hand 
an's Werk zu legen, indem er ſich ſelbſt ſchnell entfernte, da⸗ 
mit die Kunſtverſtändigen, wie er ſagte, mit dem Patienten 
allein und ungeſtört wären. | 
Fedors Wunde war nicht gefährlich, aber doch bedeutend 
genug, um eine ſorgſame, vielleicht ziemlich lange Behand— 
G 


34 


lung zu fordern. Das Corps, zu dem er gehörte, ſollte ſchon 
am nächſten Tage den Marſch fortſetzen, es ward daher ausge- 
macht, daß Sevor in Durands Schloſſe zurückbleiben, und da— 
ſelbſt ſeine Geneſung abwarten ſollte. Durand zeigte ſich ſehr 
erfreut über dieſe Entſcheibung; denn ſeine Theilnahme an 
dem jungen Fremdling war durch Alles, was er von den ans 
dern Officieren zu deſſen Lobe gehört hatte, ungemein erhöht 
worden, und er hoffte nun Gelegenheit zu finden, dem edlen 
Manne einen Theil des Dankes abzutragen, zu dem er ſich 
gegen ihn verpflichtet fühlte. Adele hingegen war ungewöhn— 
lich ſtill, als ſie ſich mit ihrem Vater allein befand, nachdem 
ſie einen Theil des Abends in Geſellſchaft des Chirurgs und 
ihres Kammermädchens bey dem Verwundeten zugebracht hatte. 
Sie zog ſich bald in ihr Schlafgemach zurück, ohne mehrere 
Fragen und Bemerkungen ihres Vaters, deſſen Lebhaftigkeit 
mit ihrem Ernſte ſeltſam abſtach, recht gehört, oder beſonders 
paſſend darauf geantwortet zu haben. 

Am andern Morgen war es ſchon ziemlich ſpät, als Adele 
in Fedors Zimmer trat, um ihre übernommene Krankenpflege 
zu verrichten. Der Verwundete hatte eine unruhige Nacht ge— 
habt, und ſchien heute ſchwächer als geſtern. Bey Adelens 
Eintritt flog eine leichte Röthe über feine blaſſen Wangen. 
Seine großen, dunkeln Augen hafteten einige Secunden unbes 
weglich auf ihr; es war, als ob er ſich von der Gewißheit ih⸗ 
rer Gegenwart überzeugen wollte. Sie näherte ſich ihm ſchwei⸗ 
gend, mit einem etwas verſchämten Gruße, und fragte dann: 
ob der Wundarzt ſchon hier geweſen? Er bejahte es, indem 
er den neuen Verband ſeines Armes zeigte, von dem er ſag⸗ 
te, er drücke ihn ein wenig. Adele lockerte die Schleife, und 


35 


indem ihre Hand, den kranken Arm unterſuchend, fanft herab: 

glitt, faßte ſie die ſeinige, um den Puls zu fühlen. Ihre 
Blicke begegneten einander. Der Anfangs ſchwache Puls erhob 
ſich in ſtarken, ungleichen Schlägen. Adele zog ihre Hand zu— 
rück, und ſchlug die Augen nieder. — »Sie ſcheinen etwas 
Fieber zu haben;« ſagte ſie nach einer Pauſe, »hat der Arzt 
Ihnen nichts zum Trinken verordnet?« — Fedor deutete auf 
eine Flaſche mit Limonade, die auf dem Tiſche ſtand. Adele 
ſchenkte ein, und nachdem ſie, den Trank verſuchend, ein we— 
nig davon genippt, reichte ſie ihm das Glas hin. Er ſetzte es 
begierig an ſeine Lippen, und ſog in langſamen Zügen den 
erquickenden Trank, bis das Glas geleert war. — Ich fühle 
mich unausſprechlich wohl,« ſagte Fedor, als ihm Adele das 
Glas wieder abnahm; »nie ahnete ich, welche Genüſſe ſelbſt 
das Krankſeyn hat!« — »Man iſt genügſamer ‚« erwiederte 
Adele lächelnd, »wenn man krank und ſchwach iſt; darum er— 
freut uns dann auch der kleinſte Genuß.« — Fedor warf einen 
glühenden Blick auf Adelen; aber, plötzlich in ſich zurückkehrend, 
fagte er traurig, beynahe düſter: »Genügſa m ja, Made⸗ 
moiſelle! das ziemt mir zu ſeyn. Ich bin es nicht immer; 
krank, wie geſund. Erinnern Sie mich ja daran, wenn ich es 
vergeſſe !« 

In dem Augenblicke trat Durand herein. Der Abzug der 
fremden Truppen, den er mit angeſehen, machte ihn ſehr hei: 
ter. Seine muntere Laune ließ ihn nicht bemerken, daß ſeine 
Ankunft die jungen Leute in einige Verlegenheit ſetzte. Die 
Unterredung, die er unterbrach, hatte eben angefangen, einen 
Gang zu nehmen, welcher Beyden das Bedürfniß fühlbar 
machte, einander mehr zu ſagen. Der Alte ſcherzte bloß über 

C 2 


36 


die ernſthafte Miene feiner Tochter. Er fragte fie: ob fich etwa 
bedenkliche Symptome bey dem Kranken zeigten? Er hoffe 
das Beſte von ihren Heilmitteln, und denke ſchon daran, wel⸗ 
chen Lohn fie etwa von dem Geneſenen für ihre Bemühung 
verlangen könnte. — Nachdem er ſich übrigens ſehr theilnehmend 
um Fedors Befinden erkundigt hatte, forderte er ſeine Tochter 
auf, wenn ihr Pflegling verſorgt wäre, mit ihm die Runde 
bey ihren armen Nachbarn zu machen, unter denen es auch 
manche Verwundete gäbe. »Der Herr Lieutenant,“ ſetzte er 
hinzu, »ſey, wie er hoffe, nicht ſo ſehr der Feind ihres Lan⸗ 
des, um es ihnen zu verdenken, wenn ſie die Pflichten der 
Menſchlichkeit auch an denen übten, welche Er und die Sei⸗ 
nigen in die Lage verſetzt hätten, Hülfe zu bedürfen.« — Dieſe 
Worte ſchienen auf Fedor einen tiefen, beynahe erſchüttern⸗ 
den Eindruck zu machen. »Eilen Sie,“ rief er nach einem kur⸗ 
zen, finſteren Schweigen, »eilen Sie, mein Herr! ich beſchwöre 
Sie! Sie wiſſen nicht, welche Wohlthat Sie mir erzeigen, 
wenn Sie ſich Ihren guten Landsleuten nicht länger um mei⸗ 
netwillen entziehen! « — 

Nach einigen Tagen aufmerkſamer Behandlung, während 
welcher Fedor zu größerer Ruhe und ſtrenger Abgezogenheit 
angewieſen war, und daher auch von Adelen und ihrem Vater 
ſeltener beſucht wurde, erklärte der Arzt, daß ſein Kranker 
frey von Fieber, und die Heilung der Wunde im beſten Sans 
ge ſey. In Fedors Benehmen gegen Adelen war feit dem kur⸗ 
zen, aber bedeutungsvollen Auftritte, den er am zweyten Mor⸗ 
gen ſeines Hierſeyns mit ihr allein gehabt hatte, ungleich mehr 
Zurückhaltung ſichtbar. Jetzt, da der Wundarzt ſeine baldige 
Herſtellung angekündigt, ſprach er, wiewohl mit einer ge—⸗ 


37 


wiſſen Scheu, von feiner nahen Abreiſe. Adele erſchrack merk— 
bar, und wurde glühendroth, als ſie ſich ihrer Bewegung be— 
wußt ward. Doch Durand, welcher ihr zur Seite ſtand, machte 
ihrer Beſtürzung mit kurzen Worten ein Ende. Der Herr Lieu⸗ 
tenant, ſagte er, ſey ihm von deſſen General zur Obhut über— 
geben, und dürfe ſein Haus nicht eher verlaſſen, bis er und 
feine Tochter ihn frey ſprächen. — Fedor wollte etwas einwen— 
den; aber der Alte ließ ihn nicht zur Rede kommen, und da 
Adele mit liebenswürdiger Zuthätigkeit ſich ſeines kranken 
Armes bemächtigte, um etwas an ſeinem Verbande zu verbeſ— 
fern, ergab er ſich der freundlichen Gewalt, indem er fagte: 
»Wohlan, ich bleibe! Mög’ es Sie nie gereuen, den Heimath— 
loſen feſtgehalten zu haben, als er noch fähig war, ſich von 
Ihnen loszureißen.« c 

Es wurden nun alle Anſtalten zu einem längeren Aufent- 
halte Fedors in Durand's Hauſe getroffen. Die Zurückhaltung, 
welche bisher in ſeinem Benehmen zu bemerken war, verlor 
ſich allgemach; ein von allen Seiten natürliches, freyes, an— 
ſtändiges Verhältniß bildete ſich zwiſchen der kleinen Geſell— 
ſchaft, und wenn hier und da eine zärtlichere Empfindung ſich 
offenbarte, ſo geſchah es auf die angenehmſte Weiſe, von ge— 
fallfüchtiger Berechnung und leidenſchaftlicher Heftigkeit gleich 
weit entfernt. Dem Lieutenant erlaubte die zunehmende Beſ— 
ſerung ſeiner Wunde das Zimmer zu verlaſſen, und ſich in 
Schloß und Garten nach Wunſche zu ergehen. Er that es oft 
allein, zuweilen auch in Adelens Begleitung. Wenn er ſo in den 
Gängen des wohlgepflegten Gartens, oder auf der Terraſſe 
des Schloſſes, welche die Ausſicht über die ganze mahleriſche 
Landſchaft beherrſchte, neben ſeiner lieblichen Wirthin ging, 


38 


oder ſaß, bemächtigte ſich ſeiner wohl manchmahl eine unbe⸗ 
ſtimmte Sehnſucht. Sein Auge ruhte abwechſelnd auf den 
heiteren Weinhügeln, den fruchtbaren Flächen und buſchichten 
Thälern, die ihn umgaben; dann fiel zuweilen ſein Blick 
auf ſeine reitzende Gefährtin, die ihm als die Göttin dieſer 
Fluren erſchienen ſeyn würde, wäre ſie auch nicht die Erbin, 
und im Grunde jetzt ſchon die Gebietherin, derſelben gewe— 
fen. — Hier zu leben in harmloſer nützlicher Thätigkeit, mit 
einem Weibe, wie dieß, beglückt und beglückend, — welch 
ein Loos, wenn der Himmel es ihm beſchieden hätte! — Da 
fragte etwa Adele nach anderen Ländern, die er geſehen; ob 
ſie ſchön wären, wie Frankreich; nach ſeiner Heimath, ſeinen 
Aeltern, den Jahren feiner Kindheit, die ihr ſekbſt fo heiter 
vorübergegangen. Er antwortete mit kurzen, zweydeutigen 
Worten. Doch einmahl, als wieder feiner Heimath und Frank⸗ 
reichs erwähnt wurde, ſprach er bewegt: »Ich habe keine Hei⸗ 
math; meine Aeltern kannte ich nicht. Das Land aber, das 
fie bewohnten, iſt ſchön wie Frankreich, und man ſagte mir, 
fie ſeyen einſt reich und gkücklich geweſen. Ich war Erbe meh⸗ 
rerer Güter, dieſem vielleicht ähnlich, und beſtimmt, ein 
ruhmwürdiges Geſchlecht fortzuſetzen. Jetzt diene ich einem frem⸗ 
den Herrn, und einer unwillkommenen Rache; ich weiß nicht, 
wohin das Schickſal mich führt, und ob meine reiferen Jahre 
glücklicher ſeyn werden, als meine unerfreuliche Jugend.“ — 
Adele hörte ihm mit inniger Theilnahme zu. Er ſchien ihr ſo 
edel, fo liebenswürdig; fie meinte, fie müſſe ihm fagen: 
„warum bleibft du nicht hier, und theileſt mit uns, was wir 
haben ?«— Da kam ihr Vater. — Fedors Stirn entwölkte ſich; 
die Unterhaltung wendete ſich zu allgemeinen Gegenſtänden. 


39 


Die muntere Laune des gutherzigen Alten wußte den Empfin⸗ 
dungen der Liebenden die Farbe des Scherzes zu geben, und 
in dem Genuſſe einer heiteren Gegenwart vergaſſen ſie, daß 
zu ihrer vollen Zufriedenheit noch etwas zu wünſchen übrig ſey. 

Vater Durand hatte indeſſen die Beobachtungen geendigt, 
von deren Reſultat er die Ausführung eines Entſchluſſes wollte 
abhängen laſſen, der nach und nach in ihm zur Reife gekom- 
men war. Vom erſten Augenblicke an hatte ihm der junge 
Fremde ein großes Intereſſe und das herzlichſte Wohlwollen 
eingeflößt. Die Erkundigungen, die er bey Fedors Kriegsge— 
fährten noch am Morgen ihres Abmarſches über deſſen Cha— 
racter eingezogen, konnten nicht befriedigender ſeyn. Selbſt 
das Wenige, was er von Fedors dunkler Herkunft erfuhr, 
vermehrte den Antheil, den er an ſeinem Schickſale nahm. 
Er war, fo viel man wußte, eine älternloſe Waiſe, wahr: 
ſcheinlich ein Schweizer von Geburt, und in Rußland zum Mi⸗ 
litärdienſt erzogen. Immer war es Durands Lieblingsgedanke 
geweſen, daß ein armer, redlicher, wo möglich ſeiner Aeltern 
und ſeines Vaterlandes beraubter, junger Menſch ſein Eidam 
und der Erbe feiner Beſitzungen werden ſollte. Die wechſel⸗ 
ſeitige Neigung, die er zwiſchen ſeiner Tochter und dem jungen 
Fremden entſtehen und wachſen ſah, verſetzte ihn daher in die 
angenehmſte Stimmung. Er glaubte in den Vorfällen, welche 
Fedor'n in ſein Haus und in die Nähe ſeiner Tochter geführt, 
die Hand der Vorſehung zu erblicken, von deren weiſer Fü— 
gung er die Erfüllung feiner liebſten Wünſche ſtets allein er- 
wartet hatte. Die Herzen der Liebenden waren einig, dieß ent⸗ 
ging Durand's Scharffinne nicht: auch nicht der innere Kampf 
der Beſcheidenheit und des Edelmuthes, der Fedor'n bisher ge⸗ 


40 


hindert hatte, feinen Empfindungen Worte zu geben, oder 
ſich von Adelens Gegenliebe für überzeugt zu halten. Es war. 
Zeit, dieſem Zuftande der Unentſchiedenheit ein Ende zu ma— 
chen. Ein äußerer Umſtand, den Durand beynahe vergeſſen 
hatte, und der ſich ihm jetzt um fo unangenehmer aufdrang, 
gab hierbey den Ausſchlag. 

Die Familie St. Flour war ſeit dem Treffen an der 
Saone aus der Gegend verſchwunden. Dem Vernehmen nach 
hatte der Baron mit feiner Gemahlin und feinem hoffnungs⸗ 
vollen Sohne den Weg nach Paris eingeſchlagen, um ſo theure 
Perſonen in Sicherheit zu bringen, und zugleich dem Mittel- 
puncte der Politik näher zu ſeyn. Durand wünſchte ſich Glück 
von einer fo läſtigen Nachbarſchaft befreyt zu ſeyn, und dachte 
nicht weiter an ſie. Jetzt trafen Briefe von der Baronin an 
ihn und ſeine Tochter ein, welche ihre nahe Zurückkunft mel⸗ 
deten. Auch Victor hatte ein zierliches Billet an Adelen bey⸗ 
gelegt, voll der zärtlichſten Hochachtung und Freundſchaft. Das 
Gefühl, womit Adele dieſen Brief empfing, war über allen 
Ausdruck widrig; ſo tief hatte ſie es noch nie empfunden, wie 
verhaßt ihr dieſer Menſch ſey. Durand zögerte nun nicht län⸗ 
ger, ſich ganz ohne Rückhalt gegen feine Tochter zu erklären. 
Er ſprach deutlich aus, was ſie ſchon ſeit einiger Zeit errieth: 
— ſeine Abſichten mit Fedor'n, und den feſten Entſchluß, nie 
feine Einwilligung zu einer Verbindung mit der Familie St. 
Flour zu geben. Es wurde ihm jetzt nicht ſchwer, Adelen zu 
überzeugen, daß ihre Mutter ſelbſt jeden Gedanken dazu wür⸗ 
de aufgegeben haben, wenn fie dieſe Menſchen in ihrer ganz 
zen Niedrigkeit kennen gelernt hätte. Was ihr Vater von Fe⸗ 
dor'n ſagte, erfreute Adelen auf's innigſte; ſie ſelbſt hätte die 


41 


Vorzüge des Geliebten nicht beredter ſchildern können. Daß 
ſie geliebt ſey, wußte ſie lange; daß er es ihr nie geſtanden, 
auch nicht, wenn die Gelegenheit noch ſo günſtig ſchien, hätte 
fie wohl manchmahl ungeduldig machen mögen; aber dieſe Zus 
rückhaltung war feiner Lage, feinem edlen Character fo anges 
meſſen! Er ward ihr dadurch nur um ſo viel theurer und ach— 
tungswerther. Jetzt nahm es Durand auf ſich, den ſtummen 
Liebhaber zur Erklärung zu bringen. Adele ſchmiegte ſich ver- 
ſchämt an die Bruſt ihres Vaters, indem ſie ihr ganzes Ge⸗ 
ſchick in ſeine Hände legte. 

Die Art, wie ſich Durand von nun an gegen Fedor'n 
betrug, konnte dieſen über die wohlmeinenden Abſichten des 
Alten nicht länger im Zweifel laſſen. Zugleich mußte ihn Ade⸗ 
lens ganzes Benehmen überzeugen, daß die zärtliche Neigung, 
die er für fie empfand, von dem holden Geſchöpfe erwiedert 
werde. Die unverhoffte Gewißheit, geliebt zu werden, und die⸗ 
jenige, die er liebte, zu beſitzen, machte ihn ſelbſt in erhöh⸗ 
tem Grade liebenswürdig. Der zurückhaltende, ernſte, zuwei⸗ 
len düſtere Fedor wurde mit einem Mahle offen, zutraulich 
und munter. Er ſprach nicht von ſeiner Liebe, aber alles an 
ihm athmete ſie. Adele war ganz glücklich; und ihr Vater, 
der die Einigkeit der Liebenden nun vollendet ſah, genoß im 
Stillen des Triumphes ſeiner wohlwollenden Abſichten, den 
Tag erwartend, wo er die Hände der Glücklichen für immer 
vereinigen würde. Die Friedensgerüchte, die ſich ſeit kurzem 
verbreiteten, vermehrten noch Durands heitere Stimmung; 
er hoffte, vielleicht ſchon in wenig Tagen, ein öffentliches und 
häusliches Feſt zugleich zu feyern. 

So vergingen mehrere Tage, die ſchönſten, welche dieſe 


42 


drey guten Menſchen noch erlebt hatten. — Es war ein über: 
aus angenehmer Herbſtabend. Adele ſaß mit Fedor'n an dem 
Klavier, abwechſelnd mit dem Spiele und mit vertraulichen 
Geſprächen ſich unterhaltend. In einiger Entfernung von ih⸗ 
nen ſaß Durand, die Zeitungen leſend. Er unterbrach ſeine 
Lectüre von Zeit zu Zeit, um Fedor'n zu ſagen, was ſie ent⸗ 
hielten. Schon wollte er die Blätter aus der Hand legen, als 
er noch einmahl hineinblickte, und, wie von einer unglaubli— 
chen Nachricht überraſcht, das Papier dem Geſichte näher 
brachte, als wollte er ſich überzeugen, ob er auch recht gele⸗ 
ſen. Nachdem er die Stelle noch einmahl mit angeſtrengter 
Aufmerkſamkeit betrachtet, ward er blaß, ſah eine Weile ſtarr 
vor ſich hin, und ließ die Hände in den Schooß ſinken. Dann 
warf er einen ſcheuen Blick auf das liebende Paar, das ſei⸗ 
ner nicht zu achten ſchien, ſtand ſchnell auf, griff nach den 
Zeitungen, die ihm entfallen waren, und verließ das Zim⸗ 
mer. — Adele, die ihn gehen hörte, wachte aus ihrer Zer⸗ 
ſtreuung auf; ſie wollte ihm folgen, aber Fedor hielt ſie zu⸗ 
rück. Er hatte eine Romanze auf das Pult gelegt, die er von 
ihr ſingen zu hören wünſchte. Die Romanze ſprach, in dem 
Wechſelgeſang eines Troubadours und feiner Dame, die zar— 
teſte Sehnſucht einer gegenſeitigen glücklichen Liebe aus; der 
naive Ausdruck in den halben Geſtändniſſen der Dame ſchien 
den ſchüchternen Liebhaber zu größerer Kühnheit aufzumun⸗ 
tern; die Antwort des Troubadours athmete die ſanfte Gluth 
des ſüßeſten Verlangens. Adele fang den Anfang mit Funfts 
fertiger Unbefangenheit; nach und nach erwärmte ſich ihr Ser 
fühl, und von der Macht der Worte, der Muſik und ihrer 
eigenen Empfindung überwältigt, ſaß ſie endlich in holder 


43 


Verwirrung da, die letzten Töne, kaum verſtändlich von den 
glühenden Lippen hauchend. Fedor hatte ſeinen Arm um ſie 
geſchlungen; er ſank auf ſeine Kniee, und drückte den erſten 
innigen Kuß der Liebe auf ihren halbgeſchloſſenen Mund. — 
Da trat Durand in die Thür. Nach einer kurzen Ueberlegung 
näherte er ſich langſam, mit ernſten theilnehmenden Blicken, 
dem ſich ſelig dünkenden Paar. Die jungen Leute erhoben 
ſich, weniger betroffen, als verwundert über den feyerlichen 
Ernſt des ſonſt ſo frohſinnigen Alten. Durand faßte die Hand 
ſeiner Tochter, und ſprach mit großer Milde: »Laß uns allein, 
gutes Kind! Ich habe mit dem Herrn Lieutenant zu ſpre⸗ 
chen.« — Adele war ſehr beſtürzt über dieſes unerwartete Ber: i 
langen, und über den Ton, womit es vorgebracht wurde; 
Fedor nicht minder. — »Sey ruhig, Adele!« ſagte ihr Vater; 
»ich billige deine Liebe, du weißt es. Aber geh nun, Kind, 
geh; laß mich mit deinem Fedor ſprechen.« — 

Als Adele entfernt war, ſtand Durand noch eine Weile 
ſchweigend, indem er Fedor'n mit ruhigem, prüfendem Blicke 
betrachtete. — »Der Krieg, Herr Lieutenant ‚« fing er dann 
an, »hat Sie aus weiter Ferne mit den Feinden meines 
Landes in mein Haus geführt. Ich habe Sie als einen edlen 
jungen Mann kennen gelernt. Sie lieben meine Tochter, meine 
Tochter liebt Sie; ich habe Sie zu meinem Eidam beſtimmt.« — 
Fedor machte Miene etwas zu ſagen. — »Unterbrechen Sie 
mich nicht, lieber junger Mann!« fuhr Durand fort: »Noch 
fragte ich nicht: in welchem Stande Sie geboren find, nicht 
einmahl aus welchem Volke Sie ſtammen? Ich glaube nicht, 
daß Sie reich ſind.« — »Ich bin arm,“ fiel ihm Fedor in's 
Wort; »ganz arm. « — „Sie hatten Urfache ‚« erwiederte der 


44 
Alte, „mich für einen mohlhabenden, für einen reihen Mann 
zu halten. Ich war es, glaubte wenigſtens es zu ſeyn, vor 
wenig Augenblicken noch; — ich bin es nicht mehr! — «Wie, 
mein Herr!« rief Fedor; — »welches Unglück ?« — »Kein Uns 
glück,« antwortete Durand; — eine Begebenheit, die ich in 
anderen Umſtänden für ein Glück angeſehen hätte, die ich lange 
gewünſcht, faſt eben ſo lange nicht mehr erwartet habe; und 
die ich auch jetzt noch nicht ungeſchehen wünſchen kann, ob⸗ 
wohl ſie mich zum armen Manne, und mein einziges, gelieb— 
tes Kind vielleicht auf immer ſehr unglücklich macht. « — »Um 
des Himmels Willen!« rief Fedor mit größter Theilnahme: 
»Was iſt geſchehen, mein Herr? Was haben Sie erfahren? 
Wie, durch wen können Sie eine ſolche Begebenheit, hier, 
in dieſer Stunde erfahren haben ?« — »Durch ein kleines Aver⸗ 
tiſſement in den Zeitungen ‚« erwiederte Durand, »welches 
mir die Gewißheit gibt, daß Jemand, den ich ſeit zwanzig 
Jahren für todt hielt, noch lebt, daß er ſich in Frankreich 
befindet, und, wie ich hoffe, bald hier ſeyn wird, um dieſes 
Landgut und alle meine Habe, als fein Eigenthum, in Bes 
fig zu nehmen. Doch — dieß iſt nicht der Ort, Ihnen hierüber 
noch mehr zu ſagen. Ich fürchte die Nähe und die Unruhe 
meines armen Kindes. Noch iſt ſie auf einen ſo unerwarteten 
Schlag nicht vorbereitet. Kommen Sie, mein Herr! folgen 
Sie mir in den Garten! Ich habe Ihnen eine Geſchichte zu 
erzählen, die bisher noch keine lebende Seele von mir erfuhr. 
Daß ich Sie Ihnen jetzt mittheile, wird Ihnen mein Vertrauen 
nicht weniger beweiſen, als es der Entſchluß thun konnte, 
Sie zum Gatten meiner einzigen Tochter zu wählen. « 
Durand führte den erſtaunten Fedor in einen abgelege— 


45 


nen Theil des Garters, wo er ihn unter dem Sternenhim— 
mel auf einer Bank neben ſich Platz nehmen ließ. — »Ich 
war ehemahls, “ fing er zu erzählen an, »ein gemeiner Hand- 
werker in Paris. Meine erſte Frau beſaß einiges Vermögen, 
aber auch mehrere Kinder aus einer früheren Ehe. Mein Fleiß 
und meine Redlichkeit wurden von Gott geſegnet, und von 
meinen Mitbürgern vielleicht höher geachtet, als fie verdien- 
ten. Ich galt etwas in dem Quartier der Stadt, in welchem 
meine Werkſtätte lag; und in den unruhigen Zeiten der Revo— 
lution nahmen Gemeine und Vornehmere zuweilen ihre Zu— 
flucht zu Meiſter Etienne, dem Böttcher, um ihnen mit Rath 
und That hülfreich zu ſeyn. Da ich einige Zeit Militärdienſte 
gethan, wählte man mich zum Officier der Nationalgarde. 
Ich habe in dieſer Eigenſchaft mancher Unordnung abgewehrt, 
manchen Frevel gehindert, ohne in der Meinung des Volkes 
und ſeiner Führer für einen weniger zuverläſſigen Patrioten zu 
gelten. Leider gehörte es zu meiner Amtspflicht, die Beſchlüſſe 
der Municipalitat und der Revolutionsgerichte, fo weit fie 
den Dienſt der Nationalgarde betrafen, in Ausführung zu 
bringen. Oft erhielt ich Befehl, die Municipalitäts-Beamten 
und die Commiſſäre des Gerichts in die Häuſer der Verdächti— 
gen und der Angeklagten zu begleiten, und die unglücklichen 
Opfer der Tyranney und der Parteywuth in das Gefängniß 
zu führen. Eines Abends brachte mich ein ſolcher Auftrag in 
das Haus eines Edelmannes, der in der Nähe meiner Werkſtätte 
einen Garten beſaß, und den ich zuvor in einigen Geſchäften 
meines Gewerbes kennen gelernt hatte. Der Befehl war äußerſt 
ſtreng; er lautete auf die Verhaftung des Edelmannes und ſei— 
ner Angehörigen, auf die Wegnahme ſeiner Papiere, Gelder 


4 

und Koſtbarkeiten, und auf die Verſiegelung der durchſuchten 
Wohnung. Als wir in's Haus traten, fanden wir es, außer einem 
alten Portier und dem Hausherrn ſelbſt, von ſeinen Bewoh— 
nern verlaſſen. Der Letztere begegnete uns auf der Treppe, 
im Begriff herabzugehen. Man führte ihn zurück, und forderte 
ihm die Schlüſſel ſeines Schreibpultes und der Schränke ab, 
worin ſich ſeine Koſtbarkeiten und andere Sachen von Werth 
befanden. Die Commiſſäre begaben ſich in die inneren Ge— 
mächer, um ihre Beute in Beſchlag zu nehmen. Meine Mann⸗ 
ſchaft ward zur Beſetzung des Eingangs und der Treppen ver— 
theilt; die Bewachung des Hausherrn ſelbſt wurde mir anver⸗ 
traut. : 5 

» Raum fah ſich der Unglückliche mit mir allein, als er 
ſich in größter Haft und Bangigkeit mit folgenden, leiſe ges 
ſprochenen Worten an mich wandte: « Meiſter Etienne! ich 
kenne Euch, als einen ehrlichen Mann. Nehmt dieſes Porte: 
feuille; es enthält mein baares Vermögen, das ich fo glück⸗ 
lich war, erſt heute Nachmittag einzuziehen. Verbergt es, und 
bringt es, wenn Ihr's mit Sicherheit thun könnt, meiner 
geflüchteten Gemahlin. Ihr findet ihren Aufenthalt und was 
Euch ſonſt zu wiſſen nöthig iſt, auf einem beyliegenden Blatte 
angezeigt. Nehmt, nehmt, und rettet die Meinigen! ich bin 
nicht zu retten.» — Ich ſuchte ihm Muth einzuſprechen, und 
zögerte, das Portefeuille anzunehmen; aber er drang es mir 
mit convulſiviſcher Heftigkeit auf. In dem Augenblicke hörten 
wir das Geräuſch von Fußtritten. Ich verbarg geſchwind das 
Portefeuille, und entfernte mich von meinem Gefangenen, der 
ſich aus Schwäche auf einen Stuhl niedergelaſſen hatte. Gleich 
darauf kam einer der Commiſſäre zurück, dann auch der an— 


47 


dere; fie ſchienen mit dem, was fie gefunden, nicht ganz zu⸗ 
frieden. Nach einigen Fragen nahmen ſie den Gefangenen 
in ihre Mitte, luden mich ein, ihnen mit meiner Mannſchaft 
zu folgen, und verſchloſſen die Wohnung. Am Thore des Hau— 
ſes ſtand ein Wagen, in den die Commiſſäre mit dem Uns 
glücklichen ſtiegen. — Seitdem ſah ich ihn nicht mehr; er 
ward innerhalb vierundzwanzig Stunden abgeurtheilt, und mit 
ſechszehn Unglücksgefährten zugleich hingerichtet. « 

„Gott, Gott!« rief Fedor erſchüttert: „In vierundzwan⸗ 
zig Stunden !« — »Dieſe Schnelligkeit der Juſtizmordes, er— 
wiederte Durand, »war damahls an der Tagesordnung. — Ich 
fand in dem Portefeuille die Summe von 450,000 Franken 
in engliſchen Banknoten und anderen guten Papieren, auf 
den Inhaber lautend. Es war, nach der beyliegenden Rech— 
nung, der Ertrag von verkauften Juwelen und ausländiſchen 
Fonds. Ein anderes Blatt bezeichnete ein Landhaus in einiger 
Entfernung von Paris als den nächſten Aufenthalt der geflüch⸗ 
teten Dame, auch den Weg, den fie weiter nehmen würde; 
empfahl aber die größte Vorſicht bey der Ausführung des an 
ſie übernommenen Auftrages, damit die Unglückliche, im Fall 
einer Entdeckung, nicht auch dieſes letzten Eigenthums beraubt 
würde. Eine beygeſetzte Bemerkung warnte beſonders gegen ei— 
nen Verwandten, deſſen Habſucht und Argliſt die Familie 
ihren Untergang beyzumeſſen habe. — Nach drey Tagen nahm 
ich einen Vorwand, um eine kleine Reiſe zu machen, und 
eilte nach dem bezeichneten Landhauſe. Die Dame hatte es, 
auf die Nachricht von der Hinrichtung ihres Gemahls, in 
größter Beſtürzung verlaſſen. Wohin ſie ſich mit ihrem Kinde 
und einem alten Diener gewendet, wußte Niemand. Auch 


48 


auf dem Wege, den das Papier angab, war keine Spur von 
ihr zu entdecken. Ich konnte, ohne Verdacht zu erregen, für 
jetzt nicht länger von Paris wegbleiben, und kehrte daher 
mit ſchwerem Herzen zurück. — Da ich ſeit einiger Zeit Wit⸗ 
wer und mein älteſter Stiefſohn in den Jahren war, das Ger 
werbe zu übernehmen, das mir ſeine Mutter zugebracht hatte, 
ſo übergab ich es ihm und ſeinen Geſchwiſtern mit vollem 
Eigenthum, entſchloſſen, meine ganze Zeit und Aufmerkſam⸗ 
keit der unglücklichen Familie zu widmen, welche die Vorſe— 
hung durch eine außerordentliche Verwicklung des Zufalls 
an mich gewieſen zu haben ſchien. Der Weinhandel, den ich 
nach der Trennung von meinen Stiefkindern für eigene Rech⸗ 
nung fortſetzte, gab mir Gelegenheit, Paris auf längere Zeit 
zu verlaſſen, und meine Flüchtlinge in verſchiedenen Richtun— 
gen aufzuſuchen. Ich fand endlich ihre Spur auf dem Wege 
nach Deutſchland. In einer kleinen Stadt am Rhein erfuhr 
ich mit Gewißheit, daß die noch unſtet umherziehende Fami 
lie da geweſen, und durch die Krankheit der Mutter einige 
Tage zurückgehalten worden ſey; von dort habe ſie ſich nach 
Norddeutſchland gewendet, wo ſie in Caſſel oder Hannover 
zu verweilen gedenke. Der Reiſende eines mir wohlbekann— 
ten Handlungshauſes nahm es auf ſich, die Auswanderer in 
Deutſchland aufzuſuchen, und ihnen eine Summe Geldes zu 
überbringen, welche ich vorgab, dem verſtorbenen Gemahl der 
Dame ſchuldig zu ſeyn. Ich ſelbſt eilte nach Paris zurück, wo 
das Intereſſe der Familie meine Gegenwart in anderer Hin⸗ 
ſicht nothwendig machte. 

„Die eingezogenen Güter des Geächteten wurden bereits 
zum Verkauf ausgebothen. Ich ſetzte die mir anvertrauten 


49 


Gelder mit gehöriger Vorſicht in Landeswährung um, und 
war ſo glücklich, den bey weitem größten und vorzüglichſten 
Theil jener Güter ungefähr für die Summe zu erſtehen, wel⸗ 
che mir von dem ehmahligen Eigenthümer derſelben war über: 
geben worden. — Kaum hatte ich dieß Geſchäft zu Stande 
gebracht, als ich von meinem Correſpondenten in Deutſchland 
die Nachricht erhielt: er habe die ausgewanderte Familie in 
Caſſel allerdings angetroffen, aber erſt, nachdem die Mutter 
geſtorben und eben begraben war. Der kleine Sohn ſey eben⸗ 
falls bedenklich krank, und die Aerzte zweifelten an deſſen 
Aufkommen. Er habe in dieſen Umſtänden, und da er ſelbſt 
weiter reifen müſſe, die von mir erhaltene Summe dem als 
ten, treuen Diener des Hauſes übergeben, welchem er auf⸗ 
getragen, mir über Alles umſtändlicher zu ſchreiben. Es ver⸗ 
gingen mehrere Wochen, ohne daß ich eine weitere Nachricht 
erhielt; endlich kam ein Brief von dem erwähnten alten Die— 
ner, und zwar nicht mehr von Caſſel, ſondern von einer 
Poſtſtation nächſt Leipzig. Der Alte beſtätigte darin alle Anz 
gaben meines Handlungs-Correſpondenten, zeigte den inzwi⸗ 
ſchen erfolgten Tod feines jungen Herrn an, ſchloß die Verech⸗ 
nung der Krankheits- und Leichenkoſten bey, und überfandte 
ſogar den Reſt des von mir empfangenen, und nicht verbrauch⸗ 
ten Geldes, indem er, wie er beyfügte, keinen Anſpruch dar⸗ 
auf habe, auch keinen rechtmäßigen Erben der Verſtorbenen 
kenne. — Seitdem habe ich nie mehr etwas weder von jener 
unglücklichen Familie, noch von dieſem alten Diener erfahren 
können, ſo viel Mühe ich mir auch gab, wenigſtens den letz⸗ 
teren ausfindig zu machen, um ihn für ſeine Ehrlichkeit und 
Treue zu belohnen. Denn, daß er ein durchaus ehrlicher treuer 
D 


50 


Meuſch ſey, bezeugten Alle, die ihn noch aus dem Haufe fei- 
ner ehmahligen Herrſchaft kannten. — Indeſſen war die Nach⸗ 
richt, die er mir gab, falfch, und er ſelbſt ein Betrüger Sein 
junger Herr, deſſen Tod er mir meldete, lebt, und iſt in Frank⸗ 
reich. Es iſt der Erbe dieſes Schloſſes und aller meiner Be⸗ 
ſitzungen, die ich ihm zu übergeben bereit bin, ſobald er ſich 
über ſeine Geburt wird ausgewieſen haben, — wozu ich ihn 
unverzüglich in denſelben Zeitungsblättern, durch e ich 
Tem Daſeyn erfuhr, auffordern werde. « 

Fedor hatte dieſer Erzählung vom Anfange an mit ge⸗ 
ſpannter Aufmerkſamkeit und mit großer innerer Bewegung 
zugehört. Gegen das Ende derſelben war er aufgeſtanden, und 
hatte ſich einige Schritte weit entfernt, als ob er ſeine Em⸗ 
pfindungen vor Durand verbergen wollte. Nachdem dieſer eine 
Weile geſchwiegen, näherte ſich ihm Fedor, und ſagte: „Sie 
ſind alſo entſchloſſen, Herr Durand, ſich ſelbſt und Ihre lie⸗ 
benswürdige Tochter aller Glücksgüter zu berauben, welche Sie 
ſeit zwanzig Jahren mit dem redlichſten Bewußtſeyn beſaßen, 
die Sie mit ſo viel Klugheit erworben, mit ſo viel Edelmuth 
verwaltet haben, um dieſe Güter einem jungen Menſchen zu 
überlaſſen, der nichts von Ihnen und von ſeinen Anſprüchen 
wußte, und der des Opfers, das Sie ihm bringen wollen, 
vielleicht gar nicht werth iſt?« — „Wie, mein Herr!“ erwieder⸗ 
te Durand: „ſagte ich Ihnen nicht, daß dieſer junge Menſch der 
Sohn und Erbe des rechtmäßigen Eigenthümers iſt, des Man⸗ 
nes, mit deſſen mir anvertrautem Gelde ich dieſe Güter von 
der Ungerechtigkeit des Staats zurück kaufte ?%« — „Es iſt ein 
außerordentlicher, ſehr außerordentlicher Fall,“ ſagte Fedor 
in ſich ſelbſt vertieft: »ein Fall, worin das Glück eben fo arm 


51 


und ohnmächtig erſcheint, als die Rechtſchaffenheit reich und 
machtvoll, ein Fall, Herr Durand, der denjenigen‘, zu deſſen 
Glücke er ausſchlägt, eben ſo ſehr vor Ihnen demüthigen muß, 
als er Sie in ſeinen Augen erhöht.« — „Ich verſtehe Sie 
nicht ganz, mein Herr!“ antwortete Durand, Haber ich 
thue nur, was ich nicht laſſen kann, und was ſchwerlich ſo 
vielen Lobes werth iſt, weil das Gegentheil zu thun, eine 
hängenswerthe That wäre. « — »Sie nannten mir den Edel: 
mann noch nicht,“ ſagte Fedor zögernd; »kein Menſch weiß um 
ihr Geheimniß.« — »Ich weiß darum,“ rief Durand lebhaft, 
»das iſt genug, Herr Lieutenant! der Edelmann heißt —« — 
»Nennen Sie ihn noch nicht! « fiel ihm Fedor in's Wort; 
»wie, wenn der junge Mann feine Abkunft nicht beweiſen könn⸗ 
te? wenn ſich ein Fremder, ein Unwürdiger in dieſe Beſitzun⸗ 
gen eindrängte? wenn Ihre Tochter, dieſes theure, dieſes 
liebenswürdige Geſchöpf — «— »Meine Tochter!« ſeufzte Du⸗ 
rand: »das iſt das Böſe bey der Sache! Sie leidet, fie ver⸗ 
liert; — verliert nicht bloß Geld und Gut, — vielleicht Glück 
und Ruhe! — Dieß allein, Herr, betrübt mich, ſchlägt mich 
nieder. Was kümmerte mich ſonſt der Verluſt aller Reichthü⸗ 
mer der Welt !« — »Edler, edler Mann!« rief Fedor, indem 
er Durand heftig an ſeine Bruſt drückte. — „Still, mein jun⸗ 
ger Freund!“ entgegnete der Alte in ſanftem, etwas trau⸗ 
rigem Tone; »denken Sie nicht zu gut von mir! Ich habe mehr 
gefehlt, und war vielleicht ſelbſtſüchtiger, als Sie glauben. 
Die Liebe zu meiner jungen Frau, und zu dem Kinde, das ſie 
mir ſchenkte, untergrub die Strenge meiner Grundſätze. Nie 
war ich in meinem Innern vollſtändig überzeugt, daß der recht: 
mäßige Erbe meiner Beſitzungen todt ſey. So laͤng' ich daran 
D 2 


52 


zweifelte, durfte und wollte ich meine Tochter nicht als die 
Erbin derſelben betrachten. In der That ſah ich mich ſtets nur 
als den Verwalter jener Beſitzthümer an; und wenn, außer 
den geſetzlichen Erben, jemand ein Recht auf deren Nutznie— 
ßung hatte, ſo war es die Armuth und das Unglück. In dieſem 
Sinne verwendete ich lange Zeit die Früchte meines zufälligen 
Reichthums. Doch allmählich änderte ſich dieß Alles. Eitelkeit 
und Leichtſinn drangen in mein Haus ein; Adele ward als ein 
Schoßkind des Glückes erzogen: ich hatte nicht den Muth, 
der warnenden Stimme zu folgen, die in meinem Innerſten 
mir davon abrieth.« — » Adele iſt fo beſcheiden als liebenswür⸗ 
dig,“ ſagte Fedor, » und wird das glänzendſte Loos, das ſie 
mit einem Manne theilt, noch durch ihre Tugenden überſtrah— 
len. « — »Aber fie wird die Dürftigkeit nur mit Mühe ertra— 
gen,« erwiederte Durand, » und den armen Mann, der ſich 
mit ihr verbindet, vielleicht nicht glücklich machen. — Guter 
Fedor! ich darf es Ihnen nicht verbergen: Die arme Adele 
iſt nicht mehr das vollkommene Geſchöpf, das Ihnen die rei⸗ 
ch e zu ſeyn ſchien. Werden Sie ſelbſt es gleichgültig anſehen, 
wenn Ihr liebenswürdiges Weib mit Entbehrungen kämpfen 
muß, die ihr von Kindheit auf fremd waren?“ 

Beyde Männer ſchwiegen eine Zeitlang. »Und iſt Adele 
denn arm? « hob Fedor nach einer Weile an. „Das Höchſte, 
was Sie dem Erben jener Familie ſchuldig ſeyn können, iſt 
die Zurückſtellung der Ihnen anvertrauten Summe. Den Be— 
ſitz dieſer Güter, deren Werth jene Summe weit überſteigt, 
haben Sie Ihrer eigenen Betriebſamkeit zu danken. « — 
»Ward mir dieſe Summe anvertraut, « erwiederte Durand 
ernſthaft, »um damit zu meinem Vortheile zu wuchern? — 


53 


Die Liebe verblendet Sie, Fedor; ich will nicht fürchten, der 
Eigennutz! Ich verabſcheue den Gedanken, mich mit fremdem 
Gute bereichert, und die Mittel, welche die Vorſehung in 
meine Hand legte, begangenes Unrecht gut zu machen, zu 
meinem eigenen Nutzen verwendet zu haben. Könnt' ich es 
rechtfertigen, den habſüchtigen Anſchlag eines Verwandten 
auf den Beſitz dieſer Güter vereitelt zu haben, wenn ich, 
ein Fremder, zum Nachtheil des rechtmäßigen Erben mich 
darin behaupten wollte? « — »Ihre Rechtſchaffenheit, Herr 
Durand, « ſagte Fedor mit gerührter Stimme, „ macht 
alle Rückſichten der Klugheit und alle Einflüſterungen der 
Selbſtliebe zu Schanden. Sie belehrt mich zugleich, welche 
Denkungsart in dieſem Falle Ihnen, und welche dem Erben 
dieſer Güter geziemte. — Aber jener Verwandte — wie ver: 
hält es ſich mit ihm? Wer iſt es, Herr Durand? « — »Mein 
Nachbar St. Flour,« entgegnete Durand, »der unwürdige 
Vetter des edlen und unglücklichen Marquis von Sorville.« — 
— »Sorville!« rief Fedor erſchüttert; aber ſchnell ſich faf- 
ſend, fuhr er fort: »Alſo Sorville hieß der ehemahlige Eigen— 

thümer dieſes Schloſſes, und die Geſchichte, welche Sie mir 
erzählten, iſt die des unglücklichen Marquis und feines So: 
nes? « — „So iſt es!« erwiederte Durand, »Der Nahme 
ſcheint Ihnen bekannt; wiſſen Sie etwas von dieſem Soh⸗ 
ne ?« — »Ich habe eines Chevaliers Sorville erwähnen ge⸗ 
hört, « ſagte Fedor kaltſinnig, »der ſich vor etwa einem 
Jahre mit mir zugleich in St. Petersburg befand.« — 
» Diefer Chevalier Sorville,« antwortete Durand ſchnell, 
„Sohn des Marquis gleichen Nahmens, iſt es, der in der Zei— 
tung aufgefordert wird, ſeinen Aufenthalt einem alten treu⸗ 


en Diener anzuzeigen, welcher ihm nach Frankreich gefolgt 
ſey, und ſehnlichſt wünſche, wieder in feiner Nähe zu ſeyn. Oh— 
ne Zweifel iſt es derſelbe Diener, von dem ich vor zwanzig Jah⸗ 
ren die falſche Kunde von dem Tode ſeines jungen Herrn er— 
hielt. Welchen Grund der Mann gehabt haben kann, mich 
auf ſolche Weiſe zu hintergehen, iſt mir unbegreiflich.« — 
» Vielleicht, « fagte Fedor, » hielt er es zur Sicherheit feines 
Pfleglings für zuträglich. Ihr Stand und Ihr Ruf, als eifri⸗ 
ger Patriot, machte ihm Ihre Theilnahme vielleicht ver— 
haßt oder verdächtig. Der ausgewanderte Adel hatte damahls 
wenig Freunde unter den ſogenannten Patrioten des Bürger— 
ſtandes.« — „Sie können Recht haben, « erwiederte Du— 
rand. » Welches Unheil hat die Auflöſung aller Bande des 
geſellſchaftlichen Vertrauens auch hier zur Folge gehabt! — 
Und was ſprach man von dem Chevalier? von ſeinem Geiſt 
und Character? « — » Wenig Ausgezeichnetes, antwortete 
Fedor gleichgültig; »er ſcheint ein ganz gewöhnlicher Menſch 
zu ſeyn.« — »Dem ſey, wie ihm wolle; « ſagte Durand 
lebhaft, indem er aufſtand: „Er wird Eigenthümer dieſes 
Schloſſes, wenn er der Sohn des Marquis von Sorville iſt. 
Würde ich doch ſogar dem verhaßten St. Flour in dieſem Beſitze 
gewichen ſeyn, hätte nicht Sorville's eigene Erklärung den 
Verräther für immer davon ausgeſchloſſen. — Doch nun, Fe⸗ 
dor, laſſen Sie uns gehen. Ich bin gefaßt genug, um meine 
Tochter zu ſehen, und fie für heute durch irgend einen Vor- 
wand, fo gut ich kann, zu beruhigen.« a 
Fedor folgte dem vor ihm ſchreitenden Alten in tiefen 
Gedanken. Als ſie in Adelens Zimmer traten, erheiterten 
ſich feine Mienen; er wollte die Geliebte durch den Ausdruck 


55 


feiner Geſichtszüge ſchnell überzeugen, daß nichts Beunru⸗ 
higendes vorgefallen ſey. Auch Durand ſchien ruhig und un⸗ 
befangen. Er ſprach nur beyläufig von einem unangenehmen 
Vorfall, der ſich hoffentlich bald zum Beſten aufklären wür⸗ 
de. Nach einer kurzen Weile trennte ſich die kleine Geſell⸗ 
ſchaft; Fedor nahm den zärtlichſten Abſchied von Adelen, und 
umarmte ihren Vater wiederhohlt mit großer Rührung. 
Am folgenden Morgen ſchrieb Durand ſeinem Sachwalter 
in Paris. Er trug ihm auf, den Chevalier von Sorville, oder 
wenn dieß nicht gelänge, wenigſtens den Verfaſſer der an den 
letzteren gerichteten Aufforderung ausfindig zu machen, und 
Beyde einzuladen, ſich unverzüglich nach Durand's Landſitze zu 
begeben, indem er ihnen eine, für den Chevalier ſehr wichtige 
und angenehme Nachricht mitzutheilen habe. Dann befahl er 
einem Rentmeiſter, ihm die Ausweiſe über den Stand und 
Ertrag ſeiner Güter vorzulegen, von den Vorräthen aller Art 
Verzeichniſſe aufzunehmen, und die Rechnungen über feine 
Schulden und Forderungen ins Reine zu bringen. Er ſelbſt 
ordnete ſeine Caſſe, und ſchloß ſie ab, nachdem er für die wohl⸗ 
thätigen Gaben, die er wöchentlich zu vertheilen pflegte, eine 
Summe bey Seite gelegt hatte. — Als dieſe Geſchäfte vers 
richtet waren, fühlte ſich Herr Durand ſo leichten und frohen 
Muthes, daß ſeine Tochter, die auf ſein Zimmer kam, jeden 
Grund ſeiner geſtrigen Mißſtimmung gehoben glaubte, und ſich 
ſelbſt völlig darüber beruhigte. Sie erzählte ihm nun, der Ge⸗ 
neral habe Fedor'n ſeinen Wagen geſchickt, und dieſer ſey ſo 
eben darin weggefahren. Er habe fie an ihrem Fenſter freundlich 
gegrüßt, und ihr zugerufen, er werde bald wieder kommen. 
»Das wollen wir hoffen, Kind!« ſprach Durand: »obwohl 


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eigentlich Niemand fagen kann, was nach einer Stunde ges 
ſchehen, und er ſelbſt thun wird.« — »Wie, mein Vater ?« rief 
Adele ziemlich erſchrocken. — »Siehſt du, Kind !« erwiederte der 
Alte. »Was ſagt' ich immer? Schon die Möglichkeit eines Ver⸗ 
luſtes erſchreckt dich. Und doch iſt nichts natürlicher, als daſt 
wir verlieren.« — »Nun in dieſem Sinne“ — ſagte lächelnd 
Adele. — »Im Sinne der Möglichkeit, die niemahls eintrifft, « 
erwiederte Durand ernſthaft, »ich weiß, ja! in dem Sinne 
ſeyd Ihr feingebildete Leute lauter Philoſophen; aber nimm 
einmahl an, Adele, daß wirklich geſchähe, was ich dir als 
möglich vorſtellte; daß unſer vermeinter Reichthum z. B. ſich 
plötzlich in Nichts auflöſte, daß ich arm würde, wie ich ehemahls 
war, und du mit mir; daß wir dieſes ſchöne Schloß, mit al⸗ 
len ſeinen Bequemlichkeiten und zierlichen Einrichtungen, ver⸗ 
laſſen, und in die weite Welt hinauswandern müßten, ohne zu 
wiſſen, wo wir ein Obdach finden werden: — nimm an, Adele, 
dieß Alles träfe nun wirklich ein; — was würdeſt du dann ſa⸗ 
gen, oder, noch mehr, was würdeſt du th un ?« — Adele ſah ih: 
rem Vater eine Zeitlang in das ernſte, bedeutungsvolle Geſicht, 
ward abwechſelnd blaß und roth, und ſprach: »Ich glaube, 
mein Vater, ich würde dieſen Glückswechſel ertragen, wie es 
Ihrer Tochter würdig iſt.« — »Das hoff' ich zu Gott!« rief Du⸗ 
rand, Adelen mit großer Bewegung in ſeine Arme ſchließend. „Er⸗ 
manne dich, meine Tochter! Was du für möglich hältſt, iſt wahr. 
Wir haben nichts mehr, als uns ſelbſt; aber das iſt mehr, als was 
wir verlieren, wenn wir anders einen eigenen Werth haben.« 

Durand erzählte nun feiner Tochter, was er in der voris 
gen Nacht Fedor'n erzählt hatte. Das Schickſal der unglückli⸗ 
chen Sorville's, die Rechtſchaffenheit, die einfache Seelengrö⸗ 


57 


ße ihres Vaters, machten den tiefſten Eindruck auf ihr Gemüth; 
ſie vergaß ſich ſelbſt, und Alles, was ſie verlor, über der Theil⸗ 
nahme an fremdem Unglück und über der Freude, die Toch⸗ 
ter eines ſolchen Vaters zu ſeyn. Der Alte war nicht minder 
erfreut, ſo edle Geſinnungen und eine ſo ruhige Faſſung bey 
Adelen zu finden. So viele Stärke und Selbſtverläugnung 
hatte er ihr nicht zugetraut. Er bereute jetzt nichts mehr, und 
überließ ſich bereits der angenehmen Vorſtellung, wie fie künf⸗ 
tig ihre Lebensweiſe einrichten, und vielleicht in dürftigen Um⸗ 
ſtänden eines reineren und dauerhafteren Glückes, als bisher, 
genießen würden. 

Vater und Tochter waren mit Entwürfen ſolcher Art be⸗ 
ſchäftiget, als man ihnen meldete, daß die Baronin St. Flour 
und deren Sohn angekommen wären, und ihre Aufwartung zu 
machen wünſchten. Ein fo unwillkommener Beſuch war in die⸗ 
ſem Augenblicke doppelt ungelegen. Adele wollte ſich entfernen; 
aber Frau von St. Flour flog in das Zimmer, bevor ſie es 
verlaſſen konnte. Die Baronin überhäufte Adelen mit Liebko⸗ 
ſungen; ihr Sohn Victor war die Galanterie und Artigkeit ſelbſt: 
aber es zeigte ſich bald, daß Beyde von gewiſſen Vorfällen unter⸗ 
richtet, und nicht frey von mancherley Beſorgniſſen ſeyen. Es ward 
des jungen fremden Officiers gedacht, deſſen ſich Hr. Durand ſo 
großmüthig angenommen. Was noch mehr aufftel: — Frau von 
St. Flour ſprach ganz unverhohlen von dem unerwarteten Er— 
ſcheinen des Chevaliers von Sorville, eines jungen Abentheu— 
rers, wie fie ſich ausdrückte, der von einer gewiſſen Partey 
unterſtützt würde, und gegen deſſen allfällige Anſprüche die 
Familien St. Flour und Durand Urſache hätten, gemeinſchaft⸗ 
lich auf ihrer Huth zu ſeyn. Durand wurde aufmerkſam; er 


58 


fragte, ob man den Chevalier in Paris geſehen, welche Art 
von Mann er ſey. Auch Adele that einige Fragen, die ſich 
auf den Chevalier bezogen; fie hatte im Stillen einem Gedan- 
ken Raum gegeben, über deſſen Wahrſcheinlichkeit ſie irgend 
eine Veſtätigung zu erhalten gewünſcht hätte. Einige zufällige 
Aeußerungen Fedor's, ſein Alter, ſeine frühe Verwaiſung, 
fein zweifelhaftes Vaterland, gaben ihr Anlaß zu Verglei⸗ 
chungen; ihre Einbildungskraft trug den Antheil, den fie an 
Sorville's unglücklichem Schickſale nahm, unvermerkt auf die 
Perſon ihres Geliebten über, und ſo drang ſich ihr die Ver— 
muthung auf, Fedor könne wohl ſelbſt der junge Sorville ſeyn. 
Doch die Verſicherung der Baronin, der Chevalier befinde ſich 
ſeit vierzehn Tagen in Paris, wo er mit Intriguen aller Art 
beſchäftigt ſey, um ſeinen Anſprüchen auf die ehemahligen Be⸗ 
ſitzungen ſeines Vaters Eingang und Gewicht zu verſchaffen, 
machten Adelens Vermuthungen ein ſchnelles Ende. Zum Ueber⸗ 
fluß entwarf Victor noch ein Bild von dem Ausſehen und Bes 
nehmen des Chevaliers, das nicht widriger, und dem edlen Aeu⸗ 
Gern ihres Fedors nicht unähnlicher ſeyn konnte. — Auf Herrn 
Durand ſchienen indeß dieſe Nachrichten und Schilderungen 
nicht den Eindruck zu machen, welchen die Politik der Baro⸗ 
nin und des jungen Herrn von St. Flour ſich davon verfpros 
chen hatte. Er bezeigte vielmehr eine höchſt unbefangene Theil⸗ 
nahme an dem Schickſale und der von ihnen beſtätigten Zu⸗ 
rückkunft des jungen Sorville, und erſchreckte fie ganz außer: 
ordentlich durch die unerwartete Erklärung: daß, wenn der 
Sohn des Marquis von Sorville irgend einen gerechten Unz 
ſpruch auf ſeine gegenwärtigen Beſitzungen habe, er demſelben 
nicht das geringſte Hinderniß in den Weg legen werde. 


39 


Einige andere Aeußerungen Durand's, welche ſich auf den 
ehemahligen Heirathsplan feiner Frau bezogen, ſchienen der 
Baronin und ihrem Sohne noch mehr zu mißfallen. Er hatte 
es kein Hehl, daß er jenen Plan nie gut geheißen habe, und 
daß auch die Neigung ſeiner Tochter ganz und gar nicht damit 
übereinſtimme. In den jetzigen Umſtänden, ſetzte er hinzu, 
werde der gnädigen Frau Baronin und ihrer Familie dieſes 
Geſtändniß ſehr gleichgültig ſeyn; denn es fen höchſt wahr— 
ſcheinlich, daß die rothen Wangen ſeiner Tochter den beſten 
Theil ihrer Mitgift ausmachen würden. — Frau von St. Flour 
ſtellte ſich, als ob ſie dieſe Scherzhaftigkeit ihres guten Herrn 
Nachbars ungemein ergötzte, gab jedoch ihrem Sohne, der 
noch ganz verwundert da ſaß, einen Wink, aufzubrechen; dann 
empfahl ſie ſich dem ehrlichen Herrn Durand und ſeiner ſchö— 
nen Tochter, die, wie fie ſagte, auch in einem Bauernjäck⸗ 
chen, auf die beſte Parthie in der ehrſamen Bottcherzunft 
der Vorſtadt St. Martin alle Anſprüche habe. — Durand 
lachte herzlich, als er mit ſeiner Tochter allein war, über den 
witzigen Abſchied ſeiner vornehmen Frau Nachbarin. »Siehſt 
du, Kind!« ſagte er, »ſo leichten Kaufes ſind wir dieſer ver— 
haßten Bewerbung los geworden. Es gibt kein beſſeres Mit- 
tel, als die Armuth, um ſich von der Geſellſchaft der Narren 
und der Taugenichtfe frey zu machen. « 

Der Tag verging inzwiſchen, und es ward Nacht, ohne 
daß Fedor zurück kam. Auch der folgende Tag ging vorüber, 
und man wußte in Durands Schloſſe nicht, wo der junge 
Mann geblieben. Adele wurde ſichtbar unruhig; ſelbſt ihr Va—⸗ 
ter konnte den mehr als gewöhnlichen Ernſt ſeiner Stirn 
nicht zur Heiterkeit zwingen. Als der dritte Abend herannahte, 


60 


ohne daß Fedor zurückgekehrt, oder auch nur eine Nachricht 
von ihm gekommen war, vermochte Adele ihre Thränen nicht 
mehr vor ihrem Vater zu verbergen. Der gute alte Mann, 
der neben ſeiner Tochter ſaß, und ſie eine Zeitlang beobachtet 
hatte, zog ſie an ſich, und ſchloß ſie mit großer Zärtlichkeit 
in feine Arme. „Ich kann nicht glauben, mein Kind,« ſagte 
er mit gerührter Stimme, » daſi wir uns in ihm getäuſcht 
haben, daß auch er uns verläßt, weil du arm, und ich ein 
ehrlicher Mann bin. Aber wenn es wahr wäre, was deine 
Thränen vorahnend zu bedeuten ſcheinen; wenn dich Fedor 
verließe, nachdem, was du ihm, was ich ihm ſeyn ſollte, — 
nach dem Vertrauen, das ich ihm, der ſelbſt arm und eine 
Waiſe war, im Glück und Unglück bewies: — dann Adele 
beſchwör' ich dich, dann zeige, daß du meine Tochter und ein 
ſtarkes Mädchen biſt! Du haſt dann an ihm nicht mehr verlo⸗ 
ren, als an dem elenden Staub, den unſre Füße treten, um 
deſſentwillen er und alle Andern uns allein geſchmeichelt, 
und dem wir mit Verachtung den Rücken kehren, weil eine 
ganze Welt ſolchen Staubes und ſolcher Menſchen nicht werth 
iſt, daß eine großmüthige Seele ſich auch nur einen Augenblick 
um ihren Verluſt befümmert !« — Adele weinte heftig, aber 
ſtill an der Bruft ihres Vaters. Dann ſtand fie auf, indem 
ſie ſeine Hand an ihre Lippen drückte, und verließ, ihm ſchmerz⸗ 
lich lächelnd zunickend, das 1 m ſich in ihr Schlaf⸗ 
gemach zurückzuziehen. 

Am nächſten Morgen brachte ein reitender Bothe ein Schrei— 
ben von Durand's Sachwalter, worin ihm dieſer die unver— 
zügliche Ankunft eines Bevollmächtigten des Chevaliers von 
Sorville meldete. Wenige Stunden nachher traf dieſer Bevoll⸗ 


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mächtigte, von einem Advocaten begleitet, wirklich ein. Es 
war ein Greis von ſchlichtem, faſt ärmlichen Anſehen, aus 
deſſen kleinen, grauen Augen eine ſeltſame Miſchung von Trüb⸗ 
ſinn und Mißtrauen hervorblickte. Der Advocat legte die Voll⸗ 
macht vor, auf ſeinen Begleiter lautend, nebſt einem gericht⸗ 
lichen Zeugniß über die Aechtheit der Handſchrift und über 
die Identität der Perſon des Chevaliers von Sorville, eins 
zigen Sohnes des verſtorbenen Marquis dieſes Nahmens, als 
Ausſtellers der Vollmacht. Sie wären gekommen, ſagte der 
Advocat, die wichtige Nachricht zu vernehmen, welche Hr. Du⸗ 
rand dem Erben des Marquis mitzutheilen hätte, und dar⸗ 
über eine rechtskräftige Urkunde abzufaſſen. — »Und wo iſt der 
Chevalier ſelbſt?« fragte Durand. »Was ich ihm zu eröffnen 
habe, iſt bedeutend genug, um die Mühe ſeiner perſönlichen 
Anweſenheit zu lohnen. « — »Er wird hier erſcheinen,« er⸗ 
wiederte der Advocat, » fobald wir ihm über den Erfolg unfes 
rer Sendung werden Auskunft ertheilt haben.« — »Sie wür⸗ 
den ihn doch nicht erkennen, Herr Etienne Durand!« ſagte 
der Greis, »da Sie mich, den alten Diener ſeines Vaters, 
nicht erkannt haben. « — „In der That, « antwortete Dur 
rand, indem er den Alten aufmerkſam betrachtete, » ich fange 
an, mich Eurer Geſichtszüge zu erinnern, ehrlicher Jerome! 
denn fo, wenn ich nicht irre, nanntet Ihr Euch in einem Briefe, 
den ich vor vielen Jahren von Euch erhielt.“ — »Claude J e⸗ 
rome Lagrange, wie die Vollmacht befagt,« erwiederte der 
Alte. — » Run wohl, Herr Jerome Lagrange,« fuhr Durand 
fort, „ich will Euch nicht verhehlen, was ich dem Sohne 
des Marquis von Sorville mitzutheilen habe, obſchon ich Euch 
mit Eurer eigenen Handſchrift beweiſen könnte, daß dieſer 


62 


Sohn ſeit zwanzig Jahren todt und begraben iſt. Sagt mir 
indeſſen doch, Herr Lagrange, was Euch bewog, mir damahls ein 
ſolches Mährchen aufzuheften, wodurch Ihr allein Schuld 
war't, daß Eurem Herrn fo lange entzogen blieb, was fein 
iſt, und deſſen er dadurch leicht auf immer hätte beraubt wer⸗ 
den können ?« — »Hr. Durand,“ erwiederte Jerome nach eis 
nigem Beſinnen, » ich müßte lügen, wie ich damahls log, 
wenn ich nicht geſtände, daß ich zu jener Zeit weit ſchlimmer 
von Ihnen dachte, als ich ſeit kurzem von Ihnen zu denken 
Urſache zu haben glaube. Ich hielt Sie, mit einem Wort, für 
einen ſo argen Jakobiner, als irgend einer in Frankreich zu 
finden war, und würde das Leben eines Sorville vor Ihnen 
und Ihresgleichen nirgends in der Welt für ſicher gehalten 
haben, wenn ich nicht jede Spur feines Daſeyns Ihren Nach— 
forſchungen entrückt hätte. « — Durand ſah den Alten, in 
deſſen Geſichtszügen ſich auch jetzt noch eine Art von Scheu 
und Argwohn abmahlte, lange mit einem mitleidigen Blicke an, 
und ſagte, indem er ihn bey der Hand faßte: „Nun denn, 
Lagrange, hört meine und Eures ehemahligen Herrn Geſchichte, 
erfahrt, wozu ich entſchloſſen bin, und längſt entſchloſſen war, 
und urtheilt dann, ob ich der Mann bin, für den Ihr mich 
gehalten habt? 

Als Jerome gehört hatte, in welchem Verhältniſſe Durand 
mit ſeinem unglücklichen Herrn geſtanden, und was er für deſ— 
fen Sohn zu thun Willens ſey, brach er nach einem langen, 
nur durch Seufzer und innere Erſchütterungen unterbrochenen 
Stillſchweigen, in ſeltſame Verwünſchungen gegen ſich ſelbſt aus, 
bath abwechſelnd Durand und ſeinen abweſenden jungen Herrn 
um Verzeihung, und endigte damit, ſeinen Begleiter zu erſu— 


63 


chen, er möchte vor Allem zu Protocol nehmen, daß er (Claus 
de Jerome Lagrange) ein boshafter Narr, und Herr Etienne 
Durand der rechtſchaffenſte Mann in Frankreich ſey. Von der 
Ausſage und Erklärung Durands wollte er nichts zu Papier 
bringen laſſen; der gute Wille ſeines Nachbars Etienne, 
ſagte er, ſey eine beſſere Bürgſchaft, als alle Urkunden und 
Verbriefungen der vier Facultäten zuſammen genommen. Dann 
griff er nach Hut und Stock, und trieb ſeinen Begleiter an, 
ihm zu folgen. Er müſſe feinem Herrn entgegen, rief er, und 
ihm erzählen, was hier vorgegangen ſey. Morgen würden ſie 
Alle wieder kommen, und von Herrn Durand hören, wie er 
es mit der Uebergabe der Güter halten wolle. Damit rannte 
er fort, und warf ſich nebſt ſeinem Begleiter in den Wagen, 
der ſie hergebracht hatte, und nun ſchnell hinwegfuhr. 
Durand, welchen Jerome's wunderliches Betragen mehr 
als alles Andere überzeugte, daß der Sohn des Marquis von 
Soroille wirklich am Leben ſey, und ſchon am folgenden Tage 
bey ihm eintreffen würde, machte nun im Stillen Anſtalten 
zu der bevorſtehenden Uebergabe. Er dachte mit Adelen für's 
Erſte zu einem ſeiner Pächter zu ziehen, deſſen Haus in der 
Nähe des Schloſſes lag, und den er wegen ſeines Fleißes und 
ſeiner Redlichkeit, vor Andern ſtets als ſeinen Freund betrachtet 
hatte. Was feine Tochter von ihren Sachen mit ſich nehmen 
wollte, überließ er ihrer Wahl, er ſelbſt packte nur ein Paar 
Sonntagsröcke nebſt einiger Wäſche und ſeiner alten Uniform 
von der Nationalgarde zuſammen, auch vergaß er fein altes Bött⸗ 
cherwamms ſammt Kappe nicht, die er noch immer zum Andenken 
aufbewahrte. Uebrigens machte ein kleines Capital von einigen 
kauſend Franken, das Erſparniß von feinen früheren Gewerbe, 


64 


welches er ſtets abgeſondert von feinen großen Vermögen ge⸗ 
halten, die Grundlage aus, worauf er fein und feiner Toch⸗ 
ter beſcheidenes Glück in Zukunft zu bauen gedachte, oder mo: 
mit er der Letzteren, im ſchlimmſten Falle, einen Nothpfennig 
zu hinterlaſſen hoffte. Adele, die das Vorhaben ihres Vaters 
kannte, und ihn dabey ſo ruhig beſchäftigt ſah, folgte mecha⸗ 
niſch ſeinem Beyſpiele; aber in ihrem Herzen war nichts von 
ſeiner rüſtigen Freudigkeit. Sie ſchien nichts zu hoffen, und 
nichts zu wünſchen; eine ſtille, tiefe Trauer war über ihr blaſ⸗ 
es Geſicht verbreitet, und während fie einige ihrer einfachften 
Kleider, wenige Nücher und Muſicalien in einen kleinen Kof⸗ 
fer zuſammen legte, ward ſie einige Mahle ſchwach und mußte 
ſich ſetzen, um ſich zu erhohlen. Von Fedor'n ſprach ſie und ihr 
Vater nicht mehr; aber dieſer, der den Zuſtand ſeiner Tochter 
ſah, war in ſeinem Innerſten verletzt und erſchüttert. Zum 
erſten Mahle in feinem Leben empfand er fein Gemüth von Bit⸗ 
terkeit gegen die Menſchen erfüllt, und noch weniger der An⸗ 
blick der Gegenwart, als die Betrachtung der Zukunft war es, 
was ihn bekümmerte. Der Gedanke, daß er Adelen, dieſes lie⸗ 
benswürdige, nur allzu ſchwache, gefühlvolle Kind, in einer 
Welt voll Falſchheit, Undank und Niedrigkeit bald allein wür— 
de zurücklaſſen müſſen, ohne Schutz und Führer, ſo wenig 
ausgerüſtet zu einem Kampfe mit ſolchen Widerwärtigkeiten, — 
dieſer Gedanke ſchlug den Muth des ſonſt ſo ſtarken Mannes 
nieder, und er fühlte ſich in dieſem Augenblicke wahrhaft un⸗ 
glücklich. 

Während Vater und Tochter, von ſolchen Empfindungen 
erfüllt, in dem ſchon dunkelnden Zimmer ſtill und traurig nes 
ben einander ſaßen, ward es laut im Hofe des Schloſſes. Ein 


65 


Wagen hielt beym Aufgange, und Jerome's Stimme ließ ſich 
guf der Treppe vernehmen. Gleich darauf ſtürzte er mit dem 
Freudenrufe in die Thür: »Er iſt da! er iſt da! Mein Herr 
kommt, ehrlicher Durand! « — Adele ſtand ſchnell auf, um 
ſich zu entfernen, und Durand trat mißmuthig den Ankommen— 
den entgegen, indem er fagte: » Mich däucht, es wäre auch 
morgen noch Zeit zu dem Geſchäfte geweſen, das Euch her 
führt, und Euer Herr hätte nicht nöthig gehabt, noch ſpät 
am Abend die Ruhe meines kranken Kindes zu ſtören.“ — 
„ Adele! « rief eine Stimme, und ein junger Mann in frans 
zöſiſcher Uniform drängte ſich durch ſeine Begleiter, und 
ſtürzte zu Adelens Füßen, die, ihn erkennend, ohnmächtig 
in ſeine Arme ſank. Es war Fedor, von dem fremden Gene— 
ral und deſſen Adjutanten begleitet. — »Was iſt das? « rief 
Durand, vor Erſtaunen außer ſich. Doch bald errieth er den 
Zuſammenhang, und die innigſte Freude trat an die Stelle des 
Erſtaͤunens. — Adele ſchlug die Augen auf; ſie richtete fie, 
erſt zweifelnd, dann mit dem ſtillen Entzücken der Befriedi— 
gung und Zuverſicht auf ihren Geliebten und auf ihren Va— 
ter, der ſeine Tochter aus Fedor's Armen empfing und mit 
ſprachloſer Wonne an ſein Herz drückte. — Der General hat— 
te ſich inzwiſchen den Freudetrunkenen genähert. „Ich habe 
ihn Euch entführt, « ſagte er zu Durand und zu Adelen, » und 
ſo lange zurück gehalten, um zuvor Alles auszugleichen, was 
zu einem vollſtändigen und reinen Verſtändniß zwiſchen fo ſel— 
tenen Menſchen nöthig zu ſeyn ſchien. Fedor iſt ſeinem Va— 
terlande wieder gegeben, und in ſeiner Geburt und ſeinen 
Rechten anerkannt; aber er will nur der Freundſchaft des groß 
müthigen Durand verdanken, was deſſen ſtrenge Rechtlichkeit 
& 


66 


dem Fremden als eine Schuld zu entrichten gedachte. Es war 
mein Gedanke, Herr Durand, Ihnen dieſen wunderlichen 
Alten zu ſenden, ehe ſich Ihnen Sorville ſelbſt zu erkennen 
gab. Daß Ihr Edelmuth auch die Vorurtheile dieſes guther— 
zigen Menſchenfeindes überwand, iſt nicht der geringſte Tri- 
umph, den Ihr Character über uns Alle davon trug. « 
Durand ſtand in der Mitte des kleinen Kreiſes, der ihn 
umgab, bald den Einen, bald den Andern mit wohlgefälligen 
Slicken betrachtend. »So iſt es wohl auch die mißtrauiſche 
Vorſicht dieſes ehrlichen Verfälſchers,“ fagte er, mit einem 
lächelnden Blick auf Jerome, » die unſerm Freunde Sorville 
den Nahmen Fedor gab, um ihn mir und Meinesgleichen un⸗ 
kenntlich zu machen? — »Nein,“ erwiederte Sorville; »dieſen 
Nahmen legte ich mir ſelbſt bey, als ich mit der ruſſiſchen 
Armee nach Frankreich zog; darum rief Jerome, der davon 
nichts wußte, mich unter meinem Geſchlechtsnahmen in den 
Zeitungen auf. Was übrigens auch Sie, Vater Durand, 
und ich ſelbſt dem Kopfe des ehrlichen Jerome zu verzeihen 
haben mögen, ſeinem Herzen und ſeiner unermüdlichen Treue 
danke ich meine Erhaltung. Er friſtete mit ſeinem kargen Er⸗ 
werb meine hülfloſe Kindheit, und war mein Erzieher, bis es 
ihm gelang, mich in eine Militärſchule Rußlands zu brin— 
gen. « — » That er das? «rief Durand. »Nun denn, braver 
Jerome, ſo laßt uns ehrlich theilen! Die größere Hälfte des 
Lobes, das mir ſo reichlich geſpendet wird, gebührt Euch, 
alter Freund; denn Ihr habt Eurem Herrn Leben, Geſund— 
heit und gute Sitten erhalten, ich nur ein wenig Geld und 
einige Hufen Landes.« — »Und das,“ fiel Sorville ein, indem 
er Adelens Handergriff, » was mir theurer als das Leben und 


67 


alle Reichthümer iſt, — das Herz und die Hand dieſes Engels. 
Ihren Segen, mein zweyter Vater! « — »Ich ſegne Euch, 
meine Kinder! ſagte Durand mit ernſter Rührung: »Seyd 
rechtſchaffen; — für das Uebrige laßt Gott forgen !« 


C. A. Weſt. 


E 2 


68 


Der Wanderer. 


Ein Wandrer kam am Abend 
Nach heißem Tageslauf 
Zum Thal, das nahm ihn labend 

Mit Luft und Schatten auf. 


Gleich einem blauen Bande 

Ein Feld hindurch ſich wand, 
An deſſen tieferm Rande 

Hoch eine Tanne ſtand. 


Der Wandrer legt' am Fuße 
Des Baums ſich müde hin, 

Der, wie mit leiſem Gruße, 
Ihm zuzuflüſtern ſchien. 


Der Lein, voll blauer Blüthen, 
Schön, wie Vergißmeinnicht, 

Schien ihm Willkomm zu biethen, 
Und küßte ſein Geſicht. 


»Danf Blumen, dank, o Tanne! 
Was zog zu euch mich an? 

Was ſeyd ihr mir, dem Manne, 
Dem fremden, zugethan ? 


» Bin dir geweiht zum Bette, « 
Verſetzt die Tanne nun, 

»Du ſollſt auf meinem Brette 
Den Todtenſchlummer ruhn. « 


»Und wir,“ ſpricht nun der Linnen, 
»Sind auch verwandt genug: 
Aus meinen Fäden ſpinnen 
Wird ſich dein Leichentuch.“ 


Er ſtaunt und ruft: » Noch ſcheid' ich, 
Mein letztes Kleid und Haus, 
Von euch: noch allzufreudig 
Sieht uns das Leben aus. 


70 


Ihr müßt erſt traurig fallen, 
Entwurzelt, durch das Beil; 

Mir wird auf meinem Wallen 
Auch manch ein Schmerz zu Theil 


Gern dann zur Ruhſtatt gehen 


Wir aus der rauhen Welt. 
Auf friedlich Wiederſehen, 
Bis unſer Staub zerfällt!“ 


Thereſe v. Artner. 


71 


nm mmm 63. 


O wärſt du meinem Blick nie aufgegangen, 

Du ſchöner Stern an einer höhern Welt! 

Nie hätte Flammendrang dieß Herz geſchwellt, 
Nach deinem Anſchaun ewig zu verlangen. 


Denn wie dein liebes Bild mein Aug' empfangen, 
Sah ich, von ungewohntem Licht erhellt, 
In's Leben meinen ſchönſten Traum geſtellt, 

Doch darf ich nur im Traume dich umfangen. 


Was deine Liebe ſchuf, Pygmalion! 
Gab Liebe dir, o Seliger! zum Lohn'. 
Ich darf nur wagen in beſcheidner Ferne 


Empor zu ſchaun zu meinem hellen Sterne. 
So leite mich bis an den Strand, o Licht! 
Wo einſt der ſtummen Sehnſucht Woge bricht. 


R. Walther. 


m 


In das Stammbuch eines Freundes. 


In der Erfahrung heißem Sonnenbrande, 
Nach manchem Sturm, zum Manne früh gereift, 
Sah ich von meinem Leben bald geſtreift 

Des frohen Wahnes bunte Duftgewande. 


Früh welkten mir der Liebe Blumenbande, 
Von keiner Hoffnung mildem Thau beträuft; 
Doch wie ich auch in Wünſchen ausgeſchweift, 
Erkenntniß trieb mein Schiff zum ſichern Strande. 


Geſchweiget ſchläft in mir nun blinde Neigung; 
Im klaren Lichte ſtiller Ueberzeugung 
Seh' ich, was war, was iſt, und was nur ſcheint. 


Das Liebſte falle weg aus meinem Leben, 
Gern duld' ich Schweres, will nach Höherm ſtreben, 
Nur ein Errungnes bleibe treu, — der Freund. 


R. Walther. 


73 


1. 


Au ihr Sterne 
Aus der Ferne, 
Leuchtet meiner Liebe zu; 
All ihr Quellen, 
Mit den hellen 
Wellen rieſelt ſanfte Ruh! 


Abendgluthen 
Strahlt aus Fluthen, 
Wie der Liebe Blick ſo traut; 
Wipfel rauſchet, 
Wenn er lauſchet 
Zarter Liebe Seelenlaut! 


Laßt ſie denken, 
Süß ſich ſenken 
In das Herz, das ihn umſchwebtz 
Einſam Sinnen, 
Süßes Minnen, 
Da, wo Seel' in Seele lebt. 


Herbes Trennen, 
Wer kann nennen 
Deine Qualen, deinen Schmerz! 
Doch auch ferne 
Schließen Sterne 
Treuer Liebe Herz an Herz! 


— 


2. 


Ich ſuch die Ein ſamkeit 
Im tiefſten Schattenhain, 
O du, mein ſüßes Leid, 
Um ganz bey dir zu ſeyn! 


Wie biſt du mir ſo fern, 
So fern, und doch ſo nah! 
So ſteht der ſchönſte Stern 
Am hohen Himmel da. 


In heißen Thränen mein, 
Im tiefſten Schmerz mein eigen, 
Im füfien Liede dein, 
Mein Treuwort ſagt mein Schweigen. 


O möcht' ich ganz vergehn 
In dieſen ſtillen Leiden, 
Dir feſt in's Auge ſehn, 
An deinem Blick verſcheiden! 


75 
8. 


Was mir aus deinem Auge lacht, 
Das ſtrahlt fo felig durch die Nacht; 
Die Sterne leuchten auf mich hin, 
Als wüßten ſie, wie mir zu Sinn. 


Ich hör der Wipfel Melodie, 
Wohl inniglich verſteh' ich ſie; 
Ihr Rauſchen wiegt die Seele ein, 
Wie Worte von den Lippen dein. 


Mein banges Glück, mein Wohl und Weh! 
Mein Alles, wann ich dich nun ſeh, 
Und fühl' im Herzen, wie du mein, 
O ſprich, wie wird das Scheiden ſeyn? 


4. 

Ein Klang, der tief im Buſen lebt, 
Ein Blick, der durch die Seele bebt, 
Das iſt mein Weh und meine Luſt, 
Das bleibt auf ewig mir bewußt. 


Es gibt ein ſtilles Seelenflehn, 
Das kann die Liebe nur verſtehn, 
Wenn Aug' im Auge ſelig ruht, 
Dann wächſt der hohen Liebe Muth. 


76 


5. 


Lebt wohl, ihr Blumen nun, 
Lebt wohl, und grüßt den Lieben! 
Wohl euch! ihr dürfet ruhn, 
Werd't nicht hinweggetrieben. — 
O, würd' es mir auch ſo, 

Wohl würd' ich einmahl froh! 


Zum Abſchied netzt euch warm 
Ein Strom von bangen Thr inen; 
Er kennt nicht meinen Harm, 
Weiß nicht mein ban ges Sehnen, 
Und, ob das Herz mir bricht, 
Mein Schweigen brech' ich nicht! 


Thut mit geſchloßnem Mund, 
Mit ſanften, feuchten Blicken, 
Ihm all das Sehnen kund; 

Die Wehmuth, das Entzücken, 
Das ſtets bey ſeinem Bild 
Durch meinen Buſen quillt. 


Sagt ihm: von nun an ſey 
Mein Loos nur Harm und Sehnen, 
Doch fühl’ ich noch daben 
Beſeligt mich in Thränen; 

Mein Leid mir mehr gefällt, 
Denn Alles auf der Welt! 


Sagt ihm: dieß Band, fo traut, 
Verſöhnt mich mit dem Leben; 
Mein Herz, von ihm durchſchaut, 
Wird nicht mehr einſam beben; 
Löſcht doch in Sturm und Braus 
Der Liebe Stern nicht aus! 


Wie ſchwer das Leben ſey, 
Auch fern will ich es tragen; 
Einſt macht der Tod mich frey, 
Will vor dem Tod nicht zagen. 
Der Liebe Morgenroth 
Geht auf im ſüßen Tod! 


6. 


Dort, wo ſanfter wehn die Lüfte, 
Wo der goldnen Primel Düfte 
Wehen unter leichtem Schnee; 

Wo durch kühne Felſenbogen 
Mächtiger die Fluthen wogen, 
Möcht' ich bergen all mein Weh! 


Könnt' ich je mit dir die Auen, 
Die ſo wonnig blühen, ſchauen, 
Wo der Frühling immer blüht; 

Wo der Nachtigallen Klagen 
Alle Sehnſuchtwonnen ſagen, 
Die mein trunknes Herz durchglüht! 


* 


Eitler Wünſche bunt Gewimmel! 
Iſt denn Erde mehr als Himmel, 
Der in deinem Auge thront? 

Stille, ſüße Blicke ſagen 
Mehr, als Nachtigallenklagen; 
Eden blüht, wo Liebe wohnt! 


Helmine v. Chezy. 


79 


An die Quelle in Öaftein. 
Am 9. May 1821. 


RE grüße dich, du wunderbare Quelle! 
Doch nah’ ich dir mit bangen Zweifeln nur: 
Heilſt du die Schmerzen auch der kranken Seele, 
Tilgt deine Fluth des Grames tiefe Spur? 


Gibſt du dem Adler feine Flügel wieder, 

Wenn ſie der Blitz im grauſen Sturm verſengt? 
Verſüßeſt du des Schwanes Sterbelieder, 

Wenn in die Töne ſich dein Rauſchen mengt? 


Wenn ißhre friſchen Farben ſchon verglühen, 

Gibſt du den Blumen neuen, ſchönen Glanz: 
Doch kann in deinen Wellen wieder blühen 

Der letzten Hoffnung früh verwelkter Kranz? 


Caroline Freyin v. Vogelſang. 


Sehnſucht nach Thränen⸗ 


Jah kann und kann nicht weinen 
In allem meinen Schmerz, 

Und die mich ſehen, meinen, 
Beruhigt ſey das Herz, 


Und ſchelten unempfindlich 
Die treue, fromme Bruſt, 
Die ihres Jammers ſtündlich 
Sich herber wird bewußt. 


Ach, weil der Andern Augen 
In Schmerzen übergehn, 
Muß ich ſie in mich ſaugen, 
Und Keiner will es ſehn; 


Und Keiner will verſtehen, 

Wie leicht ein Herz zerbricht, 
Wird ihm in ſeinen Wehen 

Der Thräne Lindrung nicht! 


Warum mußt' Eins mir werden, 
Das warm und innig fühlt, 

Und rings auf weiter Erden, 
Rings keinen Troſt erzielt? 


In dürres Land geſenket, 

Ein ſchwacher Zweig, geknickt, 
Den keine Quelle tränket, 

Kein friſcher Thau erquickt! — 


Hätt' ich erſt Thränen funden, 
War’ Alles, Alles gut. — 

So kommt, und kühlt die Wunden, 
Bevor die Erd' es thut! 


Carl Förſter. 


81 


e ee ak a . 


Lichte dich im hellen Abendrothe, 
Mein entzückter Geiſt! 
Iſt es nicht ein heitrer ſtiller Bothe, 
Der dir längern Frieden einſt verheißt? 


Labe dich im hellen Abendſtrahle, 
Sauge Himmelsgluth, 
Dir des Lebens dunkle Nebelthale 
Zu erhellen, durch zu gehn mit Muth! 


R. Walther. 


83 


ei tif ea de n. 


Sey immerhin das Leben vielgeſtaltig, 
Du bleib' in dir geſammelt und gehaltig. 
Die Weisheit iſt ſchlicht, nur hohler Wahn 
Zieht gerne alle Masken an; 

Strebt ſich in jede Form zu fügen, 

Sich allem Neuen ſchnell anzuſchmiegen, 
Er gackt, ein ſelbſtgefälliger Fant, * 
Und iſt dem Klugen ein Comödiant; 

Zieht Wahrheit die bunten Lappen ihm aus, 
Nackt ſchleicht er aus dem Schauſpielhaus. 
Des Menſchen innerer eigner Gehalt 

Gibt ſeinem Leben auch ſeine Geſtalt. 


N. Walt ber. 


F 2 


jr 


Devife 


eines roſenfarbenen Kalenders, als Sylveſtergabe 1822. 


— 


Ein roſenfarbnes neues Jahr, 
Das bring' ich dir in nuce dar! 
Ganz jugendlich noch, und ſo neu, 
Als wär's geſchält erſt aus dem Ey! 
Der Frühling noch unaufgeblüht, 
Der Sommer noch unangeglüht, 
Der Herbſt noch ohne Traub' und Moſt, 
Doch auch der Winter ohne Froſt! 


Nun, wenn’s nur erſt noch! größer wär? 
Drum nimm's nur aus der Wiege her, 
Und wart’ es auf den Armen ſtill, 
So lang es nicht hinunter will! 
Dann hohlt es dir die Veilchen ſchön, 
Die Roſen, die am Wege ſtehn, 
Und fängt die Nachtigallen ein 
Und bringt ſie dir im Mondenſchein. 


Im Sommer wird's nun größer ſchon. 
Da zieht's — ein junger Muſenſohn — 
Mit dir felbander Hand in Hand 
Hinein, hinaus in alles Land. 
Die Saaten ſind nun alle da, 
Die fernen ſchönen Berge nah; 
Die Herrlichkeit der Erde liegt 
An ſeiner Bruſt, wie angeſchmiegt. 


Da wird es ernſter, ſinnt und ſucht 
Nach Trauben und nach reifer Frucht; 
. Und das auch wird ihm zugewandt 
Von oben aus dem Sonnenland, 

Und wie es nun die Trauben bringt, 
Die Ranken um die Berge ſchlingt, 
So iſt es, eh' es ſich beſann, 

Und eh' man ſich's verſieht, ein Mann. 


Doch dreymahl glänzt der Mondenſchein 
Nur noch in's Leben ihm hinein: 
Da wird's ihm kühler um die Bruſt, 
Da wird's ihm nach und nach bewußt, 
Daß ihn auf Sanct Sylveſtertag 
Schlag Zwölf Uhr rühren muß der Schlag; 
Doch gibt er ſich geduldig drein! — 
Ich möchte kein Kalender ſeyn! 


Fr. Kuhn. 


Die Un e ef a hren e 


» Sehr geſchmackvoll! allerliebſt! ſo gut iſt mir noch kein 
Häubchen geſtanden,« ſagte die Räthin P***, indem fie, 
vor einem großen Spiegel ſtehend, und einen kleinen in der 
Hand haltend, ihren Kopfputz von allen Seiten beſah. »Wahr⸗ 
haftig! ich bin mit der neuen Erzieherin unſerer Töchter voll— 
kommen zufrieden. Sie beträgt ſich in Geſellſchaft fehe anſtän⸗ 
dig, kleidet ſich gut mit wenig Geld, ſpricht fertig ihre drey 
Sprachen, iſt überhaupt, trotz einem Profeſſor, gelehrt, und 
macht mir alle Moden nach dem Pariſer Journal. « — »Wenn 
das Verhältniß nur halb ſo gut für ſie paßte, als ſie für das 
Verhältniß!“ ſagte kopfſchüttelnd der Rath. — »Und worüber 
hätte fie denn zu klagen ?« fragte die Räthin empfindlich. — 
»Das weiß ich nicht fo genau, « antwortete ihr Mann; » doch 
dem Mädchen iſt nicht leicht zu Muthe.« — » Einbildung! Je⸗ 
dem iſt leicht zu Muthe, der aus einem armen Hauſe in ein 
reiches kömmt.« — Der Bediente meldete: die Gäſte, welche 
zur Mittagstafel erwartet wurden, ſeyen eben gekommen. Der 
Rath führte feine Frau in das Empfangzimmer: fie machte 
das Bewußtſeyn der wohlgelungenen Toilette, ihn die ehrli⸗ 
chen Geſichter ein Paar alter Freunde bald wieder heiter. Die 


87 


Gruppe, welche Cordelia, die eben erwähnte Erzieherin, mit 
den Töchtern des Hauſes bildete, verdiente in mehr als einer 
Hinſicht das Auge auf ſich zu ziehen. Schönheit des Wuchſes 
und der Züge war an den drey Geſtalten beynahe in gleichem 
Maße zu bewundern; doch ſuchte der Blick vergebens bey den 
zwey Kinderköpfen die Kindlichkeit; fie war vor der Zeit ent— 
wichen, und ſchien in die Wangengrübchen der Jungfrau ſich 
geflüchtet zu haben. 

Mit gemachter Haltung, in der Spannung der aufgeregten 
Eitelkeit, lauernd, erwartend ſaßen die Kinder da neben Cor— 
delien, die mit dem natürlich guten Anſtande, den ihr die in 
nere Haltung gab, ruhig unbefangen, ein argloſes Menſchenkind 
unter Menſchen, das Weſen der ihr anvertrauten Mädchen nicht 
begriff, noch begreifen konnte. Die Freundinnen der Frau vom 
Hauſe flüſterten einander zu, daß die Mädchen ihre Erzieherin 
bald überſehen würden; — wenn aber die Räthin eine ſolche Aeu⸗ 
ßerung vernahm, verſicherte fie, ihre Töchter hätten zwar beſon— 
dere Gaben von der Natur empfangen; doch ihre jetzige Erzie⸗ 
herin ſey ein vernünftiges, ja ein gelehrtes Frauenzimmer, 
und wiſſe ſogar den Mädchen zu imponiren. — Oft verglich 
der Rath ſtillſchweigend ſeine Töchter mit Cordelien, und ihn 
befiel dabey eine unausſprechlich wehmüthige Empfindung. 

Wenige Wochen waren ſeit Cordeliens Aufnahme in die— 
ſem Haufe verfloſſen: die Räthin ſaß übelgelaunt beym Früh 
ſtücke; denn fie hatte bey der geſtrigen Geſellſchaft mit ſchlech— 
tem Glück geſpielt. Sie hatte eben dem Stubenmädchen geklin— 
gelt, um fie über irgend eine Nachläſſigkeit auszuſchelten: nun 
ging die Thüre des Schlafzimmers auf, ihr Geſicht verfinſter 
te ſich zum Empfange der Schuldigen; aber es erheiterte ſich 


88 


plötzlich wieder; denn Cordelia war es, im weißen Morgens 
kleide, die hellbraunen Locken den ſchönſten Hals nur halb ver— 
bergend, die großen dunkelblauen Augen in Freude und Rüh⸗ 
rung ſchwimmend, die friſche Wange ſanft glühend, wie das 
Morgenroth. Sie brachte der Mutter zum Morgengruße ihr 
jüngſtes Kind, deſſen kleine Hände ſich, in des Mädchens Lo⸗ 
cken ſpielend, fo verſtrickt hatten, daß fie lächelnd den Kopf et⸗ 
was abwärts halten mußte, ihren Liebling in feiner Luft 
nicht zu ſtören. »Guten Tag, liebe Cordelia!« rief die 
Rathin fehr freundlich, und both ihr die Wange ſtatt der Hand, 
nach der fie kindlich langte: dann küßte fie zu wiederhohlten 
Mahlen das Kind, deſſen Schönheit ihr noch nie ſo aufgefallen 
war. »Ich komme mit einer recht großen Bitte, « ſagte das 
Mädchen. — »Es gibt nicht leicht Etwas, daß ich Ihnen in 
dieſer Stunde abſchlagen könnte,“ fprach die Räthin. — „» O, 
das wäre ſchön!« rief Cordelia; »ſo will ich es denn auf Ihre 
Güte hin wagen. Erlauben Sie mir, mit der alten Anna ei⸗ 
nen Tauſch zu treffen. « — „Wie verſtehn Sie das? « — 
»Laſſen Sie Anna bey Ihren Töchtern ſchlafen, den Tag über 
bey Ihnen ſitzen; und vertrauen Sie mir dieſen kleinen Engel 
an. « — »Das iſt wohl nur Scherz? « ſagte die Räthin. — 
» Nein! zu ſcherzen wär' ich wahrlich nicht geſtimmt; wohl 
aber mich innig zu freuen, wenn ich Gewährung fände. Sehn, 
Sie, das liebe ſchöne Kind iſt nicht gut verſorgt; Anna ſchläft 
zu feſt; fie hört es nicht weinen. « — »Sie irren ſich gewiß; 
Anna iſt ſehr brav.« — »Das läugne ich nicht; doch ich weiß, 
mich ließe die Sorge um das arme Würmchen nicht fo ſchla⸗ 
fen. «— „Aber, mein Kind, Ihr Deruf iſt es, Erzieherin zu 
ſeyn. « — » Und wäre das nicht der rechte Anfang ?« rief Cor⸗ 


80 


della mit Feuer. »Ach! wie würden das ſchöne Kind und ich 
einander lieb gewinnen, und was iſt da noch ſchwer?“ — 
» Zieben Sie denn meine Töchter nicht?« — »Ich bin ihnen 
gewiß recht gut; doch kann ich ihnen nicht nützlich ſeyn; denn 
fie find in mancher Hinſicht klüger, als ich, wiſſen Manches 
was ich nicht weiß, und was ich weiß, haben ſie wenig Luſt 
zu lernen. Zudem haben ſie ja ihre Lehrſtunden, wobey die al— 
te Anna eben ſo gut, als ich, ſitzen kann: auf die Promenade 
führe ich fie, fo oft Sie befehlen, und gewiß, «„ fagte fie, 
treuherzig die Hand auf die Bruſt legend, » ich bin fonft bey 
Ihnen ganz überftüſſig. — — Und, liebe gute Frau Räthin, 
Sie wiſſen gar nicht, wie traurig es dem Menſchen zu Muthe 
iſt, der nichts, ſo recht vom Herzen zu lieben hat, und auch 
nicht recht geliebt wird! Vertrauen Sie mir das Kind an, 
es wird unter meinen Händen zu Ihrer Freude wachſen und ge— 
deihen; ich fühle es, es will auch geliebt ſeyn. « — Cordelia 
drückte das Kind feſt an ihre bewegte Bruſt, große Thränen 
rollten über ihre Wangen herab, ihr Blick bath ſo rührend — 
— ſie war unwiderſtehlich ſchön. 

»Sie ſind ſehr exaltirt, meine Liebe,“ ſagte die Räthin, 
„und das iſt nicht gut.« — Die alte Anna kam mit mürri⸗ 
ſchem Geſichte herein, und hohlte das Kleine; Cordelia übers 
gab es ihr ſeufzend, und wie ſie hoffte — nicht auf lange. 
— » Setzen Sie ſich hieher zu mir,« ſprach die Räthin, »und 
erzählen Sie mir etwas von Ihrem vergangenen Leben; ich bin 
wirklich darauf neugierig. Sie haben gewiß eine ſehr vorzüg— 
liche, aber ſeltſame Erziehung genoſſen.« — » Zu erzählen 
habe ich eigentlich nichts, das Sie nicht ſchon wüßten,“ fagte 
Cordelig; » daß mein Vater der abgedankte Major Selten war, 


190 
daß ich unter ſeinen Augen von ſeiner Schweſter als Kind ge⸗ 
pflegt, als Mädchen gelehrt wurde, iſt Ihnen bekannt.« — 
»Ihre Tante muß eine eigene Frau geweſen feyn. « — »Jeder 
Menſch hat wohl Eigenes,“ verſetzte lächelnd Cordelia, » doch 
Auffallendes hatte ſie nichts an ſich; ſie war ſeit dem Tode 
ihres Mannes, der auf dem Schlachtfelde geblieben war, ſehr 
ſtill geworden. Mein zum Krüppel geſchoſſener Vater brachte 
ihr die Nachricht. Sie verband ſeine Wunden, er weinte mit 
ihr, er konnte nur zu gut ihren Schmerz verſtehn; denn er 
hatte vor kurzem meine Mutter begraben. Damahls mochte ich 
das Elend vermehren; ein mutterloſer Säugling iſt ein erbar⸗ 
mungswürdiger Anblick. Indeſſen, Gott half! die Wunden 
heilten, die Thränen verſiegten, ich wuchs empor, und ich 
kann ſagen, daſi wir recht viele glückliche Jahre verlebten.« — 
„Was hatten Sie denn für Unterhaltungen?« — »Was man 
hier fo nennt, hatte ich nicht, aber noch viel weniger Lange— 
weile. Mein Vater hatte eine kleine Wirthſchaft gepachtet: da 
gab es Vormittags für mich und die Tante alle Hände voll zu 
thun. Abends ſaßen wir beym Vater, der uns vorlas.« — „ No: 
mane?« — »Nein, ſolche Bücher lernte ich erſt hier kennen; 
meiſt las uns der Vater vor aus einem Buche, wo immer ein 
großer Römer einem großen Sriechen entgegengeſtellt wird, 
ſo daß man oft nicht weiß, wer von den Beyden am herrlich— 
ſten ſtrahlt: dann auch aus andern Büchern in Verſen und in 
Proſa, wo ich aber oft meine bekannten Helden mit großer 
Freude wieder fand. Am Sonntag, da mein Vater gewöhnlich 
Abends beym Pfarrer ſpielte, las die Tante mir aus der Le— 
gende vor; ihr waren die Heiligen viel lieber, als die Helden, 
mir waren alle Heilige Helden, und alle Helden heilig.“ — 


91 


„Verzeitzen Sie, bestes Kind: aber fo hohe heroiſche Dinge 
ſcheinen mi in einem Mädchenkopfe nicht an ihrem Platze zu 
ſeyn: ich weiß nicht, wozu fie taugen, ſollten.“ — »O gute, 
liebe Frau! möchten Sie nie erfahren, wozu ſie taugen! mir 
kamen ſie wahrlich gut zu ſtatten! Hätt' ich nicht von Kindheit 
auf den Tod kennen gelernt als etwas Herrliches und Großes, 
worin der tugendhafte Menſch ſich erſt verklärt: was wäre aus 
mir geworden, als ich in kurzer Zeit die beyden Menſchen 
ſterben ſah, die mir auf Erden am nächſten, ja allein auf 
Erden nahe waren? Er ſtarb wie ſeine Helden, ſie wie ihre 
Heiligen; mein Herz war hart getroffen, aber mein Muth ge— 
hoben: nimmer vergaß ich fie. Das Leben gibt mir nicht tie 
der, was ich an ihnen verlor; doch zu der Trauer über meinen 
unerſetzlichen Verluſt geſellte ſich eine freudig ſtolze Empfin⸗ 
dung, die mich, wie ich hoffe, bey allem Elend dieſer armen 
Erde aufrecht erhalten ſoll.« — »Wie ich ſagte, mein Kind, 
Sie ſind ſehr exaltirt; doch wie kamen Sie dazu, Moden zu 
machen? So etwas lernt man nicht auf dem Lande, und nicht 
aus Büchern. « — »Ich übte von jeher die Hände,« ſagte 
Cordelia, durch die Querfrage ſehr herabgeſtimmt: »zu dem 
kann ich zeichnen, und da lernt man ſehn: hier hatt' ich Mu⸗ 
ſter, und wollte gern mich Ihnen gefällig zeigen. . .. Aber 
ich bin ja nicht gekommen, Sie ſo lange mit dem Wenigen, 
was ich bin und kann, zu beſchäftigen; ſondern um Sie zu bit⸗ 
ten, mir den Tauſch mit Anna zu erlauben. « — » Daraus 
kann nie etwas werden, erhielt Cordelia zur Antwort: „und 
wenn Sie die Welt und ihre Verhältniſſe einſt beſſer kennen, 
wird Ihnen auch dergleichen nicht mehr in den Sinn kommen.« 
— Cordelia bath noch lange, doch vergebens: troſtlos verließ fie 


92 


der Räthin Zimmer, und verſchloß ſich in das eigene, durch 
heiße Thränen ihr gepreßtes Herz zu erleichtern. 

Die Räthin ſagte ihrem Manne von dem ſeltſamen Ein— 
fall des Mädchens. » Cordelia iſt die treue Tochter der Natur, 
ſprach er, »ſie könnte nur unſers jüngſten Kindes Mutter 
ſeyn; darum treibt ſie das Herz, an dem Kinde Mutterſtelle zu 
vertreten. « 

Lange ſchien Cordelia über die fehlgeſchlagene Hoffnung 
untröſtlich: doch die Jugend behauptet ihre Rechte; der Umgang 
im Haufe der Räthin war ſehr lebhaft; und wer aus Grund 
des Herzens weinen kann, kann gewiß auch recht herzlich la⸗ 
then. Cordeliens Frohſinn war nur ſcheinbar mit dem hohen 
Ernſte, der ihr innwohnte, im Widerſpruch. Unter den Manz 
nern, die das Haus der Räthin beſuchten, befand ſich ein jun⸗ 
ger Officier, den des Mädchens eigenes Weſen beſonders ans 
ſprach: das Gemiſch von Kindlichkeit und Strenge, von Un: 
kenntniß der Dinge, die Jedermann weiß, und einem unbe⸗ 
wußten Dociren in Wiſſenſchaften, die nicht leicht ein junges 
Frauenzimmer beſitzt, rührte und beluſtigte ihn zugleich. Er 
konnte bey einem The dansant fie vorſetzlich in ein Geſpräch 
über die Römer und Griechen verwickeln, durch Widerſprechen 
aller ihrer Behauptungen, durch Beſpötteln ihrer Begeiſterung 
fie mehr und mehr in Eifer zu bringen, dann ſchnell aufſtehend, 
ſie verſichern, ſo etwas laſſe ihr gar nicht gut, und er müſſe 
ſich um eine nicht gelehrte Tänzerin umſehn. Doch nicht ſel⸗ 
ten kehrte er nach zwey Minuten wieder zurück, bath demü⸗ 
thig ihr alle feine Sünden ab, und meinte, da ſie doch ein- 
mahl, trotz ihrer furchtbaren Erudition, aus allen anmwefenden 
Mädchen ihm die liebſte ſey, und ſchwerlich Scipio der Afri⸗ 


93 
kaner, oder irgend einer ihrer Lieblinge, fie zu dieſem Walzer 
abhohlen würde, bleibe es für Beyde das Klüaſte, ihn mit⸗ 
ſammen zu tanzen; — und Cordelia reichte lachend ihm die 
Hand. Er war ein raſcher, offener Jüngling, aus deſſen Mus 
gen Muth und Geiſt blickten; ein Ehrenzeichen zierte ſeine 
Bruſt, eine Narbe, ſchöner noch, ſeine Stirn. Verglichen 
mit den hohen Geſtalten, die Cordelia im Buſen trug, war 
er freylich keine ſehr merkwürdige Erſcheinung: aber in dem 
Kreiſe gewöhnlicher Menſchen, der ſie umgab, eine ſehr bedeu— 
tende, ihr fehr willkommene; denn was er that und ſprach, 
zeigte von der ihm angebornen Verachtung alles Kleinlichen. 

» Cordelia! Cordelia!“ rief eines Abends der Nath in war⸗ 
nendem Tone, als die Geſellſchaft ſich entfernt hatte, und 
Frau und Kinder beym Ausziehen waren. — »Was hab' ich 
denn gethan ?« fragte fie erſchrocken. — „Fragen Sie Ihr 
Gewiſſen.« — »Mein Gott! ja ich habe wieder eintmahl 
vergeſſen, daß ich mich immer vergeſſen ſoll — ich muß es 
geſtehn! ich weiß wenig, was ihre Töchter den Abend über ge— 
than haben.« — „O! ſeyn Sie ruhig,“ ſagte der Rath; »Sie 
haben ſich muſterhaft gerade gehalten, und immer franzöſiſch 
geſprochen, nur einmahl hörte ich deutſch die Bemerkung: die 
gute Freundin fen heute beſonders munter. « — » War denn 
wirklich,“ fragte hocherröthend das arme Mädchen, »Etwas 
in meinem Betragen, das Ihnen auffallen konnte 2« — „Nein, 
Cordelia; verzeihen Sie mir den Scherz; meine Warnung 
geht Ihr Betragen gar nicht an.« — »Was denn ſonſt?« — 
— »Ihr unverwahrtes, ſchuldloſes Herz: laſſen Sie darin ei— 
ne Neigung nicht aufkeimen, die Ihnen nur Kummer bringen 
könnte! Glauben Sie mir; ich kenne die Verhältniſſe.“ — 


94 


» Herzlichen Dank für diefe Beſorgniß; boch fie ift zum Gtück 
nicht gegründet. Horſt gefällt mir zwar ſehr gut, und wem 
könnte er mißfallen? aber es iſt mit ihm kein ernſtes Wort zu 
ſprechen, und die Liebe iſt kein Scherz! mein Herz iſt ganz 
ruhig. «“ — Wäre es auch möglich geweſen, an der Wahrheit 
einer Betheuerung aus Cordeliens Munde zu zweifeln, ſo 
hätte, was in den nächſt folgenden Tagen ſich zutrug, auch 
den leiſeſten Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit gehoben. Horſt 
wurde mit einer Beförderung zu einem andern Regiment über: 
ſetzt, und mußte folglich den Aufenthalt verändern. Cordelia 
freute ſich darüber; denn er hatte dieſe Beförderung gewünſcht: 
ſie nannte ihn am letzten Abend, den ſie beyſammen zubrach⸗ 
ten, wohl hundertmahl Herr Rittmeiſter, und ſie ſchieden In 
chend, doch nicht ohne einander ein treuherziges Lebewohl 
zuzurufen. 

Kurz darauf verreiſte auch der Rath. Er dachte in wenig 
Wochen die Seinen wieder zu begrüßen; allein das Geſchäft, 
das ihn genöthigt hatte, ſich von ihnen zu trennen, zog ſich 
in die Länge. Er ſchrieb von ſeinem ſehnlichen Wunſche, Weib 
und Kinder um ſich zu ſehen, von der reitzenden Gegend, die 
er allein bewohnen mußte, und folglich nicht genoß. Die Jahrs⸗ 
deit war günſtig; der Weg konnte in weniger als zwey Ta⸗ 
gen zurückgelegt werden. — »Wir reifen hin! « rief die Räthin; 
„ wir reiſen!“ ſchrien die Mädchen; » wir reiſen!« jubelte 
Cordelia, und wäre gern vor Freude hoch aufgeſprungen, hät⸗ 
te ſie ſich nicht bey Zeiten ihrer Würde als Erzieherin errin—⸗ 
nert. Doch wie ſank ihr froher Muth, als fie hörte, das Heiz 
ne Kind, ihr Liebling, ihr Kleinod, bleibe bey der alten Ans 
na zurück! Sie machte der Mutter die rührendſten Vorſtel⸗ 


95 


lungen; aber fie bekam zur Antwort: das Kind ſey nur an 
die Alte gewohnt, und für dieſe ſey im Wagen kein Platz. In 
der Angſt ihres Herzens geſtand Cordelia, ſie habe der Alten 
ſchon öfter es abgeſchmeichelt, und ſelbe durch die ganze Nacht 
bey dem Kinde vertreten; ſie verſicherte, es ſey ihr gar nicht 
ſchwer gefallen, den Schlaf zu überwinden, und ſie habe ſich 
für alle Mühe durch des Kindes Lächeln belohnt gefühlt; ja es 
könne Niemand, der es nicht geſehn, je glauben, wie lieblich 
ſolche helle Aeuglein die Nacht beleuchten könnten. Dieß Alles 
ermüdete nur die Geduld der Räthin, die Cordelien endlich 
fragte, wie ſie ſich's einfallen ließe, mütterlicher als fie ſelbſt 
für das Kind empfinden zu wollen? — Ein jeder wird be⸗ 
ſteuert nach Vermögen, hätte Cordelia zu ihrer Ent⸗ 
ſchuldigung anführen können; doch fie erſchrack über den Ton, 
den Blick der Frau, die ſich ſonſt nicht leicht zum Zorne rei⸗ 
gen ließ, und fügte ſich ſchweigend. 

Der Rath wurde auf das Angenehmſte durch die Ankunft 
‚feiner Familie überraſcht. »Wo iſt das Kleine?« fragte er, nach⸗ 
dem er Mutter und Töchter an ſein Herz gedrückt hatte; doch 
was er zwiſchen den Augenbraunen ſeiner Frau und durch Corde— 
liens Züge zucken ſah, belehrte ihn, dieſe Saite, länger berührt, 
würde keinen wohlklingenden Ton geben; er begnügte ſich als 
fo mit der Antwort: »Es iſt geſund! ganz geſund,« — welche 
die Räthin haſtig herausbrachte. Er ſchwieg, doch im Herzen 
darüber ſehr betrübt, daß nur halbe Baterfreuden ihm gegönnt 
wurden. Cordelia bewunderte die Ruhe, mit welcher die ſonſt 
eben nicht liebloſe, nicht ſorgloſe Mutter jede Unterhaltung 
genoß, wie empfänglich ſie für jede Freude ſich zeigte, wie 
wenig überhaupt der Gedanke an das verlaſſene Kind ſie ſtör⸗ 


65 


te. Sie daran zu erinnern, wagte Cordelia nicht mehr: aber 


ſie konnte es nicht vergeſſen; bey allen Vergnügungen, die 
ihrer Jugend ſo angemeſſen als willkommen waren, beſchlich ſie 
oft die wehmüthigſte Stimmung, und eine herzeinengende 
Bangigkeit. So ungern ſie ſich von dem Rathe, der ſie ſtets 
mit väterlichem Wohlwollen behandelte, wieder trennte, be⸗ 
Ries fie freudig den Reiſewagen zur Heimfahrt. Unterwegs ſtell⸗ 
te ſie ſich oft ſelbſt die Frage: ob ihr liebes Kind ſie wohl noch 
erkennen? ob es ihr wie ſonſt die kleinen Arme entgegenſtrecken 
werde? und ſie hoffte es mit der frohen, doch zu oft betroge— 
nen Zuverſicht jeder innigen Neigung. Schon winkten, zwar 
noch in beträchtlicher Entfernung, die Thürme der Hauptſtadt; 
als ein anderer Wagen, der dieſem ſchnell entgegen gefahren 
kam, plötzlich hielt, und die beſte Freundin der Räthin her⸗ 
aus ſtieg. Nun ließ auch die Räthin halten, ſtieg ebenfalls 
aus, die Freundin empfing ſie in ihre Arme, drückte ſie mit 
ungewöhnlicher Heftigkeit an ſich, riß ſie zu ihrem Wagen, in 
den beyde Frauen von einem Bedienten ſchnell gehoben wur— 
den, und der dann im raſchen Trabe, wieder nach der Stadt 
fuhr. 8 

Der ſchwer bepackte Reiſewagen hielt erſt mit anbrechen⸗ 
der Nacht vor dem Haufe der Räthin: „Gottlob! daß wir 
endlich wieder da ſind!« rief Cordelia. Sie flog die Treppe 
hinauf, trat raſch in das Zimmer, welches die Wärterin mit 
dem kleinen Kinde bewohnte — — Ach! die Wiege ſtand leer, 
— —— doch dort auf dem Ruhebette lag ja das geliebte Kind, 
fo ſüß lächelnd im tiefen Schlafe, fo ſchön mit Blumen und 
Bändern geſchmückt! Gewiß zum Empfange der Mutter, dach⸗ 
te Cordelia; ſie beugte ſich zu ihrem Liebling herab, drückte ei⸗ 


07 


nen Kuß auf feinen Mund, und ſank mit einem Schrey zu 
Boden. — Die Kälte des Todes war von des Kindes Lippen in 
ihr Herz gedrungen. Die Dienſtleute liefen herbey, Cordelia 
wurde ohne Bewußtſeyn auf ihr Zimmer getragen, und die 
kleine Leiche, welche die Mutter nicht ſehen ſollte, ſchn ell aus 
dem Hauſe geſchafft. 

Die Räthin, durch ihre Freundin zu dem ſo unerwarteten 
Schlage vorbereitet, und endlich von ihrem Verluſte unterrich- 
tet, hatte ſich ſelbſt ſchon bittere Vorwürfe gemacht, und ih— 
rem todten Kinde den Zoll mütterlicher Zähren nicht verſagt; 
doch bey dem Gedanken an Cordelien verſchloß ſich gewaltſam 
ihr Gemüth; ſie fühlte, ſie würde als Schuldige vor ihr ſte⸗ 
ben müſſen, des Mädchens Thränen würden fie anflagen. Als 
ſie nun vollends von der Ohnmacht hörte, die ſie für Verſtel⸗ 
lung hielt, weil ſie ſie dafür halten wollte, glaubte ſie allen 
Grund zu haben, dem Mädchen gram zu ſeyn. Die arme, 
mattgeweinte Cordelia wurde bey der erſten Zuſammenkunft 
mit einem kalten, beynahe verachtenden Blicke gemeſſen, und 
die Frage um ihr Wohlſeyn begleitete ein ironifches Lächeln, 
das grell genug contraftirte mit dem Schmerzenszuge um den 
Mund, der ſie ausſprach. 

Sehr bald merkten Kinder und Dienende, daß Cordelia 
die Gunſt der Räthin unwiederbringlich verſcherzt hatte; und 
von nun an klang aus jedem Munde des Spottes, oder der 
Rohheit Ton ihr entgegen. Der Rath, der fie vor fo unwür— 
diger Behandlung geſchützt hätte, war noch immer abweſend; 
die lieben Augen, deren unſchuldsvoller Blick fie ſo oft ge⸗ 
tröſtet, hatten ſich auf immer geſchloſſen. Cordelia war ſehr 
unglücklich, und, nicht klar über ihre Lage, fühlte ſie doppelt 
G 


98 


deren Druck; da alle mit ihr unzufrieden ſchienen, war ſie es 
mit ſich ſelbſt. 

Ein reicher, ſchon bejahrter Graf, den das hohe Spiel in 
das Haus der Räthin lockte, hatte ſchon längſt Cordelien mit 
Wohlgefallen angeſehen; feine freundlichen Blicke recht zu ver> 
ſtehen, war fie zu rein; das Wohlwollen irgend eines menſch⸗ 
lichen Weſens hatte durch die Liebloſigkeit ihrer nächſten Um⸗ 
gebung hohen Werth gewonnen. Cordelia glaubte dafür nicht 
genug dankbar ſeyn zu können, fie fühlte ſich ihm kindlich er> 
geben, und erwies ihm tauſend kleine Gefälligkeiten, die ihn 
ganz beſonders zu erfreuen ſchienen. Einſt kam er, und traf 
ſie allein. Nachdem er ihr einen unbedeutenden Auftrag für 
die Räthin gegeben hatte, fagte er: »Sie find heute nicht 
heiter, liebes Mädchen; und ich bemerke ſeit längerer Zeit, 
daß ihr Frohſinn Sie verläßt.« — »Ich kann es nicht läugnen, 
ſagte Cordelia; »mich drückt Manches; vor Allem das Bewußt— 
ſeyn meiner Unzulänglichkeit; ich bin meinem ernſten Berufe 
nicht gewachſen, ich fühle es. « — — »Warum ſollte es Ihr 
Beruf ſeyn, jedem Lebensgenuſſe zu entſagen? Sie ſind hier 
wahrlich nicht an Ihrem Platze.« — Cordelia antwortete nur 
mit einem Seufzer. — »Ich weiß, was Sie mir fagen kön⸗ 
nen: Sie ſind älternlos, ohne Mittel; haben Sie denn nicht 
einen theilnehmenden Freund? — Sehn Sie, liebe Cordelia! 

ich beſitze ein ſchönes Landgut, das ich nie beſuche, weil ich 
die Einſamkeit ſcheue; wollen Sie es mit mir beziehen? « — 
„ Wie“! rief Cordelia freudig überraſcht: »Sie wollten ſich 
einer armen verlaſſenen Waiſe fo großmüthig annehmen? Mir 
Vater werden ?« — — „Vater, Freund, Beſchützer, wie Sie 
mich nennen wollen: überlegen Sie meinen Antrag, Cordelia! 


99 


und laſſen Sie mich bald Ihren Entfehluß wiſſen; doch fragen 
Sie nur ſich ſelbſt um Rath, und machen Sie nur mich mit 
der Entſcheidung bekannt.“ Er legte den Finger auf den Mund, 
fagte noch deutlicher durch einen Blick: Schweige! und ging, 
weit entfernt zu ahnen, daß Cordelia von ſeinem Blick, von 
feinem Winke, von ſeinen letzten Worten gar nichts wußte; 
daß ihr reiner, liebender Sinn nur den Gedanken, er will 
mir den Vater erſetzen, aufgefaßt hatte, und feſt hielt. Sie 


5 glaubte, ſo ſchnell, als möglich, die Räthin bekannt machen zu 


müſſen mit einer ſo unerwarteten, ſo glücklichen Wend ung 
ihres Schickſals. »Ich verlaſſe ungern Ihr Haus, ſprach fie 
des andern Tages zu dieſer; »doch ich fühle, daß ich wenig 
Gutes darin ſtifte; Ihre Töchter ſind, leider! durch mich nicht 
beſſer geworden, und Sie werden mich gewiß mit leichtem 
Herzen ziehen laffen.« — »Und wo ziehen Sie denn hin?« — 
»Zum Grafen Lingen,« antwortete Cordelia. — »Zu? — wie 
ſagten Sie? «— „Zum Grafen Lingen. Er verſpricht, als 
väterlicher Freund für mich zu ſorgen, und will dafür nichts 
als meine Liebe, die ihm gewiß zu Theil wird.« — »Aeußerſt 
rührend! « rief die Räthin aus; »und Sie fagen mir von 
einem ſolchen Antrage? und vertrauen mir, daß Sie ihn an⸗ 
genommen ?«— »Ich habe dieſen Antrag angenommen, «ſprach 
Cordelia, »weil ein Verhältniß der Art viel natürlicher, und 
folglich viel würdiger iſt, als das, in welchem ich hier ſtehe.« — 
»Was Sie wollen, Fräulein Selten, « ſprach nun mit kalter 
Verachtung die Räthin; »doch wünſche ich meinen Töchtern 
andere Lehren und ein anderes Beyſpiel, als das, was ſie von 
Ihnen erhalten können, und Sie werden mich ſehr verbinden, 
wenn Sie noch heute mein Haus verlaffen.« Cordelien that 
G 2 


100 


es wehe, fo unfreundlich verabſchiedet zu werden; aber fie blieb 
gelaſſen, denn ſie konnte nicht einſehen, daß ſie hier den 
geringſten Vorwurf verdiene. Sie ſchrieb an den Grafen, fie fey 
bereit, ihm überall zu folgen. 

»Himmelſchreyend! unverantwortlich vor Gott und Men⸗ 
ſchen,« rief der Rath, als er einige Wochen darauf zurückkam, 
und hörte, was ſich zugetragen hatte. »Wie konnteſt du für 
Frechheit halten, was der ſicherſte Beweis der reinſten Unſchuld 
war ?« fragte er feine Gattin: »wie war es bir möglich, fie nicht 
zu warnen? fühlſt du nicht, daß du die Blinde dem offenen 
Abgrund noch zugeſtoßen haſt? Wahrlich! ich rede weit ſelte⸗ 
ner, als du, von meinem Gewiſſen; aber wenn dieſe Schuld 
auf mir läge, ſchlief' ich nicht ruhig.« — Die Räthin hatte noch 
nicht eine nach ihrem Wunſche genug beißende Antwort ge⸗ 
funden, als Graf Lingen in das Zimmer trat. — „Wo iſt Cor⸗ 
delia? « rief mit Donnerſtimme der Rath ihm entgegen... 
»Zu Lux, bey meiner Nichte, der verwitweten Baronin von 
Eichthal,« antwortete der Graf, des Contraſtes wegen in dem 
höflichſten Ton, indem er ſich leicht verbeugte. »Aber ſie ſagte 
ja, fie zöge zu Ihnen!« ſchrie die Räthin. — »Du haft ein⸗ 
mahl wieder ſchlecht verſtanden,« ſprach achſelzuckend der Rath. 
„Was mich betrifft, « fuhr er fort, „thut es mir leid, das 
wirklich ausgezeichnete Mädchen nicht mehr in meinem Hauſe 
anzutreffen; aber wenn es ihr wohl geht, ſoll es mich herzlich 

freuen.« — »Darüber ſeyn Sie ganz ohne Sorge,« ſagte nun 
| ernſt, und nicht ohne fühlbare Gutmüthigkeit, der Graf; »mei⸗ 
ne Nichte iſt eine junge Frau, und macht ein angenehmes Haus: 
Cordelia wird bey ihr die Welt kennen lernen.« -— »Sie mei⸗ 
neu die große Welt,« ſagte die Räthin in ſehr empfindlichen 


101 
Tone; » denn Leute ſah fie doch auch in meinem Haufe.“ — 
»Lichter und Karten!“ ſchrie überlaut der Rath, dem ſolche 
Gränzſtreitigkeiten unausſtehlich waren; ein anderer Bekann⸗ 
ter des Hauſes trat herein wie gerufen, und bey einer Partie 
Whiſt wurde der Friede geſchloſſen. 

Der Graf hatte Wahrheit gefprechen. Zu ſeicht, um ſich 
auf Phyſiognomik zu verſtehen, zu ſehr Weltmann, um an weib— 
liche Tugend zu glauben, hatte ihn des Mädchens Sreundlichz 
keit getäuſcht; und der Gedanke, den ſchändlichſten aller Der: 
träge mit ihr zu ſchließen, war ſehr natürlich in ihm entſtan⸗ 
den. Doch als Cordelia in feine Wohnung eingetreten war 
mit den Worten: »Nun bin ich ganz ihre Tochter! Ich habe 
auf Erden keine Pflichten weiter, als gegen Sie; und wie freu⸗ 
dig will ich diefe Pflichten erfüllen! Wie will ich Ihre grauen 
Haare ehren! wie ſorgfältig will ich Sie pflegen, um, fo lange 
als möglich, die Uebel, die dem Alter drohen, von Ihnen ent 
fernt zu halten 1 — hatte er feinen Irrthum ſchon geahnet, und 
mit einiger Befangenheit Cordelien gefragt, wie ſie ſo leicht 
und ſchnell zum Gebrauch ihrer Freyheit habe gelangen kön- 
nen? Als er nun hörte, auf welche Art ſie ſich von der Räthin 
getrennt hatte, blieb ihm kein Zweifel übrig: das Mädchen 
war eine Schwärmerin, und folglich nichts weniger als das, 
was er ſuchte. Beynahe größer als fein Verdruß darüber 
war ſeine Verlegenheit: eine Verrechnung der Art, die früh 
oder ſpät bekannt werden mußte, gab ihn dem allgemeinen 
Gelächter Preis; Zwang oder Zift anzuwenden, um eine 
Unſchulb zu morden, war er nicht verderbt genug. Nach ei⸗ 
nem Augenblicke des Stillſchweigens bath er Cordelien, ſich 
in das für ſie beſtimmte Zimmer zu begeben, und für ihre 


102 


Zukunft unbeſorgt zu ſeyn. Dieſen Tag ſah ſie ihn nicht 
mehr; am Morgen des folgenden ſagte er ihr: er habe 
ſchon längſt feiner Nichte Hoffnung gemacht, auf die lie— 
benswürdigſte Geſellſchafterin, und freue ſich nun ungemein, 
ihre Erwartung erfüllen zu können. Cordelia erröthete, er⸗ 
bleichte, ſie wollte danken; aber ſie brach in Thränen aus: 
ſie hatte keinen Vater, nur einen Gönner gefunden! Der Graf 
ſchien ihre Thränen nicht zu ſehen, er wendete ſich zu einem 
alten Diener, der fie begieiten ſollte, und empfahl ihm aufs 
Beſte, für fie zu ſorgen. Cordelia hatte keine Wahl: fie ſtieg, 
immer noch weinend, in die Poſt-Chaiſe, die, ſchon beſpannt 
und bepackt, vor dem Hauſe ſtand, und während der kurzen 
Reife, bath fie es dem Grabe ihres Vaters wohl tauſendmahl 
im Geiſte ab, daß ſie die thörichte Hoffnung, ihn zu erſetzen, 
einen Augenblick habe hegen können. 

Die junge Witwe empfing Cordelien auf das freundlich⸗ 
ſte; ſie hatte Langeweile, und alles Neue war ihr willkommen. 
Dazu kam das natürliche Wohlgefallen, das die Jugend an 
der Jugend ſtets findet: und die Baronin, eine Modeſchönheit, 
konnte ohne Broßmuth Cordelien die Reitze verzeihen, deren 
fie ſich fo wenig bewußt war, und die, von ber Eleganz des 
Anzuges nicht unterſtützt, wohl nur geringe Wirkung machen 
konnten. Auch hier galt Cordeliens Fertigkeit, Moden nachzu⸗ 
machen, weit mehr, als die edelſten Fähigkeiten ihres Kopfes, 
ihres Herzens; und dieſe Fertigkeit wurde ſo oft in Anſpruch 
genommen, daß, wenn Cordelia auch eben nicht darüber unge- 
duldig wurde, ſie doch darüber erſtaunte. Die Witwe, in An⸗ 
gelegenheiten der Art ſtets befangen, betrieb ſie mit dem lä⸗ 
cherlichſten Ernſt: über Federn oder Bänder, die nicht ganz 


103 


die verlangte Nüance hatten, konnte ſie für ganze Tage ſo 
verſtimmt werden, daß nicht einmahl der zärtlichfte Brief ih— 
res Bräutigams ſie zu erheitern vermochte. Wenn aber Alles 
nach Wunſch ging, fo kamen zuweilen, mitten unter den Aeu⸗ 
ßerungen ihres Vergnügens über das Gelingen der Toiletten- 
plane, einige Stoßſeufzer der Sehnſucht nach ihrem Max, wie 
fie ſtets ihn nannte. Da fiel es allemahl Cordelien ſehr ſchwer, 
das Lachen zu unterdrücken, und ſie konnte dieſen Max, der 
kaum fo viel Raum als ein Putzhütchen in dem Herzen ſei⸗ 
ner Braut behauptete, nur als den erbärmlichſten Gecken ſich 
denken. Man ſprach von ſeiner nahen Ankunft; doch ihre 
Neugierde, ihn kennen zu lernen, war ſehr mäßig, und nicht 
ſchneller, als gewöhnlich, ging ſie die Treppe hinab, als eines 
Abends, ſpäter als ſonſt zum Thee gerufen, ſie zugleich hörte: 
der Bräutigam ſey angekommen. 

Der Salon war noch nicht erleuchtet; ein Mann, der an 
der Baronin Seite ſaß, ſtand auf, die Eintretende zu begrü⸗ 
gen. — »Freyherr von Horft! Fräulein Cordelia von Selten, 
— ſprach mit einiger Feyerlichkeit die Braut, und erſtaunte nicht 
wenig, als Beyde überraſcht einen Schritt zurück fuhren, und 
zugleich in lautes Lachen ausbrechen mußten. Horſt faßte ſich 
zuerſt wieder, und erzählte ſeiner Braut, unter welchen Um⸗ 
ſtänden er mit ihrer Geſellſchafterin bekannt geworden war, 
und erneuerte einige der damahligen Scherze, ihr begreiflich 
zu machen, wie Jedes von ihnen der bloße Nahme des nz 
dern ſchon um alle Ernſthaftigkeit hatte bringen müſſen. Dieß 
Alles ſchien der Baronin eben ſo unverfänglich, als es wirklich 
war, und den Dreyen verfloß der übrige Theil des Abends in 
der munterſten Stimmung. Doch an dem folgenden fühlte ſich 


104 


Cordelia nicht verpflichtet, dem Brautpaare Geſellſchaft zu lei⸗ 
ſten; ſie machte von der lang entbehrten Freyheit Gebrauch. 
Sie blieb nun viele Stunden des Tages auf ihrem Zimmer, 
las, und befreundete ſich wieder mit ihren Helden, oder fie ſuchte 
die Reißfeder wieder hervor, und manches liebliche Gebilde 
wuchs unter ihrer Hand. Indeß führte die Witwe ihren Bräu⸗ 
tigam ein in jeden Zirkel der Stadt; auch er mußte ihr zum 
Putze dienen, und nicht Jede hatte ſolchen aufzuweiſen. Dieſe 
Vorſtellung, die von Beyden nicht klar gedacht wurde, wirkte 
ſo angenehm auf ſie, als widrig auf ihn. Nach einigen Wo⸗ 
chen erklärte er: es ſey ihm durchaus unmöglich, ein halbes 
Jahr, das bis zum feſtgeſetzten Tage der Vermählung noch 
verfließen ſollte, auf ſolche Art zu verleben; und er drang mit 
zärtlichen und ernſten Bitten in fie, die fo einladende Som- 
merszeit auf dem Lande vereint zu genießen. Die Witwe gab 
gezwungen nach; fand es aber unerläßlich, Cordelien mitzu⸗ 
nehmen. Horſt meinte Anfangs, man könne ſie wohl in der 
Stadt bey ihren Römern laſſen; doch ſah er bald ein, der 
Wohlſtand erlaube es einem unvermählten Paare nicht, ein 
einſames Waldſchloß allein zu bewohnen, und Cordelia reis 
fe mit. 

Sie fuhren vom früheſten Morgen bis in die ſinkende Nacht 
auf der Straße, von einer Staubwolke umgeben. Horſt ſchnitt 
darüber, oder über Cordeliens unerwünſchte Gegenwart ſehr 
ſaure Geſichter. Cordelien plagten weit weniger Staub und 
Hitze, als das tödtende Einerley einer ſolchen Fahrt, und das 
Bewußtſeyn, wie überflüſſig ſie nun hier wieder ſey. Endlich, 
nachdem der Wagen in der Dunkelheit noch zwey Stunden 
zwiſchen Feldern und zuletzt durch einen Hohlweg gefahren war, 


105 


hielt er vor dem Schloſſe, und Cordelia eilte, von ihrem Zim⸗ 
mer Beſitz zu nehmen. 

Seit langer, langer Zeit weckte ſie einmahl wieder der Ge— 
ſang der Vögel. Bewegt und erfreut verließ ſie ſchnell ihr La⸗ 
ger, warf einen Mantel um die Schultern, öffnete das Fen— 
ſter; — plötzlich bedeckten Thränen ihre Wangen, und fie brei⸗ 
tete die Arme aus nach den mit Tannen und Eichen bepflanz⸗ 
ten Hügeln, und ſie athmete tief, und trank in langen Zügen 
die reine balſamiſche Morgenluft. Und jetzt fprang fie neube⸗ 
lebt vom Fenſter weg zu ihrem Koffer, nahm das nächſt beſte 
Kleid heraus, zog es eilends an, und ſchneller, als der Ge— 
danke, war ſie am Fuße des höchſten Hügels, auf einer Wieſe, 
die in den letzten Tagen eines ſchönen Maymonds die reichſte 
Fülle der verſchiedenſten Feldblumen darboth. Cordelia wußte 
ſich in ihrer Freude nicht zu faſſen; ſie küßte Blumen und 
Gräſer, ſie grüßte mit Jubeltönen den Wald, fie lachte und 
weinte; und es brauchte lange, bis fie zu einem ruhigen Ge— 

nuſſe kommen konnte. Als die erſte Aufwallung ihres Gefühls 
vorüber war, pflückte ſie Blumen zu Kränzen und Sträußen, die 
jie künſtlich zu binden und zu flechten verſtand, und kehrte end⸗ 
lich, nicht unähnlich der Blumengöttin, zurück nach dem Schloſſe. 
Horſt ſaß auf einem Raſenplatze zwiſchen Haus und Garten, 
und frühſtuckte. — »Willkommen!« rief er Cordelien entgegen, 
»ich habe Sie ſchon überall geſucht« — »Mich?« ſagte fie ber 
fremdet. — »Ja, Sie ſelbſt!« antwortete der Rittmeiſter, 
etwas verlegen. Sein Gewiſſen mochte ihm manche Unart und 
lange Nichtachtung vorwerfen. »Und wo iſt denn die Baronin? « 
fragte Cordelia. — »Sie hat Migraine, und Niemand darf 
zu ihr. « — »Mein Gott! « rief Cordelia aus, » wie kann man 


106 


heute Migraine haben?« Sie legte ſorgfältig ihre Blumen auf 
den thaubenetzten Raſen im Schatten nieder. Horſt ſagte: 
»Ueben Sie Großmuth aus, Cordelia, frühſtücken Sie mit 
mir! Mir ſchmeckt wahrlich kein Biſſen, wenn ich ſo allein wie 
ein Eremit eſſen und trinken foll.« Cordelia ſetzte ſich ihm ges 
genüber, ſchenkte ſich ein, und frühſtückte; ſah aber dabey viel 
öfter nach ihren Blumen, als nach Horſt, der alſo Zeit gewann, 
fie zu betrachten. Bey dieſem Anſchauen ging die Frühlings⸗ 
luſt auch in ihm auf: feine Miene erheiterte ſich, er hohlte 
Jägertaſche und Flinte, rief ſeinen Hund herbey, und ging 
dem Walde zu. »Die armen Thiere!« rief Cordelia, als er, mit 
ganz beſonderer Freundlichkeit grüßend, an ihr vorüberging. — 
„Die armen Blumen !« rief er lachend zurück, indem er auf 
ihre Beute hinwies: und beynahe hätte Cordelia Reue dar⸗ 
über empfunden, daß fie das kurze Leben fo vieler Frühlings- 
kinder noch verkürzt hatte. 

Die Varonin hatte indeſſen ihre Geſellſchafterin rufen laſ— 
ſen, und Cordelia ſah nun deutlich, was ſie leicht vermuthet 
hatte, daß die Krankheit, welche ſie licht- und menſchenſcheu 
machte, keine andere, als üble Laune ſey. Die Witwe war ein in 
jeder Hinſicht verwöhntes Kind. Als einzige Tochter vornehmer 
und reicher Aeltern, hatte ſie keinen ihrer Wünſche je unbefriedigt 
geſehen. Theure Spielſachen, koſtbare Kleider, ein hübſcher Bräu⸗ 
tigam waren ſchnell auf einander gefolgt; doch ſo, wie das ge⸗ 
wünſchte Spiel ihr oft in Kurzem Langeweile gemacht, das erſehn⸗ 
te Kleid nicht ganz hatte paſſen wollen, war auch der Bräuti⸗ 
gam als Mann bald ihr läſtig geworden. Jetzt hatte das Schickſal 
ihrer Aeltern Weiſe angenommen; es hatte, mit Hülfe eines bös⸗ 
artigen Fiebers, den Läſtigen ſchnell hinweggerafft, und eben fo 


107 


raſch einen neuen Anbether ihr entgegen geführt. Nur in einem 
Puncte hatte es das Schickſal verfehlt. Der zweyte Bräutigam 
konnte wollen; er imponirte durch Männlichkeit, durch Ernſt 
ſogar, wenn der Ernſt noth that: und ſo war die Braut nun 
zum erſten Mahle in ihrem ganzen Leben dazu gekommen, den 
eigenen Willen einem andern unterzuordnen. Doch wie ſehr be— 
reute ſie es ſchon! Sie dachte mit Schrecken an dieſe drey 
oder vier Sommermonathe, und an die Unmöglichkeit, fie er- 
träglich auszufüllen. Die verfeinerte Eitelkeit findet überall 
Nahrung; die gewöhnliche, bey Frauen, will nur durch Pracht 
und Eleganz glänzen, und ſo des eigenen Geſchlechtes Neid, 
des anderen Bewunderung erregen: dann wird die Einſamkeit, 
wenn auch Liebe fie verſchönert, zur Unterbrechung der eigent- 
lichen Exiſtenz. Auch war das ſelten bewohnte Schloß nicht, 
wie die Stadtwohnung der Witwe, mit allen Bequemlichkei⸗ 
ten verſehen, welche die Weichlichkeit erſonnen: das hatte ſie 
ſchon am geſtrigen Abend und am heutigen Morgen empfunden. 
Mit körperlicher Kraft war ſie nicht begabt; Seelenſtärke kann⸗ 
te ſie nicht einmahl dem Nahmen nach; Verſtimmtheit und Miß⸗ 
behagen hatten ſich ihrer bemeiſtert, und das nannte ſie, aus 
Höflichkeit gegen den Bräutigam, die Migraine. Als Cordelia in 
ihr Zimmer trat, wurden eben die Vorhänge aufgezogen, und 
die Witwe hätte der Sonne und Cordelien gern verbothen, ſo 
hell zu glänzen: indeſſen verbreiteten Beyde, ihr zum Trotz, Hei⸗ 
terkeit um ſie her; und als Horſt von der Jagd zurückkam, und 
halb galant, halb neckend einiges kleine Wild ihr zu Füßen 
legte, wurde er mit einem gefälligen Lächeln empfangen. 
Man wollte nun gemeinſchaftlich einen Lebensplan für den 
Landaufenthalt entwerfen. Doch bey der Eintheilung der Zeit 


103 


für künftige Tage verrieth die Witwe mehr als einmahl, hier 
habe der Tag für ſie zu viele Stunden, wodurch Horſt ſich nicht 
geſchmeichelt fühlte. Ueberhaupt wurde er durch Vieles, was ſie 
that und ſprach, unangenehm berührt. Er hatte ſeine Braut 
in dem Elemente kennen gelernt, worin ſich ihre in jeder Hin⸗ 
ſicht unbedeutende Perſönlichkeit zur Bedeutenheit erhob. Nicht 
leicht bedurfte eine junge Frau ſo ſehr, als ſie, des Putzes, der 
Schminke, der Eleganz in der Umgebung, des täuſchenden 
Scheines vieler Lichter, der gemachten Lebendigkeit, zu wel⸗ 
cher halb lebende Menſchen einander auffordern, — mit einem 
Worte, aller Hülfsmittel der Eitelkeit, aller Magie des Luxus. 
Die ſchwache Kraft ihrer Phantaſie und ihres Herzens konnte 
nur dadurch erhöht werden. In einem glänzenden Zirkel, 
bey einem öffentlichen Feſte, ſchien ſie ſchön, geiſtreich, ſogar 
gefühlvoll; in der Stille des Hauſes, bey der Ruhe des Land⸗ 
lebens war fie von allem dem nichts. Im Hauſe wußte fie 
weder Beſchäftigung noch Erheiterung zu finden; auf Spazier⸗ 
gängen ſchleppte ſie ſich mühſam am Arme ihres Bräutigams, 
dem ſie mit Klagen über Staub, Sonne und Wind die Freu⸗ 
de vergällte, die er ſich an ihrer Seite verſprochen hatte. Cor⸗ 
delia ging gewöhnlich weit voran; ſie pflückte Blumen, ſang 
mit den Vögeln um die Wette, beſtieg jeden Hügel, trank aus 


jeder Quelle, und wo fie fand und ging, war fie in Harmo⸗ 


nie mit der Natur: ja, fie ſchien nothwendig zu der Landſchaft 
zu gehören, wie das lauſchende Reh am Saum des Waldes, 
wie die Waldtaube auf dem Tannenzweig, wie die Zugvögel, 
die jetzt die blaus Luft durchſegelten, wie die Pappel, die am 
Teiche zitterte, wie der Roſenſtrauch, der vom Felſen herab 
hing. Verſammelte man ſich wieder, um den Rückweg anzutre⸗ 


109 


ten, To erſtaunte Cordelia jedes Mahl über die trübſinnige Mie⸗ 
ne des Brautpaares; doch ehe deſſen düſtere Stimmung in ſie 
übergehen konnte, zeigten ſich die erſten Häuſer des Dorfes, 
und Cordelia ſah nun überall frohe, redliche, wohlbekannte 
Geſichter. Hier lief ein kleiner Krauskopf auf ſie zu, den ſie 
herzlich küßte; dort grüßte ſie verſchämt ein halb erwachſenes 
Mädchen, der ſie die friſche rothbraune Wange ſtreichelte; hier 
rief fie durch das Fenſter hinein einer ganzen Bauernfami—⸗ 
lie, die ſchon beym Abendbrod ſaß, ein treuherziges: Wohl be⸗ 
komm's! und wo ein Kopf mit weißen Haaren bey'm Schall 
der Abendglocke ernſt ſich neigte, und runzlichte Hände zum 
Gebeth ſich falteten, ging ſie ſtumm mit ehrerbiethigem Gru— 
ße vorüber. Mit Achſelzucken ſah die Witwe Cordeliens Thun 
an, fie nickte vornehm nachläſſig links und rechts; der Ritt⸗ 
meiſter aber wurde oft nach vielen Stunden ſich's da wieder 
bewußt, daß er ein Herz in ſeiner Bruſt trage. 

Ohne einander je zu ſuchen, mußten Horſt und Cordelia 
einander oft begegnen. Sie fanden ſich bald auf dieſem oder 
jenem Lieblingsplatze im Garten, bald in der Bibliothek, bals 
in der Hütte des Nothleidenden. Anfangs gab es nur einen 
freundlichen Gruß, einige flüchtige Worte; und jedes ging 
wieder feinen Weg. Aber mit jedem Mahle wuchs Horſts Freu— 
de an einem ſolchen zufälligen Zuſammentreffen; heute zögerte 
er lange, morgen noch länger, die Stelle zu verlaſſen, wo 
er ungeſtört das Mädchen ſehen und ſprechen konnte, deren 
Seelenwerth er von jeher erkannt hatte, deren Liebreitz ſich 
nun fo mächtig anziehend vor ihm entfaltete. Die nahe Ser 
fahr, ſich von ihr feſſeln zu laſſen, ahnete er nicht; denn wann 
hatte er je ein volles Jahr gebraucht, ſich zu verlieben? Auch 


110 


war er redlich, und feſt überzeugt, er liebe noch ſeine Braut; 
daß er ſich nicht wie ſonſt zu ihr hingezogen fühlte, komme 
daher, weil ſie ſich für den Augenblick wirklich nicht liebens⸗ 
würdig zeige; doch eine andere Zeit würde eine andre Stim⸗ 
mung bringen, und ſie würden unverändert ſich einander wie⸗ 
der nähern. So ließ er forglos die alte Neigung einſchlum⸗ 
mern, und eine neue in ſeiner Bruſt erwachen. Cordelia war 
noch ganz unbefangen. Sie war es gewohnt, in jedem Ver— 
hältniß des Lebens Wohlwollen mit Wohlwollen zu taͤuſchen; 
darum ſuchte kein weibliches Weſen weniger, als ſie, in dem Um⸗ 
gang mit Männern eine beſondere Beziehung. Die Art ihrer 
Bildung hatte ſie vor übergroßer Weichheit des Herzens, wie 
vor jeder Steigerung der Phantaſie bewahrt; ſie ſah mit Freu⸗ 
de, daß Horſt weit beſſer und edler ſey, als er unter Vielen 
ſich zeigte; ſonſt hatte ſich in ihrer Stellung zu ihm nichts 
verändert. 

Die Frauen wollten eines Nachmittags nach einem benach⸗ 
barten Dorfe fahren, wo eben Jahrmarkt gehalten wurde. 
Horſt hatte Briefe zu ſchreiben, und ritt ſpäter nach. Er war 
die Anhöhe luſtig hinauf getrabt; jetzt ſah er ſich nach dem 
Wagen um; — in einer Entfernung von etwa zweyhundert 
Schritten lag er umgeworfen an der Straße. Bey dieſem Ans 
blicke fühlte Horſt fein Herz wie vom Stiche eines Dolches ge⸗ 
troffen, und Cordeliens blutiges, entſtelltes Bild ſtand vor 
feiner Seele; ja, ihr Nahme war es, den er ausrief, indem 
er feinem Pferde die Sporen gab, und mit verhängtem Zü⸗ 
gel hinritt, dort wo er vielleicht noch helfen, noch retten 
konnte. Leichenblaß lehnte die Baronin an einem Baume, 
Cordelia, die an der Stirne blutete, unterſtützte fie. Horſt über- 


111 


zeugte ſich bald, daß nur der Schrecken ſeine Braut in dieſen 
Zuſtand verſetzt, daß auch von den Leuten Niemand Schaden 
genommen hatte. 

Ein pferd hatte in einer Grube des ſehr ungleichen We— 
ges ein Bein gebrochen, und ſein Fall den Sturz des Wa— 
gens nach ſich gezogen. Horſt wiſchte ſich den Angſtſchweiß von 
der Stirne, unverwandt ſah er Cordelien an, die ihn lächelnd 
verſicherte, es ſey nur die Haut etwas geritzt, und ſie habe 
nicht einmahl Hoffnung auf eine Narbe. Für den Tag war den— 
noch an keine Luftfahrt mehr zu denken: Horſt both beyden 
Frauen den Arm, ſie nach dem Schloß zurückzuführen. Die 
Baronin ſprach viel von der beſtandenen Gefahr, von dem er— 
littenen Schrecken. Cordelia dachte nicht weiter daran, muthig 
und freudig ſtrahlte ihr Auge im Wiederſchein der Abendſon— 
ne, gleichgültig drückte ſie von Zeit zu Zeit ihr Tuch an die 
noch blutende Stirne. »Schmerzt es noch?« fragte Horſt mit 
bewegter Stimme, und drückte leiſe ihren Arm. Für die Ba⸗ 
ronin hatte er auf dem ganzen Wege weder Wort noch Blicke; — 
war ſie doch ausſchließend mit ſich ſelbſt beſchäftiget. Die Nacht 
hindurch ließ der Gedanke an alle möglichen Folgen einer Kopf— 
wunde ihn nicht ruhen; und nun konnte er nicht länger ſich 
ſelbſt verhehlen, wen, und wie innig ſchon er liebe. Aengſtli⸗ 
che Gewiſſenhaftigkeit lag nicht in ſeinem Weſen; doch Betrug 
und Verrath ſtand tief unter ihm. Nichts gab ihm ein Recht, 
mit der Witwe zu brechen; ſo mußte er denn von nun an 
Cordelien melden, und wo möglich vergeſſen. Er hatte es be— 
ſchloſſen; er wollte es vollführen; die Stunden, die er nicht 
an der Seite ſeiner Braut verlebte, brachte er jetzt alle im 
Sorfte zu, und zwar im entlegenſten Theil der Waldung, wo 


112 


ihm Cordelia nicht eee wo ihr Geſang nicht zu ihm drin⸗ 
gen konnte 8 

Beyde Frauen wunderten ſich über die unerſättliche Jagd⸗ 
luſt, die ihn ſo plötzlich angewandelt hatte. Doch die Wit— 
we ſah den Jäger milder und gefälliger, als er ſich je gezeigt: 
denn ſo ſtimmte ihn gegen ſie das Gefühl ſeines Unrechts: 
und mit ſeinem Benehmen zufrieden, forſchte ſie nicht nach 
ſeiner Empfindung. Cordelien fiel es Anfangs unangenehm 
auf, daß er kälter, abgemeſſener ſie behandelte, daß er jedem 
längeren Geſpräche, jedem Alleinſeyn mit ihr auswich; doch 
bald hatte ſie ſich's aus dem Sinne geſchlagen: ſie freute ſich 
hier zu innig des Daſeyns, um einem drückenden Gefühle 
lange nachhängen zu können. Sie wurde nun mehr und mehr 
im Dorfe einheimiſch: in vielen Haushaltungen wurde fie als 
ein Glied der Familie angeſehen, und mit Recht; denn ſie theil⸗ 
te Sorgen und Freuden, arbeitete, und aß mit, und fühlte 
ſich in dieſem freyen, reinmenſchlichen Verkehr ſehr glücklich. 
Horſt, der fie unwillkührlich beobachtete, und ſie ſtets mit heite⸗ 
rer Stirne, mit ungetrübtem Blicke ſah, ſagte zu ſich ſelbſt: 
„Gottlob! fie liebt mich nicht;« und mußte doch darüber 
ſeufzen. 5 

Die Witwe baute nun manches Luftſchloß, deſſen Grund⸗ 
ſtein die jetzige Stimmung ihres Bräutigams war. Sie war 
ſich's bewußt, eben nicht durch Liebe und Milde ſelbe herbey— 
geführt zu haben; alſo ließ auch ee ſich etwas abtrotzen; und 
was konnte zu ſchönern Hoffnungen berechtigen, als dieſe glück⸗ 
liche Entdeckung? Zunächſt würde er den Landaufenthalt um 
mehrere Wochen abkürzen müſſen, dann dieſe und jene Gril⸗ 
le, die ihrer Zufriedenheit in der Gegenwart, oder in der Zu— 


113 


kunft drohte, eben fo aufgeben. Der erſte ihrer Wünſche ſoll⸗ 
te noch ſchneller, als ſie es dachte, in Erfüllung gehn. Eine 
Krankheit, vor der ſie ſchon in ihrer zarten Kindheit hatte 
zittern gelernt, das Scharlachfieber, brach im Dorfe aus. Bey 
der erſten Nachricht davon zeigte ſich die Witwe fo ganz al- 
ler Faſſung beraubt, daß Horſt ſich verpflichtet hielt, für fie, 
und zwar in ihrem Sinne zu handeln. Er traf in Eile alle 
Anſtalten zur Abreiſe, und nach Verlauf einiger Stunden hatte 
man, zum größten Troſte der Baronin, ſchon Schloß und Dorf 
weit hinter ſich gelaſſen. Doch war nicht daran zu denken, vor 
der Nacht die Stadt zu erreichen. In einer Herberge, die auf 
halbem Wege an der Straße lag, konnte man ſich ein erträg⸗ 
liches Nachtlager verſprechen. Die Baronin bedurfte ſehr der 
Ruhe, ſogar Cordelia ſchien angegriffen; Horſt ließ halten vor 
der Herberge, in der ſich wirklich Alles ziemlich wohl beſtellt 
fand. 

Die Sonne ſtand ſchon hoch am Himmel; alle Reiſenden, 
die in der Herberge übernachtet hatten, unſere ausgenommen, 
waren ſchon längſt wieder auf der Straße; die Witwe und 
ihr Bräutigam ſtanden nun auch reiſefertig da: Cordelia ließ, 
gegen ihre Gewohnheit, auf ſich warten. Die Baronin trug 
einer Magd auf, ſie zu hohlen; aber die Magd kam zurück 
mit der Nachricht, Cordelia habe ſchon zweymahl aufzuſtehn 
verſucht, und es nicht vermocht; ſie ſcheine ſehr krank; ihr 
Geſicht ſey ganz ungewöhnlich gefärbt. — Der Ausſchlag! ſchrie 
die Baronin: ſie ergriff Horſts Arm, zog ihn mit ſich zum Haus 
hinaus, und bald hörte Cordelia das ſchnelle Fortrollen des 
Wagens. Es überfiek fie ein banges Gefühl ihrer Verlaſſen⸗ 
heit. So gehn ſie denn Beyde von mir, dachte ſie, — ohne ein 

2 


114 


Zeichen der Theilnahme, das man doch ſonſt dem gleichgültig⸗ 
ſten Menſchen nicht verſagt, wenn er leidet ... Sie fühlt 
zwar immer nur fin ſelbſt, aber er, der ſonſt fo menſchlich 
empfindet! 

Indeſſen ſaß Horſt betäubt, Spb ch im Wagen neben 
‚feiner Braut, die mit der größten Erbitterung über Cordeliens 
Leichtſinn ſich ausließ; denn fie vermuthete nicht ohne Grund, 
ihre Geſellſchafterin habe die Gefahr der Anſteckung wenig ge⸗ 
achtet, vielleicht gar einige kranke Kinder, die unter die Zahl 
ihrer Lieblinge gehörten, befucht und gepflegt. 

In der Stadt angelangt, bemerkte nun erſt die Baronin, 
wie verſtört ihr Reiſegefährte ausſah, und erinnerte ſich, daß 
er ſeit vielen Stunden keine Sylbe geſprochen hatte. »Mein 
Gott!“ rief fie aus, »auch Sie bekommen noch den Aus⸗ 
Schlag: « — »Ich werde, wenn Sie befehlen, die ſtrengſte 
Quarantaine halten,« antwortete Horſt, und ließ ſich wirklich, 
aus mehr als einem Grunde, mehrere Tage nicht bey ihr ſe⸗ 
hen. Was die Menſchlichkeit ſchon von ihm gefordert hätte, ge⸗ 
both ihm dringend ein mächtigerer Trieb: ſchon am andern Mor⸗ 
gen war er wieder in der Herberge; er brachte einen Arzt. 
Dieſer ging allein in Cordeliens Zimmer, und als er nach 
kurzer Zeit wieder heraus trat, erklärte er ihren Zuſtand für 
ſehr bedenklich; fie habe, ſagte er, nur wenig Pflege genof- 
ſen, und dieſe ſey, wie ſo oft, zweckwidrig geweſen. Er woll⸗ 
te nun mit den Hausleuten ſprechen, und es verſuchen, ſie 
menſchlicher und verſtandizer zu machen. Gehen Sie indeſſen 
zu der Kranken, ſprach er zu Horſt, ſie darf wahrlich nicht 
allein ſeyn. 

In allen ernſten Stunden des Lebens, wo das Unwürdi⸗ 


— 
119 


ge unmöglich wird, verſchwindet auch der Gedanke an das Un: 
ſchickliche. Als Horſt zu Cordeliens Bette trat, hieß fie ihn herz 
lich willkommen, und dankte ihm innig für ſeine Theilnahme, 
für feinen Beſuch. »Ich bedurfte dieſes letzten Troſtes fehr,« fprach 
fie. — »Cordelia! nicht dieſe Sprache,“ bath er; »Sie wiſſen 
nicht, wie fie mir durch die Seele ſchneidet!« — „Warum?“ 
fragte die Kranke; „ſterben iſt wohl nie ein Uebel, und am 
wenigſten für mich: kein Band feſſelt mich an die Erde, dar: 
um kann ich leicht von ihr ſcheiden; ich fand ſie zwar ſchön; 
aber ich glaube an das Schönere, das mein Auge nicht 
ſah. — — Nur verlaſſen ſterben, thut wehe; darum dank' ich 
Ihnen, lieber Horſt, daß Sie mein Sterbebette nicht ſcheuen. 
Und wenn es wirklich bald mit mir enden ſoll; ſo grüßen Sie 
mir noch meine guten Dorfbewohner, meine Wieſe, meinen 
Wald, und leben Sie recht glücklich mit Ihrer Braut!« — 
Sie hatte aufgehört zu ſprechen, Horſt ſtand erſtarrt an 
ihrem Bette, er konnte lange keine Worte finden; jetzt nahm 
er ihre Hand, und fie fühlte die feine convulſtviſch zucken. — 
» Schonen Sie meiner, Cordelia,“ ſprach er endlich mit zit⸗ 
ternder Stimme: »wahrlich! Sie wiſſen nicht, was Sie 
thun.« — — Die Wirthin machte die Thüre des Zimmers 
auf, Horſt ſagte noch ſchnell und leiſe: — »So lange ich ath—⸗ 
me, ſollen Sie ſich nicht verlaſſen wähnen,« und entfernte 
ſich. Ihm begegnete auf der Hausflur der Arzt, der einen 
Trank für die Kranke ſelbſt zubereitet hatte. Indem die Magd 
in Cordeliens Zimmer damit ging, blieb er vor dem Ritt⸗ 
meiſter ſtehn, und ſagte: „Ich will nur noch einmahl den 
Puls fühlen, der Wirthin meine ketzte Inſtruction geben: dann 
fahren wir fort.« — »Wie! Sie könnten die ſo gefährlich 
O 2 


116 


Kranke fo ſchnell verlaſſen?« — „In der Stadt warten viele, 
und auch gefährlich Kranke auf meine Zurückkunft.« — » Bey 
Gott! Sie ſollen, Sie dürfen nicht zurück nach der Stadt! 
Sie müſſen hier bleiben! « — »Wer wird müſſen?« ſprach 
mit Achſelzucken der Arzt: »Ich will nach der Stadt; doch mor— 
gen, übermorgen am ſpäteſten, fahr' ich wieder heraus.« — 
„Morgen, oder übermorgen könnten Sie leicht ſehr überflüſſig 
ſeyn. .. Wenn Ihnen das eigene Leben theuer iſt, ſetzte er 
mit drohendem Blicke hinzu, »ſo rathe ich Ihnen, es mit Diez 
ſem Leben nicht fo leicht zu nehmen. « — » Herr Rittmeiſter,« 
ſprach der Arzt ernſt aber ſehr ruhig, »mein Beruf, wie der 
Ihre, lehrt den Tod verachten, und Drohungen machten ſchon 
als Knabe mich nicht geſchmeidig.« — »Ich bin ein verächt⸗ 
licher Thor!“ ſprach Horſt, indem er ſich vor die Stirne ſchlug. 
»Doch Freund — — wüßten Sie, wie mir zu Muthe iſt! * — — 
„Ich ſehe es, ſagte der Arzt, » und fange an, zu glauben, 
daß wirklich zwey Leben hier auf dem Spiele ſtehn. — Zu⸗ 
dem, wer wird immer Menſchen zählen? ſie zu wägen 
iſt wohl zuweilen erlaubt. Ich will die entſcheidende Criſis ab⸗ 
warten. « — Horſt fiel an feine Bruſt, und drückte ihn heftig 
an ih. — »Stürmiſche Seele!“ ſagte der Arzt lächelnd; 
„ doch noch eine Bedingung! Sie gehen augenblicklich; ſolche 
Hitzköpfe können wir um Kranke nicht dulden.« — »Wann 
bekomme ich Nachricht? «fragte Horſt. — » Morgen, mit dem 
Früheſten.« — So trennten fie ſich. Die Nachrichten, die Horſt 
jeden Morgen pünctlich erhielt, waren tröſtend; aber erſt nach 
vielen Tagen brachte der Arzt ſelbſt volle Beruhigung. 

Die Baronin, welche lange nur mit Abfchen an Corde- 
lien, wie an das perſonificirte, ſie verfolgende Scharlachſie⸗ 


117 


ber hatte denken können, fing an, ſich von ihrem Schrecken zu 
erhohlen, und dachte endlich daran, ihrer Geſellſchafterin ein 
Mädchen zur Bedienung mit den nöthigen Wäſch- und Klei— 
dungsſtücken zu ſchicken. 

Mit der wiederkehrenden Geſundheit war auch die Klar: 
heit des Geiſtes, die Deutlichkeit der Erinnerung für Corde— 
lien zurückgekommen. Nun dachte ſie nur mit Beklommenheit 
des Augenblickes, wo Horſt an ihrem Schmerzenslager geſtan— 
den war. Jedes Wort, das er damahls geſprochen hatte, ge— 
wann eine neue Bedeutung, und ſie fühlte noch das Zittern 
ſeiner Hand; ſie ſah noch ſeine Bläſſe, und ſie mußte es er— 
kennen, daß Menſchlichkeit, ja Freundſchaft kein Gemüth ſo 
heftig zu erſchüttern vermöge. Es war eine andere, mächtigere 
Regung! Cordelia dachte es mit Bangen, mit Wehmuth, und 
doch mit Luſt. 

Nach vollen ſieben Wochen entſchloſi ſich endlich die Wit⸗ 
we, Cordelien abhohlen zu laſſen. Sie hatte es nicht der Mühe 
werth erachtet, ihrem Bräutigam etwas davon zu ſagen: er 
ſaß eben bey ihr, und ließ ſich geduldig von allen dem unters 
halten, was ihm höchſt gleichgültig war: fie hörten das Rol⸗ 
len eines Wagens unter dem Hausthor. Cordelia wird es ſeyn, 
ſagte hingeworfen die Baronin, und ſchon war Horſt aus der 
Thür, ja, ohne daß er es ſelbſt wußte, über die Treppe hinun— 
ter. Eben flieg Cordelia aus dem Wagen. Als fie ihn erblickte, 
fuhr ſie ſichtlich zuſammen: da ſchwand auch ihm der Muth; 
ſchüchtern both er ihr den Arm, den ſie erröthend und 
erbleichend annahm. Zum Glück lieh ihr der Reiſeanzug, 
mit dem ſie nicht anſtändig im Salon erſcheinen konnte, 
den ſchicklichſten Vorwand, nicht in dieſem erſten Augen⸗ 


118 


blicke der Beſtürzung vor der Baronin zu erſcheinen. Horſt wur⸗ 
de mit einigen Spöttereyen über feine ritterliche Galanterie 
gegen eine Untergebene empfangen. — »Zu ihrer Untergebenen 
hat die Hülfloſigkeit ihrer Lage fie zwar gemacht,“ ſprach er; 
„doch mir iſt die Tochter eines braven Offiziers, wo ich fie 
antreffen mag, ebenbürtig, und wäre auch nicht zum leber⸗ 
fluſſe ihr Vater ein Edelmann geweſen.« — Er nahm den Hut, 
und ging. Die Witwe ſah erſtaunt und beleidigt ihm nach; ein 
Gedanke, der bis zu dieſem Augenblick ſehr ferne von ihr ge— 
blieben, drang ſich ihr auf; doch eben trat Cordelia mit unſi— 
cherem Schritt, mit bleichen Wangen, anſtändig, aber ſehr 
einfach gekleidet zu ihr. Die Baronin warf einen Blick auf die 
glanzloſe Erſcheinung, einen anderen auf den Spiegel, und 
dachte: es iſt nicht möglich! N 
Cordelia ſah manche Vorbereitung zu einer nahen Verän⸗ 
derung des Hausſtandes, und hörte von der nun ſchnell her— 
anrückenden Verbindung des Brautpaares. Sie ſchalt ſich ſelbſt 
eine Träumerin, verbannte die Erinnerung, geboth ihrer 
innerſten Ueberzeugung Schweigen; und doch ſtand Horſt nie 
ihr gegenüber, ohne daß ſie ſich's von Neuem bewußt worden 
wäre, daß er fie, und nur fie liebe. Beyde litten unſäglich viel; 
aber fie beherrſchten ſich. 5 
Cordelia ſann auf Mittel das Haus der Baronin verlaſ— 
en zu können, ehe Horſt als Herr es beträte. Zartgefühl und 
Stolz forderten es von ihr, in keinem Verhältniß der Abhän— 
gigkeit zu ihm zu ſtehen. Sie wollte ſich an irgend einen ſtille— 
ren Hauskreis anſchließen, und unter dem Schutz einer bejahr— 
ten Frau ſich von der Arbeit ihrer Hände ernähren. Sie hatte 
ſich in dieſer Abſicht nach weiblichem Umgange in der Nach— 


119 


barſchaft umgeſehen, und ſchon eine Familie gefunden, die 
ſich willig zeigte, fie aufzunehmen, und der fie mit der Zeit ſich 
leicht anzupaſſen gedachte. 

Nach einigen Tagen, die ſie größten Theils in dem Kreiſe 
ihrer neuen Bekannten zugebracht hatte, ſah ſie nun wieder 
ſich gezwungen, viel um das Brautpaar zu ſeyn. Ein neuer 
Schauſpieler machte viel Aufſehen: die Witwe, die ſtets mit 
dem Strome ſchwamm, wollte keine Vorſtellung verſäumen; 
und Wohlſtands halber mußte die Geſellſchafterin in der Loge 
neben ihr ſitzen. Umſonſt ſuchte Cordelia dem gefeyerten Schau⸗ 
ſpieler ungetheilte Aufmerkſamkeit zu ſchenken; ſie hörte nur 
zu wohl, wenn Horſt die Logenthüre aufmachte, und feine be- 
wegte Stimme, wenn er ſorach, und feinen ſchnellen Athem, 
wenn er ſchwieg. Was auf der Bühne Rührendes, Erhebendes 
geſprochen wurde, fühlte ſie unwillkührlich in ſeiner Seele. 

Unbedeutend war Horſt ihr nie erſchienen, gleichgültig war 
er ihr ſeit dem Augenblicke nicht mehr, in welchem fein Ge— 
fühl ſich verrathen hatte: und bald ſollten die großen Weltbe⸗ 
gebenheiten wie die kleinen Verwickelungen des Lebens dazu 
beytragen, ihn vor ihren Augen immer höher zu erheben, ihn 
ihrem Herzen immer näher zu bringen. 

Die öffentliche Stimme kündigte die Erneuerung des Krie— 
ges an. Horſt hätte zu jeder Zeit, in jeder Lage freudig wie⸗ 
der zu den Waffen gegriffen; jetzt ſcholl der Kriegesruf ihm, 
wie dem Gefangenen das Klirren ſeiner fallenden Ketten, 
wenn eine milde Hand fie löſet, wie dem halb verſchmachteten 
Seekranken das Geläute vom Thurme des nahen Hafens. Der 
hehre Ruf verſprach ſtatt eines langen matten Lebensganges 
an der Seite der nicht geliebten, kaum noch geachteten Gefähr⸗ 


120 


tin ein raſches thatenvolles Leben, oder einen ſchnellen rühmlichen 
Tod. Seit Langem war es ihm nicht vergönnt geweſen, die 
Stimme feines Herzens laut werden zu laſſen; dieſe Wün⸗ 
ſche, die ſe Hoffnungen durfte er ausſprechen: und begeiſtert 
fprach er fie aus. Wäre feine Braut irgend einer Art der Be⸗ 
geiſterung fähig geweſen; hätte ſie an feinem Stande außer 
der glänzenden Uniform etwas geachtet; hätte Ein Mahl nur 
ihr Auge im Abglanz ſeiner künftigen Thaten ſich verklärt; ſo 
würde ſein Herz ſich vielleicht wieder derjenigen zugewendet 
haben, an die doch ſein Wille, ſeine Geſinnung ihn feſt band. 
Doch erweckten die Aeußerungen ſeines kriegeriſchen Sinnes 
bey ihr nur Unmuth; ſo richteten ſich dann an Cordelien ſeine 
Worte, ſeine Blicke, und ſie drangen um ſo tiefer in ihre 
Seele, je mehr fie ſich zwang, fie unbeantwortet zu laſſen. 

Ein frohes und ſchmerzliches Leben, im Innerſten fühlend und 
bewahrend, wußte Cordelia oft vom äußeren Leben wenig; 
ſie ließ in ſtummer Ergebung mit ſich ſchalten. So ſaß ſie ei⸗ 
nes Abends wieder in der Loge, ohne vorher gefragt zu ha— 
ben, was gegeben würde, und fie wußte es, obwohl der Vor⸗ 
hang ſchon lange aufgezogen war, immer noch nicht. Ein Nah⸗ 
me, den noch nie ihre Lippen, ihr Herz oft ausgeſprochen, weck⸗ 
te jetzt ihre Aufmerkſamkeit. — „Max!« hörte fie — Und auch 
dieſer Max wurde geliebt, und liebte hoffnungslos, und auch 
dieſer zog dem Tod entgegen, und fand ihn; denn: Das iſt 
das Loos des Schönen auf der Erde. — Corde⸗ 
lia hatte, wie Thekla, ſtark ſeyn wollen, und lange die Thränen 
unterdrückt; aber bey dieſen Worten fühlte ſie, daß ſie wei⸗ 
nen, oder ſterben müſſe: ſie wankte zurück in die dunkelſte Ecke 
der Loge, drückte krampfhaft ihr Tuch auf die Augen, und 


121 


ſchluchzte aus tieferſchütterter Bruſt. Aus der Nebenloge 
ſprach eben Jemand mit der Witwe: ſo entging ihr des Mäd⸗ 
chens Zuſtand, Horſt's heftige Bewegung, und Beyde gewannen 
Zeit, einige Faſſung zu erringen. Beym Weggehen geſellte ſich 
der Bekannte aus der Nebenloge zu ihnen, und erboth ſich die 
Baronin bis zu ihrem Wagen zu begleiten. Cordelia, die wirk— 
lich einer Stütze bedurfte, nahm Horſt's Arm. Beyde ſchwie⸗ 
gen; doch war Jedes von ihnen deſſen, was in des andern Seele 
vorging, mit tiefer Rührung ſich bewußt. Die Baronin ſaß 
nun ſchon im Wagen, und Horſt hielt noch Cordeliens Arm 
fo feſt in den feinen verſchlungen, als wollte er fie nie wieder 
frey laſſen: fie riß ſich endlich los, flüſterte: »Gute Nacht, Max le 
und flieg ſchnell in den Wagen. »Gute Nacht, Thekla! Einzig. 
ewig Geliebte! « rief er ihr nach; aber das Vorüberrollen ans 
derer Wägen machte feine Worte unhörbar, und brachte ihn 
zu ſich ſelbſt. 

Im Aufruhr der widerſtreitendſten Empfindungen, bald 
hochentzückt, und bald in tiefſten Schmerz verſunken, beſchämt 
und doch gehoben, war Cordelia zu Hauſe angelangt. Die Nacht 
hindurch verfuchte fie es umſonſt, ſich wieder zu finden; erſt 
nach einem kurzen Morgenſchlummer tagte es, wie außer ihr, 
auch in ihrem Innern; und nun beurtheilte fie ſich ſelbſt mit 
der ſittlichen Strenge unentweihter Jugend. Sie hatte dem 
Verlobten einer Andern ihre Liebe geſtanden! Alſo hatte ſie ihn 
zum Verrath und Betrug, oder zum offenen Treubruche auf⸗ 
gefordert! — Sie haßte, fie verachtete ſich ſelbſt, und auch er 
mußte fie verachten. — Sie durfte nie ihn wiederſehn, ja, fie ſcheu⸗ 
te jetzt ſeinen Anblick ſo ſehr, als ſie geſtern noch ſich darnach ge⸗ 
ſehnt. Cordelia konnte nicht halb wollen: auch konnte ſie nicht 


122 

fürchten, einem Verhältniſſe, deſſen Auflöſung fie längſt beſchlof⸗ 
fen hatte, zu nahe zu treten. Wurde fie aufgefordert, die Baronin 
an irgend einen Ort zu begleiten, ihr Geſellſchaft zu leiſten, ſo 
zeigte ſie ſich ſtets bereitwillig, außer wenn Horſt auch dabey 
ſeyn ſollte; als Dritte zwiſchen ihnen zu ſtehn, war ſie nicht 
mehr zu bewegen; fie ſagte bloß, fie könne nicht, wodurch fie 
ſich manche bittere Spötterey, manchen harten Vorwurf von 
der Witwe zuzog. War Horſt, wie es öfter geſchah, ganze Ta⸗ 
ge im Hauſe: ſo war Cordelia ganze Tage außer demſelben, 
und fie gewöhnte ſich allmählich daram, ſich als Genoſſin ei⸗ 
nes andern Hauſes anzuſehn. 

Als ſie einſt auf ihrem Zimmer, wenn nicht mit frohem 
Herzen, doch mit beruhigtem Gewiſſen ſpät Abends noch recht 
emſig arbeitete, trat das Kammermädchen der Baronin mit 
geheimnißvoller und zugleich ſchadenfroher Miene herein, und 
ſagte, ihre Frau wünſche das Fräulein heute noch zu ſprechen. 
Cordelia ging hinab; fie erwartete nicht, Horſt um dieſe Stun⸗ 
de noch bey ſeiner Braut anzutreffen, und wurde durch ſeine 
Gegenwart überraſcht, und noch mehr „ als ſie ſich 
ohnedieß ſchon fühlte. 

„Wo haben Sie denn heute geſpeiſt, und die Nachmit⸗ 
tagsſtunden zugebracht ?« fragte die Baronin. »Bey Madame 
Schwarz.« — »Nicht möglich !« rief Horſt. — „Wer wird recht 
haben ?« fagte die Witwe im Ton des Triumphs, und Braut 
und Bräutigam ſahen einander an mit Blicken, die Corde⸗ 
lien ſo unerklärbar waren, als ihre Worte. Nachdem die Wit⸗ 
we ſich lange genug an ihrer Verlegenheit geweidet hatte, hör⸗ 
te Cordelia von ihr, Madame Schwarz, ihre Töchter, ihr 
ganzes Haus ſtänden in dem ärgſten Ruf. — »O mein Gott! « 


123 


rief Cordelia, »warum haben Sie mich nicht früher gewarnt ?« — 
„Wußte ich denn, was Sie thaten, wo Sie waren? und hab 
ich je etwas Anderes von Ihnen erlebt, als Eigenſinn?« — 
Cordelia ſtand vernichtet da: ſie bedeckte das Geſicht mit bey⸗ 
den Händen: ſie konnte Horſt's mitleidige Blicke nicht ertragen. 
— »llehrigens,« hub nach einem Augenblicke des Stillſchweigens 
die Baronin wieder an, »ſind Sie weit gkücklicher, als es Ihre Un— 
vorſichtigkeit verdiente. — Sie ſcheinen überhaupt vom Schickſal 
die Vergünſtigung erhalten zu haben, ungeſtraft Thorheiten 
zu begehen. Ein Mann, der Sie in dieſem verrufenen Hauſe 
kennen lernte, der reichſte Wechsler unſerer Stadt, hat heute 
Morgens bey mir um Ihre Hand angehalten.« — „Herr Will?« 
fragte Cordelia. — »Er ſelbſt'« — »Doch ob er, oder ein Anz 
derer,“ fuhr Cordelia fort; »was liegt daran? Sie können 
leicht begreifen, daß ich Keinem von denen, die ich dort ken⸗ 
nen lernte, je meine Hand reichen werde; denn fie wuß⸗ 
ten, wo fie waren.« — »Wahrlich!« fagte die Baronin, 
»dieſe Strenge in Ihrer Lage — — ſehen Sie denn nicht ein, 
wie ſehr Ihr guter Ruf gelitten haben muß? « — »Ich habe 
vielleicht ſcheinbar meinen ganzen weiblichen Werth verloren, « 
antwortete Cordelia; » ſoll ich darum ihn wirklich verlieren? 
ſoll ich dem Manne, den ich nicht lieben, und nicht achten 
kann, Neigung heucheln um feines Geldes willen ?« Sie blick— 
te auf, und ſah ſich fragend um; aber Horſt war verſchwun— 
den: die Baronin zuckte mitleidig die Achſeln, und ging nach 
ihrem Schlafzimmer. 
So ſteh' ich denn ganz allein auf der weiten Erde! dachte Cor⸗ 
delia. Immerhin, wandfe ich ihn nur ſchuldlos bis ans Ende mei— 
nen öden Pfad! — Sie bethete lange und ſchlief dann ruhis ein. 


124 


Am früheſten Morgen ſchrieb fie an den Pfarrer des Dor— 
fes, wo ſie ihre Kindheit und erſte Jugend verlebt hatte. Sie 
bath ihn, auf einige Monathe, vielleicht auf Wochen nur, ſei⸗ 
ner Nichte, ihrer Jugendgeſpielin zu erlauben, ihr Stübchen 
mit der Heimathloſen zu theilen. Dort, fo nah’ am Grabe ih— 
res Vaters, würde wohl, dachte fie, Troſt und Rath ihr wer— 
den. Sie hatte geſchrieben und wollte ſiegeln, da trat Horſt 
in ihr Zimmer, ſo munter, wie ſie ſeit den Abenden im Hauſe 
der Räthin ihn nicht mehr geſehn hatte, und mit der muthwil— 
ligen Miene von damahls ſetzte er ſich ihr gegenüber, und ſag⸗ 
te: „Liebe Cordelia! ich bin gekommen, Ihnen alle Gründe 
aufzuzählen, aus denen Sie nothwendig heirathen müſſen.« — 
„Ich bitte, mich damit zu verſchonen.« — »Das kann ich nicht !« 
Und ſchnell fortfahrend ſagte er: »Sie müſſen heirathen, weil 
Sie zu gut, zu hübſch, zu unerfahren, zu eigenſinnig ſind, 
um ohne Schutz, ohne Freund, ohne Rathgeber leben zu kön⸗ 
nen; Sie müſſen heirathen, weil Sie ſonſt einen ehrlichen 
Menſchen unglücklich machen; — weil « — fo ſprechend war 
er Cordelien immer näher gerückt. — Unwillig ſtand fie auf, 
entfernte ſich viele Schritte von ihm, und ſprach: »Laſſen Sie 
mich! Ihren Spott verdiene ich nicht; Ihr Mitleid, Ihre 
Theilnahme verlange ich nicht. Ich werde nicht, ich werde nie 
heirathen.« — » Auch mich nicht ?« fragte er nun halb muth— 
willig, halb furchtſam. — Ueberraſcht ſah Coedelia ihn an; 
der Ausdruck unausſprechlicher Zärtlichkeit hatte ſich über ſei⸗ 
ne Züge, über feine ganze Geſtalt ergoffen. — »Thekla!« rief 
er, und breitete die Arme aus: — — überwältigt von ihrem 
Herzen flog ſie auf ihn zu: ſchon wollte er ſie umfaſſen: — 
„Gott! nein, wir dürfen nicht!« ſprach fie. — »Wir dürfen! « 


125 


ſagte er im feſten Tone: »Ich bin frey! — Ich hätte der, die 
ich mir zur Braut gewählt hatte, mein Glück opfern können; 
doch ſie verlangte das Opfer meiner Ehre! — Sie geben mich, 
oder ihren Degen auf, ſprach ſie geſtern: und wahrlich, auch 
um Deinetwillen, Cordelia, würde ich ihn jetzt nicht niederle— 
gen ?«— »Und darum,« ſprach Cordelia, »bin ich dein?« Und 
in der innigſten Umarmung begrüßten ſich die ſtarken gleichge— 
ſtimmten Seelen. In dieſem Augenblick machte die Baronin 
die Thüre des Zimmers auf. — »Gnädige Frau,“ ſprach Horſt, 
ſchnell gefaßt, und ſehr ernſt, »hier iſt meine Braut!« — 
„Meinen Glückwunſch! und zugleich mein Bedauern! Sie wer— 
den manche unangenehme Bemerkung über Ihre neue Wahl 
dulden müſſen.« — »Von Frauen muß man fie dulden,« fagte 
Horſt; »Männern wird der antworten, den Cordelia mir er— 
laubt, zeitlebens nebſt ihr an meiner Seite zu führen.“ 


Joſephine Perrin, geborne von Vogelſang. 


126 


Abſchied von Bien 


November 1822. 


— 


5 wohl, o Wien! Drey Tage ſind verſtoſſen, 
Und morgen Früh hält ſchon — 
Nicht Gott Apoll mit ſeinen Feuerroſſen — 
(Denn Nebel find auf uns herabgegoſſen) 
Nein — an dem Wagenſchlag der Poſtillion. 


Drey Tage nur, — und wären es drey Wochen, 
Zu wenig für Ertrag 
Des Forſchens, wo wir Blüthen kaum gebrochen, 
Wo Herrliches, das fern uns angeſprochen, 
Noch unbenutzt; und doch zur Seite lag. 


Drey Tage nur! — Sie ſchwanden, gleich Minuten, 
Im wechſelnden Genuß 

Des Schönen, immer einend ſich dem Guten! 

So eilen deiner Donau raſche Fluthen 
Im nimmerraſtenden Erguß! 


227 


und nur verſtattet war's zu überblicken, 

Was deine Grenze faßt: 
Denn meilenlangen Naum, getheilt durch Brücken, 
Die Plätze all, vie deine Mitte ſchmücken , 

Und deiner Kaiſer alten Vurgpallaſt; 


Wo ehrfurchtsvoll wir Joſephs Standbild *) nahteu, 
Das einfach ſich erhebt; 
Des Serrſchers, der im Ruhm vollbrachter Thaten, 
Und ſichrer noch im Keime reicher Saaten 
Für alle Zeit, in Aller Herzen lebt!: 


Wie hier ſich Zauners Kunſtwerk dem Gemüthe 
Befreundet, ſo bewahrt 

Im wechſelvollen Ausdruck, Kolorite, 

Es tief all der Gebilde Reitz und Blüthe 
Im reichen Schatz des Belveder geſchart. 


Sanct Stephan tritt aus tiefer Nebelhülle, 
Ein Geiſterbild, hervor, 
Daß es das Herz in ſeiner Wölbung Stille 
Mit Staunen, Andacht und Begeiſtrung fülle; 
Hoch ragt fein Thurm, und theilt den Wolkenftor. 


) Die Reiterſtatue von Bronze, dem Kaifer Joſeph den 
Zweyten vor der k. k. Hofbibliothek im Jahre 1806 errich⸗ 
tet; Zaun er verfertigte fie. 


128 


Des Wandrers Schritte feſſeln dieſe Säulen 
Am Porticus voll Pracht. 

Wo milde Prieſter arme Kranke heilen, 

Wo Demuth waltet, Wohlthun, Liebe weilen, 
Wird, edler Borromäus, dein gedacht! ») 


Wie preiſ' ich es, das Denkmahl, fo die Trauer 
Der beſten Gattin weiht? ) 

Hier lebt der Marmor! Wäre ſeine Dauer 

Vergänglich, dennoch bliebe dem Beſchauer 
Erinnerung für alle Folgezeit! 


Bedarf des Alterthums dieß Kunſtgebilde 
Für ächter Kenner Gunſt? 

Srabt aus im äginetiſchen Gefilde 

Daſſelbe Werk; geſammte Künſtlergilde 


Nennt es antik, und Canon für die Kunſt! 


*) Die Pfarrkirche zum h. Carl Borromäus auf der Wieden. 
Auf der dreyeckigen Spitze des auf ſechs corinthiſchen 
Säulen ruhenden Portales find in weißem Marmor die 
Verheerungen der Peſt vorgeſtellt, welche kurz vor der 
Erbauung dieſer Kirche in Wien wüthete. Zu beyden 
Seiten der Kirche ſtehn zwey hohle mit Wendeltreppen 
verſehene Säulen, an denen in halb erhabener Arbeit 
die Thaten und der Tod des Heiligen, dem die Kirche ge⸗ 
widmet iſt, dargeſtellt ſind. Die Kapitäler jeder Säule 
ſind mit vier vergoldeten Adlern beſetzt, deren ausge⸗ 
ſpannte Flügel das Geländer bilden. 


*) Uxori optimae Albertus, einfache und ausdrucksvolle Worte 


auf dem Architrave über der Eingangspforte des in der 
Auguſtinerkirche der Erzherzogin Chriſtine errichteten Denk⸗ 
mahls. 


Doch Marmor iſt vergänglich, ſelbſt aus Blöcken 
Carrara's; dauernd währt, 

Was Menſchenwohl befördert im Entdecken 

Des Reichthums der Natur, und im Erwecken 
Des Fleiſies, der die Wiſſenſchaft belehrt. 


Heil Ihm, der, dieß im hohen Sinn erwägend', 
Erzeugniſſe des Lands 
Durch Kunſt verſchönt, für Kenntniß niederlegend, 
Nacheifrung durch Belehrungen erregend, 
Der Polytechnik both den Bürgerkranz! — ) 


Daß Dürftigkeit nicht hülf⸗ und troſtlos leide 
Der eignen Arbeit Fleiß 

Die Waiſe nähre, und den Armen kleide, 

Das kräftigt, ſtützt und ſchirmt das Staatsgebäude! 
Schwer find die Mühn, doch köſtlich iſt der Preis! 


2) Das polytechniſche Inſtitut am Eingange der Vorſtadt 
Wieden, 1815 geſtiftet. Ein neuerer, ſonſt keinesweges für 
Wien partheyiſchgeſinnter Reiſender, gibt dieſer trefflichen 
Anſtalt folgendes Zeugniß: » Bey einer öffentlichen Prü⸗ 
fung wurden von vielen Schülern dieſer Anſtalt aus der 
Phyſik, allgemeinen techniſchen Chemie, reinen Elemen⸗ 
tarmathematik, Maſchinenlehre u. ſ. f. fo ſchöne Proben 
ihres Fleißes abgelegt, daß wir in Verlegenheit kamen, 
ob wir den Schülern oder den Lehrern einen höhern Tri— 
but der Achtung zollen ſollten. Doch Letztere ſind zum 
Theil ſchon durch ihre Jahr- und Lehrbücher über alles 
Lob erhaben; ein ſo einflußreiches Inſtitut konnte aber 
auch nur unter der Leitung einer ſo unermüdeten Thätig⸗ 


3 


180 


Viel iſt, o Wien, auch hier für dich gelungen, 
Wo Dank vom Krankenſaal 8 

Schon oft ſich zu den Wolken aufgeſchwungen! ) 

O fahre fort! Nichts bleibe unerrungen! 
Beharrlichkeit erreicht das Ideal! 


Kannſt du den Preis, den herrlichen, verdienen, 
Der nur für Opfer krönt, 

Wird jedes Luſtgefild dir beiter grünen, 

Wird jede Kunſt, die dir auf deinen Bühnen 
Den Abend kürzt, im Selbſtgefühl verſchönt. 


Mir aber ſey, wenn neuer Lenze Segen 

Die Donauufer ſchmückt, 
Dein Prater grünt in vollen Laubgehegen, 
Vergönnt den reichern Kranz dir darzulegen 

Aus Blumen, friſch auf deiner Flur gepflückt. 


keit, als die des berühmten Directors Prechtl, gedeihen; 
und es iſt zu hoffen, daß dasſelbe in jedem Jahre auf 
eine bohere Stufe der Vollkommenheit wird gebracht 
werden. « 

) Das allgemeine Krankenhaus, ein mit ſieben Höfen um⸗ 
gebenes, weitläufiges Gebäude, wo jährlich in 111 Zim⸗ 
mern bis 17000 Kranke auf 2000 Betten verſorgt werden. 


Arthur vom Nordſtern. 


—— 


181 


Der Leibarzt des Fürſten. 


Anekdote. 


CD 5 4 1 
Im Städtchen — ja — der Nahm' entfiel mir zwar, 

Ward von dem klugen Rath gebothen: 

»Daß in dem Buch', in dem der Todten 

Nahm', Sterbetag und Krankheit aufgezeichnet war, 

Des Arztes Nahm' auch eingezeichnet werde, 

Der ſie durch ſeine Kunſt befördert in die Erde. 

Und dieß geſchah auch ſtets mit Pünctlichkeit, 

So, daß zu jeder Zeit 

Dieß Sterbregiſter auswies, wie viel Kranke 

Ein jeder Arzt in dieſer Stadt 
Zum Himmel ſchon befördert hat. 
Fürwahr, nicht gar ſo ſchlecht war der Gedanke! 


Einſt kam ein fremder Fürſt auf ſeiner Reiſe 
Durch dieſes Städtchen; — nach der Großen Weiſe 


a 


1 


132 


Hatt' er den eignen Leibarzt auch bey ſich; 

Der aber ('s iſt doch wunderlich, 

Die Herrn vermögen auch ſich ſelbſt nicht zu curiren,) 
Ging ſchnell hinüber in das beſſ're Land, 

Wo er viel ſeiner Patienten fand, 

Die vor ihm, durch ihn mußten abmarſchiren. 

In Proſa ſey's geſagt: Es ſtarb der Medicus, 

Das machte nun dem Fürſten viel Verdruß; 

Denn der Verblichne kannte ſchon 

Die kleinen Uebel alle auf ein Haar, 

Womit der Fürſt behaftet war, 

Und wußt' ihn, — wenn auch nicht ganz zu befrey'n davon — 
Doch mindſtens ſie ihm aus dem Sinn zu ſchwätzen. 


— 


Bevor der Fürſt nun weiter reiſte, 
Wollt' er die Leibarzt-Stelle neu beſetzen; > 
Er hörte von dem Buch, und welchen Dienſt es leiſte, 
Und gab Befehl, es ſchnelle zu durchſehn, 
Und Jener, welcher von den Herrn Doctoren 
Durch Tod die wenigſten der Kranken noch verloren, 
(Der Braune alſo unter dieſen Mohren) 
Der ſollte künftig ihm zur Seite ſtehn. 


Man ging — man blätterte — man las die Nahmen, 
Oft hatten Alle ſchon des Todes Thor 
Den Leidenden geöffnet, — wen'ge kamen 
Nur unter tauſendmahl im Buche vor, 
Und unter Allen Einer nur erſchien, 
Der zweymahl erſt im Buche ſtand. — 


133 
Man ſtaunte — lief herum, bis man ihn fand, 
Und führte vor den Fürſten ihn. 
Mit Huld empfing ihn dieſer, trug die Stelle 
Des Leibarzt's dieſem Wundermann 
Mit tauſend Thalern Jahrgehalte an. 
Der Arzt ergriff das Dargebothne ſchnelle, 
Und fragte nur, wie Er dazu denn käme, 
Daß ihn der hohe Herr in feine Dienſte nähme? 
»Weil Sie — verſetzt der Fürſt — ſo wie man ſagt, 
Der beſte Arzt im Städtchen ſind, 
Der weiß, was er beginnt, und nicht bloß wagt; 
Und weil im Sterbebuch Ihr Nahm' nur zwey mahl ſteht. 
Da ſprach, verwirrend ſich, der Arzt geſchwind: 
» Ach, Durchlaucht! — welch ein Glück für mich, mit Danke 
Erkenn' ich's, ach, wie ſchnell es mit mir vorwärts geht, 
Erſt geſtern kam ich von der Univerſität, 
Behandelte im Städtchen erſt zwey Kranke. « « 


J. F. Caſtelli. 


134 


u 


Der brennende Bufd. 


Seyd ihr deſſen kundig, Schweſtern, 
O ſo deutet mir den Traum, 

Der bey Abendroth mich geſtern 
Schreckte unterm Fliederbaum! 


Zephyr warf mir Blüt' um Blüte 
Lieblich flüſternd in den Schoos, 

Und das Licht, das fern verglühte, 
Streute Roſen auf das Moos. 


Schmachtend goß die Nachtoviole 

- Rings umher den Liebeshauch, 
Und die feurigſte Pirole 

Schluchzte ſüß im Holderſtrauch. 


Bey der Tön' und Düfte Wogen 
Schlug mein Herz im Buſen tief, 
Bis, wie von Magie gezogen, 
Ich erſt laß ward, dann entſchlief. 


Jetzt umgab mich Nacht und Schweigen; 
Nur in längern Pauſen drang, 

Und wie von entferntern Zweigen, 
Zu mir der Pirole Sang. 


Aber nein! ich ſah fie ſitzen 
Auf dem Aſt nun über mir, 
Sah die hellen Aeuglein blitzen, 
Recht, als wär' ich theuer ihr. 


Und — welch unerklärlich Wunder! — 
Wie vom Blitz entzündet, ſtand 

Schnell der blühende Hollunder, 
Unverſehrt zwar — doch in Brand. — 


Blüten Funken — Blätter Flammen — 
Stamm und Aeſte Kohlen gleich — 

Tief erſchreckt fuhr ich zuſammen, 
Wurde ob des Vogels bleich. 


Doch der glich dem Salamander, 
Ob er ſchon verändert ſchien — 

Denkt euch — Vetter Alexander 
Lauſchte durch das Feuergrün! 


Feuer zeigt ſich gern den Bräuten, 
Wie das Traumbuch klärlich ſagt; 

Doch — auf was Pirolen deuten, 
Hab' ich's, ach! umſonſt befragt! 


F. Kind. 


136 


ener 


Ss Silber einer Quelle ſchwamm, 
Beſchattet von dem Blumendamm, 
Ein Fiſchlein gar zufrieden, 

Und dachte: »Fröhlich iſt es hier 
Im hellen Vorn, es wurde mir 
Ein ſchönes Loos beſchieden! 


Da flattert aus den Blüthen ſchnell 
Ein Vogel an den Wieſenquell 
Zum Mittagstrunke nieder, 
Und nippet, ſpiegelt ſich, und prahlt 
Mit ſeinem Fittig, bunt gemahlt, 
Und blähet fein Gefieder. 


Hier ſchauet er in ſtiller Fluth 
Das Fiſchchen leicht und wohlgemuth 
Auf grünem Mooſe wallen, 
Und ſpricht: »Ey, Fiſchlein, komm heraus! 
Wie mag dir nur das kalte Haus 
Von Schlamm und Sand gefallen? 


137 


„O kennteſt du die Seligkeit 

Zu fliegen in den Lüften weit 
Hin über Thal und Hügel! — 

So bitte nur die Waſſerfee, 

Sie ſchöpfet Nebel von der See, 
Und webet ihn zum Flügel!“ 


Des Fiſchleins kleine Seele ſchwoll, 
Es hörte leid⸗ und ſehnſuchtsvoll 
Des Lockers Worte klingen, 
Und ſieh: der Schuppenpanzer wich, 
Die zarten Floſſen dehnten ſich 
Zu waſſerblauen Schwingen. 


Es ſchwebte mit der Wunderkraft 
Der neuen Gabe kühn der Haft 
Aus weicher Spiegelwelle, 
Und ſchwang ſich über Buſch und Bach 
Dem flüchtigen Verführer nach 
Als grünliche Libelle. 


Doch bald entflieht der loſe Wicht, 
Der neue Vogel kann ſich nicht 
Mit ſolchem Segler meſſen, 
Er hebt die müden Schwingen ſchwer, 
Und irret zagend hin und her, 
Betrogen und vergeſſen; 


Und ſuchet gern den klaren Lauf 
Des Mutterbornes wieder auf, 

Und will ſich Frieden trinken; 
Doch läßt der Helfer ihrer Flucht, 
Der Fittig, ihres Wunſches Frucht, 

Sie nicht hinunter ſinken. 


Da ſchwebt ſie klagend auf dem Schein 
Der Wieſenquelle, ſchaut hinein, 
Und küſſet ihren Spiegel: 
Und ſiehet durch das feuchte Glas 
Die Fiſchlein ſpielen auf dem Gras, 
Sehemmt von keinem Flügel. 


Sieht unten weiß und dunkelgrün 

Die Waſſerblumen lockend blühn, 
Von Silber überfloſſen, 

Und ſetzt ſich weinend an den Strand: 

Umſonſt — der Heimath Zauberlaud 
Bleibt ewig ihr verſchloſſen! 


Den Menſchen locket falſche Luſt, 
Und klopft die Wünſche ſeiner Bruſt 
Aus ihrem tiefen Schlummer; 
Geſtachelt von dem Wespenheer, 
Durchtobet er ein wildes Meer 
Von Leidenſchaft und Kummer. 


289 


Doch bald erlieget er im Streik 
Der Täuſchung und der Ettelkeit, 
Und ſeufzet nach dem Frieden, 
Der, wie ein lauer Mayentag, 
Hell über ſeiner Kindheit lag, 
Und mit ihr iſt geſchieden. 


Doch Jenem, der im Unverſtand 
Der Menſchenwürde heilig Pfand 
Verrieth an Luft und Schimmer, 
Der Unſchuld aus dem Herzen wies, 
Dem öffnet ſich das Paradies 
Des Seelenfriedens nimmer! 


Baron Schlechta. 


140 


Der Allſehende. 


Jeſus Sirach. Cap. 17. Vers 13. Ihr Weſen iſt immer 
vor ihm, und nichts verborgen. 


Hine dich in dichte Schleyer! 
Borge hellen Heuchelſchein 
Laß der Erdenfürſten Feyer 
Deines Wegs Begleiter ſeyn: 
Er, der Glanz aus Glanz erleſen, 
Welchem dient der Cherubim, 
Er erkennet doch dein Weſen, 
Es iſt immerdar vor ihm. 


Denn es iſt ihm nichts verborgen, 
Was in der Gedanken Saat, 
Aufſproßt an dem frühen Morgen, 
Aernte, wenn der Abend naht: 
Denn es iſt ihm nichts verſchwiegen, 
Was du ſelbſt dir nicht bekennſt, 
Mög’ es dunkel in vir liegen, 

Wie ein trü bes Nachtgeſpenſt. 


Seinem Auge iſt's enthüllet; 
Denn wo iſt der kleinſte Raum, 
Den ſein Wiſſen nicht erfüllet? 
Flögſt du an der Welten Saum, 
Ihn auch wirſt du immer finden; 
Drängſt in Erdentiefen ein, 
Borgteſt Flügel von den Winden, 
Immer wird er nah dir ſeyn. 


Schrecken für das Kind der Lüge, 
Schauder für des Innern Nacht, 
Wo, verwirrt in falſche Züge, 

Nur der Schein der Tugend wacht; 
Beben für die Hochgeſtellten, 

Wo hinauf das Aug' nicht reicht, 
Für die Herrſcher dieſer Welten, 
Wenn die Wange ihnen bleicht. 


Aber Wonne für den Armen, 
Den die Mitwelt arg verkennt, 
Den ſie, richtend ohn' Erbarmen, 
Hier wohl gar Verbrecher nennt, 
Und dem doch der Quell der Thaten 
Rein entſtrömt in ſtiller Bruſt, 

Und an deſſen Innern Saaten 
Hat des Ew'gen Auge Luſt. 


Aber dauerndes Entzücken 
Für der ſtillen Tugend Reich, 
Wohin nicht die Hohen blicken, 
Mißgunſt ſchielt, Harpyen gleich; 
Einem bleibt es nicht verborgen, 
Was darin im Keime ſteht, 

Und fein Lebensbauch wird ſorgen, 
Daß es auf in Blüthen geht. 


Auf in Blüthen, die voll Segen 
Duften in des Jenſeits Land, 
Woher ſchon der Hoffnung Regen 
Träufelt auf den dürren Sand; 
Wenn, was in der Lüfte Beeten 
Aufgekeimt in Ueppigkeit, 
Nicht beſteht in Lebensnöthen, 
Und dem Tode iſt geweiht. 


T h. He If, 


Auf dem Kirchhofe zu Leipzig. 


SS grüße dich, du Haus der Nacht, 
Mit deiner ſchauerlichen Pracht! 
Ich grüße dich, du gaftlıh Haus, 
Das Luſt um Qualen tauſchet aus; 
Wie eine Mutter grüß' ich dich, 5 
Die ihre Kinder ruft zu ſich, 
Und Alles, was ſie ſchmerzt und ſchreckt, 
Mit ihren Schleyern überdeckt. 


Ein froher Lebenspilger ſteht, 
Wo Nacht die Saaten ausgeſät; 
Und weiter tritt der Wandersmann, 
Und nackte Schädel ſchaun ihn an, 


Ihm winken Särge rings umher, 
Und vor ihm ſtarrt ein Knochenmeer; 
Und über all dem Schredenstag 
Erhebt der Tod den Flügelſchlag. 


So wärſt' du hier der Herr vom Haus, 
Der Meiſter du von all dem Graus, 
Du kalter Tod! du mähteſt hier, 
Wie volle Garben, Menſchen dir? — 
Der Regenbogen kündet fern 
Den Schläfern einen andern Herrn, 
Und daß, wie weit dein Reich auch iſt, 
Du hier nichts als der Diener biſt. 


Dort jener hohe Marmorſtein, 
Er ſank nun ſelbſt in's Grab hinein, 
In Staub zerfallen liegt der Sarg, 
Der andern Staub zuvor verbarg, 
Der dort iſt vom Bewohner leer, 
Hier iſt das Grab nicht einmahl mehr; 
Zerſtörung! was du eingewiegt, 
Du haſt zuletzt dich ſelbſt beſtegt. 


Wie doch ſich mit ſo ſeltner Art, 
Der Tod hier mit dem Leben paart, 
Dort trägt ein reich geſchmückter Bau, 
Statt Trauer, Eitelkeit zur Schau, 


143 


Geheim verwelket hier ein Herz, 

Mit Blumen prahlet dort der Schmerz; 
Hier ſtürmt das Leben mit Gebraus 
Durch's ernſte, ſtille Leichenhaus. 


Auch du, mein alter Gellert, hier? 
Dieß Plätzchen, wohl gebührt es dir; 
Von weißen Roſen eingefaßt, 
Umfängt's ſo eng den lieben Gaſt; 
Der Trauerweide hängend Laub, 
Es ſäuſelt über deinem Staub 
So mild, ſo leicht, ſo grambewegt, 
Daß jedes Herz hier ſchneller ſchlägt. 


Und jener graue Würfelſtein, 
Den guten Weiße ſchließt er ein. 
Das Leben, liederluſt'ger Greis! 

Es machte dir die Locke weiß: 

Da hat der Tod dir Recht verſchafft, 
Und gab dir wieder Jünglingskraft; 
Wohl dir, von dem man ſagen kann: 
Du haſt gewollt, du haſt gethan! 


Dort ſpielt der Kinder muntre Schaar, 
Die Bruſt ſo weit, das Aug ſo klar; 
Der Väter ernſter Ruheplatz 
Iſt ihnen nur ein Blumenſchatz; 


146 


Des kalten Inhalts unbewußt, 
Steigt ſelbſt aus Gräbern ihnen Luſt. 
O goldne Kindheit, ſchönſte Zeit! 
Du weißt nichts von Vergänglichkeit. 


Und noch ſo manch gebrochnes Herz 
Schläft aus hier von des Lebens Schmerz, 
Und auch ſo manche wunde Bruſt 
Iſt ſich des Dorns nicht mehr bewußt. 

Die Schläfer, welche Niemand kennt, 
Und die ein ſtolzer Grabftein nennt, 
Sie ruhen jetzt zuſammen aus, 

Wie Brüder, in demſelben Haus. 


Wer wandelt dort ſo trüb und ſtumm 
An jenem grünen Grab herum? 
Wer wohl das bleiche Weib dort iſt, 
Die Blumen mit dem Aug begießt? 
Gewiß muß unter jenem Stein 
Ihr Etwas gar zu Liebes ſeyn, 
Weil ihn die Thräne ſchier durchbricht; — 
Weib, Thränen wecken Todte nicht! 


Von ſelber aber ſtehn ſie auf, 
Und winken dir zu ſich hinauf, 
Wo Sonnen, die nicht blenden, glühn, 
Und Noſen ohne Dornen blühn: 


147 


Dort ſtehen fie im Brautgewand, 
Mit grünen Palmen in der Hand, 
Und zeigen lächelnd auf ihr Grab, 
Drum trockne dir die Thränen ab! 


Deinhardſtein. 


En) 
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148 


Geiſtliche Muſik. 


Es hält ein ſüßes Regen 
Mir Aug' und Herz und Mund und Hand gebunden; 
Wie Neues zu erkunden b 
In ſtiller Tiefe Falten, 
Schließt Auge ſich, ſchlägt Herz mit leiſern Schlägen, 
Der Mund verſtummt in Freude, 
Und, huldigend unſichtbaren Gewalten, 
Zum Bethen falten ſich die Hände beyde. 


Lind flüſtert's auf und nieder, 
Wie Frühlingshauch in duft'gen Blüthenhainen; 
Jetzt wie ein bittres Weinen 
Aus tiefem Herzensgrunde, 
Wie Jubel nun der Kinder tönt es wieder, 
Und durch die Menſchenſtimmen, 
Als brächten ſie vom neuen Liebesbunde 
Die ſüße Kunde, Himmelslaute ſchwimmen. 


„ 


5 


O Klang von Mund und Saiten, 
Drinnen ſich liebeſelig Licht und Schatten, 
Himmel und Erde gatten, 

Drin zu den Menſchenſöhnen 

Tröſtend aus hellen Räumen Engel gleiten! 
Dein Fittich tönt und rauſchet 

Mit Wonnen, die du, Welten zu verſöhnen, 
Am Quell des Schönen kindlich eingetauſchet. 


Oder herab zur Erde, 
Daß Himmliſches die Menſchen lieben lernen, 
Tönt es aus lichten Sternen? 
Will Klang aus reinen Sphären, 
Daß neuer Luſt das Leben innen werde, 
Sich über Aſchenhügeln 
Ueber Verweſungsſtaube neu gebären, 
Zu Engelschören uns emporzuflügeln? 


Will ſich mit ſeiner Liebe 
Der ganze Himmel auf die Erde ſenken, 


Ein ſchmachtend Land zu tränken 


Mit reichem Born der Gnade, 

Daß neue Kraft erwecke neue Triebe? 

Sind's Paradieſeswellen, 

Die, daß der Menſch ſich ſeiner Schuld entlade, 
Zu lauterm Bade lockend niederquellen? 


149 


150 


Willkommen, Klangesbäche, 
Die ihr, an höchſter Liebe Sonn' erke ne 
Leuchtend herangeſchwommen! 
Schlagt an des Herzens Pforte, 
Daß drin gemach die Eiſesrinde breche, 
Und frey die Flammen werden, 
Zu lodern auf in That und frommem Worte 
Zum rechten Horte, freudig von der Erden! 


Karl Förſter. 


151 


ein Kathy. 


Eine Gloſſe; an Fanny. 


Saſſet die Kleinen, und wehret ihnen nicht zu mir zu kommen; 
denn ſolcher iſt das Himmelreich. Matth. 19. V. 14. 


Eiem Silberglöcklein gleich, 

Klingt, bey treuer Aeltern Weinen, 
Welcher ſpricht: »Laßt mir die Kleinen, 
Ihrer iſt das Himmelreich! « 


An dem letzten Mayenabend, 
Sonntags, da man »Jahr der Liebe 
Achtzehnhundert achtzehn« ſchriebe; 
Kniet' allein ich, Gott nicht habend, 
Doch mein ſtarrend Herz erlabend 
Am Altar, wo ſegensreich 
Pinka fleußt; das Herz ward weich, 
Sonne ſcheidend, es erfreute! — 
Plötzlich tönte Grabgeläute, 

Einem Silberglöcklein gleich! 


Und auf's neu hinaus mich's jagte! 
„Was bedeuten dieſe Töne?“ 
Frug ich, »Man begräbt die ſchöne, 
„Kaum fünfiahr’ge Kathy!« ſagte 
Mir das Volk, das hoffend klagte, 
Und, im Abendſonnenſcheinen, 
Kniet' um's offne Grab der Kleinen! — 
Spricht gleich Gott auch tödtend »Werde!“ 
Gräßlich doch das »Erd' werd' Erde! « 
Klingt, bey treuer Aeltern Weinen! — 


Heut acht Tage ſind vergangen 
Seit ich ſie noch hab' geſegnet, 
Als ſie mir zuerſt begegnet, 
In der Kindheit Roſenprangen! 
Und heut Morgens ſchon, zur langen 
Nacht geſchmückt, mit weißen Leinen, 
Sah ich 's Kindlein, gleich der reinen 
Lilie, liegen, (ſchon beſieget 
Hatt's den Tod!) an Den geſchmieget, 
Welcher ſpricht: »Laßt mir die Kleinen!« — 


Wenig Wochen nur vergingen, 
Seit ihr lieber Karl verſchieden, 
Gleich an Alter, Lieb’ und Frieden, 
Ihr! — Kann Engeln was mißlingen? 
Auf, zu ſich, ihm nach, ſie ſchwingen, 
Konnt' er's nicht?! Schon todesbleich 


153 


Rief ſie: »Karl, ich komme gleich! « — 
Bittet für uns, heil'ge Kinder! — 
Fanny, das ſind Ueberwinder, 

Ihrer iſt das Himmelreich! — 


Einem Mettenglöcklein gleich, 

Klingt's, wenn reuend Sünder weinen, 
„Werdet wieder wie die Kleinen! 
Solcher iſt das Himmelreich!« — 


F. L. Z. Werner. 


Anmerkung. 


Dieſes kleine Gedicht iſt nichts weniger als erdichtet. Al⸗ 
des darin Geſchilderte beruht vielmehr auf wahren, mit größt— 
möglichſter geſchichtlicher Treue dargeſtellten Thatſachen, die 
der Verfaſſer zum wehmüthigen Gedächtniſſe des 81. May's 1818, 
(des dritten Sonntages nach Pfingſten) wo er das hier von je⸗ 
nem Tage Erzählte wirklich erlebte und durchlebte, in die Gal— 
lerie ſeines an lieblichen Jammerbildern überreichen Lebens 
aufzunehmen, ſchlechterdings nicht umhin konnte. Er hatte am 
vorhergegangenen Sonntage, dem zweyten nach Pfingſten, 
die erſte in ſeinem Leben gehaltene Predigt (über das große 
Abendmahl) von der Kanzel zu Pinkafeld wiederholt. Faſt uns 
mittelbar darauf ſah er das noch lebensvoll blühende engels— 
ſchöne, ſchuldloſe Opfer der reineſten Liebe, noch in voller Ju⸗ 
gendfriſche, zum erſten und letzten Mahl lebend, und weihte es 
gleichſam zur Verklärung! — a 

Karl und Kathy, beyde fünfjährig, waren die ſchönſten 
Kinder im Orte, er, der geiſtreichſte Knabe, ſie, das holdeſte 
Mädchen; nicht Blutsverwandtfchaft, etwas Höheres knüpfte 
das ewige Band ihrer himmliſchen Liebe. Karl konnte ohne 
Kathy keine Freude genießen, Kathy freute ſich auf ihrem kaum 


154 


viertägigen Sterbelager ganz außerordentlich, ihren Karl bald 
wieder zu ſehen. Wie wenige Wochen nur ihr unzertrennliches 
Leben trennten, ſo trennen auch wenige Schritte nur ihre, 
zur gegenſeitigen Verklärung reifenden Hüllen. Eine Menge 
ihrer Spielgenoſſen, Kinder aus Pinkafeld, die der Tod faſt 
um die nähmliche Zeit zu Engeln beförderte, ſind gleichſam 
die zu dieſer himmliſchen Hochzeit gebethenen Gäſte. — Möge 
dieſe treue, durch ihren Gegenſtand rührende Handzeichnung 
die tiefe und zarte Kennerin des wahren Lebens, der ſie ge⸗ 
widmet iſt, an den Dankbaren erinnern, dem ſie jetzt eine, 
Gottlob, bereits fruchtbare Freyſtatt, der ſtillen Ruhe, früher 
ſchon ein, leider, noch fruchtloſes, Veyſpiel gab des höheren 
Friedens! 75755 


155 


Die Stieftochter. 


Feindesgefahr. 


Ss Krieg mit Frankreich war auf's Neue ausgebrochen, 
die franzöſiſche Heeresfluth wälzte ſich über die Grenze, und nä⸗ 
herte ſich jetzt zum erſten Mahle einer friedlichen Gebirgsgegend, 
in deren Bezirk ſich bisher durch ein Zuſammentreffen von Um⸗ 
ſtänden die Ruhe wunderbar erhalten hatte. Mit Angſt und 
Schrecken vernahmen die Einwohner eines kleinen Landſtädt⸗ 
chens, das hier im Schooße ſchützender Hügel lag, die Nach⸗ 
richt von der drohenden Gefahr; aber Niemand erfüllte ſie 
mit ſolcher Angſt, als Frau Sebald, die Witwe eines wohl⸗ 
habenden Bürgers, die ſeit vielen Jahren hier ſtill und bes 
quem mit ihrer Pflegetochter lebte, die fie, wie man ſagte, 
und wie Chriſtine, ſo hieß das Mädchen, ſelbſt glaubte, als 
eine arme Waiſe angenommen hatte. Im Grunde war ſie das, 
und war es doch auch nicht. Ihre Mutter zwar war längſt 
todt, und ſie hatte ſie nicht gekannt; aber ihr Vater lebte, 
und war ein angeſehener Schreinermeiſter in der Reſidenz ⸗ 


156 


Wer reich oder vornehm war, ließ bey ihm arbeiten, und 
man mußte ſeine Meublen vom Meiſter Grelling beziehen, 
wenn man in ſeiner Einrichtung Anſpruch auf Eleganz machen 
wollte. Reichthum und Wohlleben herrſchte in Herrn Grellings 
Hauſe; bey dreyßig Geſellen arbeiteten in ſeinen ü verſchiede⸗ 
nen Werkſtätten; eine ſehr hübſche Frau, und mehrere wohl— 
gebildete Kinder ſchienen ihn zum eben ſo glücklichen Gatten 
und Vater zu machen, als er ſchon ein reicher Bürger und 
angeſehener Mann unter ſeines Gleichen war; aber dennoch 
wohnte kein Glück im Innern dieſer Familie. Frau Grelling 
war eine ſchöne Frau, der Meiſter hatte fie in ſchon vorge- 
rückten Mannesjahren, nach dem frühern und ſchmerzlichen Tor 
de ſeines erſten Weibes, Chriſtinens Mutter, als ein jun⸗ 
ges, blutarmes Mädchen geheirathet; er hatte ſich eine liebe⸗ 
volle Lebensgefährtin, ſeinem verwaiſten Töchterchen, an dem 
er mit inniger Liebe hing, eine zweyte ſorgſame Mutter zu 
geben vermeint. Ihre Geſtalt hatte ihn bezaubert, ihre Wirth— 
lichkeit und ihr Fleiß rechtfertigten zum Theil die Wahl ſeines 
Herzens; aber die Liebe und Schonung, die er geſucht hatte, 
fand er nicht. Die ſchöne Frau hatte übergroßes Vergnügen an 
Putz und Glanz, ſie liebte aus dieſer Urſache das Geld mehr, 
als recht war, und ſah die Tochter ihrer Vorgängerin als eine 
unwillfommene Theilnehmerin des Vermögens an, das ihr 
und ihren Kindern beſtimmt war. Sie haßte die Kleine, und 
verfolgte ſie auf jede Art. Meiſter Grelling ſah das mit Schmerz; 
aber er hatte nicht die Macht, es zu hindern; denn ſchon längſt 
hatte er ſich nach und nach, während er dem Aeußern ſeines 
Werkes mit Kraft und Thätigkeit vorſtand, die Herrſchaft des 
innern Hauſes aus den Händen winden laſſen. Seine Frau 


157 
befahl hier unumſchränkt. Ihr und ihrer eignen Kinder Vor— 
theil war ihr höchſtes Geſetz; es blieb dem geplagten Manne 
und Vater nichts übrig, als das Mädchen, welches der Zank— 
apfel in der Familie, und unſchuldiger Weiſe die Ruheſtörerin 
des Hauſes war, zu entfernen. Er ſchrieb an ſeine Schweſter, 
Frau Sebald; die fromme Matrone hatte längſt Aergerniß an 
dem Gange der Angelegenheiten in ihres Bruders Hauſe ge, 
nommen, die junge, eitle Frau war ihr ein Dorn im Au— 
ge, und Chriſtinens Entfernung aus der Nähe ihrer Stief— 
mutter, aus dem lärmenden Haufe, aus dem ſteten Anblick 
unwürdigen Zankes, der um ihretwillen entſtand, längſt ihr 
Wunſch geweſen. Sie fürchtete den Einfluß, den ſolche Auf— 
tritte und Beyſpiele auf das Mädchen haben müßten, wenn 
ſie erſt größer werden, und ihr Verſtand ſich zu entwickeln an⸗ 
fangen würde. Sie war einſam; denn ihr einziger Sohn be— 
trieb fern von ihr, in **ingen, eine große Fabrik. So ver: 
ſtand ſie ſich gern dazu, dem Wunſche ihres Bruders entgegen 
zu kommen, und Chriſtinen als ihre Pflegetochter zu ſich zu 
nehmen. Nur drang ſie, um jeden Keim der Eitelkeit aus dem 
Herzen der Kleinen zu entfernen, um ſie nicht mit der Schwä⸗ 
che ihres Vaters, und der Bosheit ihrer Stiefmutter bekannt 
zu machen, und endlich, um bey ihrer Erziehung ganz freye Hand 
zu haben, darauf, daß ihr Bruder ihr das Kind ganz abtre— 
ten, und dieß vor den Jahren der reifen Vernunft, ohne drin— 
gende Nothwendigkeit, nicht erfahren ſollte, wer ihr Vater, 
und aus welcher Urſache fie aus dem väterlichen Haufe vers 
bannt war. e 

Herrn Grelling leuchtete das Wahre, was dieſen Forderun— 
gen zum Grunde lag, wohl ein, obwohl es ihm wehe that, 


158 a 


fo gleichſam ganz auf fein liebſtes Kind zu verzichten. Aber es 
blieb ihm der Troſt, es bey ſeiner Schweſter aufs Beſte ver— 
ſorgt zu wiſſen, und ſie, ſo oft es ſeine Geſchäfte erlaubten, 
als ihr Vormund und Oheim beſuchen zu können. 

So kam das kaum vierjährige Kind in das Städtchen 
im Gebirge zu ihrer Muhme. Bald waren die erſten Eindrücke 
aus dem väterlichen Haufe verwiſcht, nach und nach verloren 
ſich auch die Erinnerungen, man hatte ihr geſagt, daß der 
freundliche Mann, bey dem ſie gelebt, und der jetzt noch et⸗ 
wa jedes zweyte oder dritte Jahr kam, ſeine Schweſter zu be⸗ 
ſuchen, ihr Oheim geweſen, der ſie aus Mitleid zu ſich genom⸗ 
men. Eine innige Liebe zog ſie zu dieſem Manne, und jeder 
feiner Beſuche war ein Feſt für das ſtille, ernſte Kind. 

Jahre reiheten ſich an Jahre, Chriſtine war zum Mäd⸗ 
chen, zur Jungfrau herangereifet. Ihre Schönheit entfaltete 
ſich wunderbar, und Frau Sebald, die ohnedieß ſehr ſtrenge 
Anſichten vom Leben und der Erziehung hatte, glaubte ihre 
Wachſamkeit verdoppeln zu müſſen, um das Mädchen, deſſen 
eigner, etwas ſtolzer Geiſt ihr ohnedieß nie eine aufrichtige Un⸗ 
terwerfung bewieſen hatte, jetzt, wo ihre Geſtalt ſich ſo vor⸗ 
theilhaft entwickelte, vor den Blicken der Männer, und ſich 
und ihr Haus vor jeder Unruhe zu bewahren. ö 

Und gerade in dieſe Zeit wachſender Beſorgniß führte der 
Himmel die allergrößte, die Annäherung eines feindlichen Hee⸗ 
res heran. Mit Zittern hatte Frau Sebald früher in Zeitun⸗ 
gen von dem Jammer geleſen, den der Krieg, und ſchon die 
bloße Nähe der Armeen, die Durchzüge u. ſ. w. über friedli⸗ 
che Gegenden gebracht Hatten, und dankbar hatte fie die Güte 
des Himmels erkannt, deſſen ſichtbarer Schutz bisher über 


159 
dieſen einſamen Thälern gewacht, und den Wogen der Ber: 
heerung gebothen hatte: Bis hierher, und nicht weiter! Jetzt 
aber follte auch dieſer verborgene Zufluchtsort in den Tumult 
gebracht, vielleicht verbrannt, geplündert werden, und, was 
ſie bisher an Andern beklagte, fie ſelbſt betreffen. Kaum daß 
ihr ſonſt verſtändiger Sinn dieſen drohenden Uebeln zu wis 
derſtehen, und ſich aufrecht zu halten vermochte, als nach und 
nach immer beunruhigendere Nachrichten die letzten Hoffnun⸗ 
gen der Ungewißheit vernichteten, und landesfürſtliche Be> 
fehle die Obrigkeiten der einzelnen Orte zu den unumgängli⸗ 
chen Maßregeln anhielten, welche eine anrückende feindliche 
Heeresmacht erforderte. Als der erſte Schrecken über das Uns 
ausweichbare vorüber war, war ihr nächſter Gedanke Flucht, 
Flucht mit ihrer ſchönen Pflegebefohlnen, und ihrer Habe zu 
ihrem Bruder in die Reſidenz. Sie rief Chriſtinen, und theilte 
ihr ihren Entſchluß mit. 

Chriſtine konnte die unbeſtimmte Angſt, das ungemeſſene, 

. auf dunkeln Begriffen ruhende Entſetzen ihrer Pflegemutter 
nicht mit ihr fühlen. Sie erkannte wohl, daß ihnen mancher 
Schrecken, manche Unruhe bevorſtehen müſſe, fo wie die Sein: 
de ſich näherten; aber ſie hatte von klugen Leuten ſo Manches 
gehört, was ihr Muth und Haltung einflößte, und fie in der 
Meinung beſtärkte, daß, das Seinige zu verlaſſen, und fremder 
Vergeudung anzuvertrauen, während man ſelbſt auf unſichern 
Wegen vielleicht vergeblich nach Schutz und Zuflucht herum irre, 
das Mißlichſte wäre, was man in ſolchen Fällen thun könne. 
So bemühte ſie ſich alſo mit allen Gründen, die fie aufbies 
then konnte, der Mutter die Beſchwerlichkeit ihres Planes 
einſehen, und ſie den Gedanken an dieſe Flucht aufgeben zu 


160 

machen. Es bedurfte aller dieſer Beſtrebungen nicht; denn nach 
drey Tagen, als die überwiegende Angſt der Frau Sebald, 
trotz Chriſtinens Vorſtellungen, dennoch faſt alle Hinderniſſe 
beſiegt, und dieſe ſich ſchweigend in ihr Schickſal ergeben hatte, 
als alle Vorſorge für die zurückgelaſſene Habe getroffen, die 
Bündel geſchnürt, und nur die Pferde noch zu beſtellen wa⸗ 
ren, da wurden dieſe unerwartet verweigert, weil ſich indeſ— 
fen die Feindesgefahr fo ſehr vermehrt hatte, daß alles Zuge 
vieh rings umher in Requiſition geſetzt, und an ein Kortfoms 
men auf den von der retirirenden Armee bedeckten Straßen 
nicht mehr zu denken war. 

Frau Sebald war tödtlich erſchrocken. Hier zu bleiben, und 
den Feind vielleicht in zwey Tagen in ihrer Stadt zu ſehn, 
war ein Gedanke, den fie zu faſſen nicht im Stande war. Zus 
dem kamen Befehle der Obrigkeit an die Hausbeſitzer, an die 
Einwohner, Vorräthe ſollten angeſchafft, Quartiere bereitet, 
und Alles zum Empfang der Furchtbaren eingerichtet werden, 
deren Einrücken man am folgenden Tage in jeder Stunde er— 
warten konnte. Frau Sebald war vernichtet. In einer dumpfen 
Verzweiflung legte ſie die Schlüſſel des Hauſes hin, ſetzte ſich 
mit wankenden Knieen todtbleich auf einen Seſſel, und ſagte: 
Jetzt weiß ich nichts mehr zu thun, jetzt ſind wir Alle verloren! 

Wollt Ihr mir erlauben, liebe Mutter, ſagte Chriſtine, 
indem fie näher trat, und mit liebevollerem Ton, als gewöhn— 
lich, fie anredete, ſtatt Euer für Alles zu ſorgen? e Ihr 
mir die Schlüſſel anvertrauen? 

Ach, Gott! rief die Alte: du, ein Mädchen von ſechzehn 
Jahren — das ſich noch nie in einer ſolchen Lage befunden? 
Das geht nicht! Die Franzoſen ſind keck, übermüthig — 


161 


Ich bin ja nicht ſchutzlos im Hauſe. Sehen ſollen ſie mich 
nicht viel, dafür iſt Anne da. Euer Anſehen wird mir Haltung 
geben, und ich bitte ja bloß, daß Ihr mir erlauben wollt, 
was an mehreren Sorgen und Arbeiten in der Wirthſchaft vor- 
fällt, Euch abzunehmen. 

Die Mat rone hob jetzt zum erſten Mahle ſeit jener Schre⸗ 
ckensbothſchaft das Haupt empor, und ſtarrte das Mädchen 
zweifelhaft an: Wollteſt du das, Stinchen? — Ach, du nähmſt 
mir eine Centnerlaſt vom Herzen! Aber nein, es geht nicht, 
du verſtehſt nicht — Und was nicht? erwiederte Stinchen: 
bin ich nicht, wenn Euer Sohn mit ſeiner Frau und ſeinen 
Kindern zum Beſuche kam, Euch in Allem an die Hand gegan⸗ 
gen? Habt Ihr mir nicht die letzten Mahle die ganze Beſorgung 
guf mein Bitten allein überlaſſen? — Nun ſeht, mehr Eins 
quartirung als Damahls Gäſte, bekommt Ihr doch in dem klei⸗ 
nen Häuschen nicht — 

Ach, daß Gott erbarm! das wäre entſetzlich. 

Habe ich damahls Alles zu ordnen verſtanden, ſo werde 
ich mich jetzt auch zu finden wiſſen. 

Aber deine Jugend, deine Wohlgeſtalt — 

Ich habe Euch ſchon geſagt, daß fie mich nicht viel zu 
ſehen bekommen werden. Das iſt auch ganz unnöthig, wenn 
nur ordentlich für ſie geſorgt wird. 

Wir haben keine männliche Seele im Hauſe, als den 
alten Gärtner. 

Genug, um Ordnung im Hauſe zu erhalten, und Aus— 
richtungen außerhalb zu beſorgen. Glaubt mir, ich habe im— 
mer gehört, die Franzoſen ſind höflich, und beweiſen Achtung 
für unſer Geſchlecht, wenn wir ſie nicht ſelbſt verwirken. 


2 


ı62 


Laßt mich nur ſorgen! — Und hiermit nahm fie die Schlüf⸗ 
ſel, rief die alte Anne und Georg zu ſich, ordnete, räumte. 
ſchaffte vom Boden herab, vom Keller herauf, und in weni⸗ 
gen Stunden trat ſie in der Muhme Zimmer, und meldete, 
daß die grüne Stube auf der Hintertreppe anſtändig zugerich- 
tet, Betten, und Alles, was die unwillkommenen Gäſte for— 
dern könnten, dahin geſchafft, durch Georg und Anne die nö— 
thigen Vorräthe in's Haus gebracht, und Alles ſo ziemlich in 
Ordnung ſey, um, wenn die Feinde einrückten, fie ruhig ſem⸗ 
pfangen zu können. Sie werden da oben wohnen, ſetzte ſie 
hinzu: Mich und Euch, Muhme, brauchen ſie nicht zu ſehen; 
was ſie bedürfen, wird ihnen Georg bringen, Anne mir in 
der Küche an die Hand gehen, und ſo, hoffe ich, wird uns 
Gott auch über dieſe ſchwere Zeit hinweghelfen. 

In Frau Sebalds Augen ſtanden Thränen der Rührung. 
Ach, dich hat mir mein Schutzengel geſandt! rief ſie: du haſt 
mir aus einer großen Noth geholfen. Mein alter Kopf taugt 
nicht mehr für ſolche Dinge. 


— — nn 


Einquartierung. 


Es war gut, daß Chriſtine dieſen Morgen Alles im Hauſe 
zu rechte gemacht hatte. Gleich nach Tiſche erhob ſich eine Un⸗ 
ruhe in den Gaſſen, Leute liefen hin und wieder, ſtellten 
ſich zuſammen, flüſterten, gleich darauf hieß es: Sie kommen! 
Man ſieht fie den Berg herunter ziehn! — Jetzt ſchallten ſchmet⸗ 
ternde Trompetentöne, Pferdegetrabe wurde von weitem ge- 
hört, und kam immer näher und näher. Sie ſind's! Sie ſind's! 


163 


ſchrie Frau Sebald, und verbarg ihr Geſicht in den Kiſſen des 
Sanapee’s. Chriſtine trat zum Fenſter, und ließ die Gardinen 
herab. Aber ſchon waren die erſten Haufen in der Gaſſe er— 
Schienen; fie ritten langſam, in ſchöner Ordnung und ſchim⸗ 
mernden Waffen daher. Chriſtine hatte ſo Etwas in ihrem 
Leben nicht geſehen, ſie konnte ſich nicht enthalten, hinter 
den Vorhängen undemerkt hinaus zu blicken, und ihr Herz 
wallte von gemiſchten Empfindungen auf, wie einer Seits Angſt 
und das Gefühl der Schmach, die Sieger ihrer Landsleute 
jetzt ſo übermüthig einziehen zu ſehen, und auf der andern 
Seite der Anblick der kriegeriſchen Schaar, die begeiſternde 
Muſik, die Zuverſicht ihrer Haltung, ſelbſt das Geräuſch ihr 
rer Pferde und Waffen, ihr Gemüth auf widerſtreitende Art 
bewegten. Nun war der Zug vorbey, fie trat zu ihrer Pfte⸗ 
gemutter, die in Todesangſt, zitternd und bleich da ſaß. Alles 
war wieder ſtill geworden, und blieb es ungefähr eine bange 
Stunde, bis ſich die Mannſchaft die Quartieranweiſungen 
verſchafft hatte. Jetzt war die Dämmerung eingetreten, im 
kleinen Zimmer Alles dunkel und ſtill, auf einmahl erſchallte 
ein heftiges Pochen an der Hausthüre, Frau Sebald ſchreckte 
zufammen, Chriſtine erhob ſich. Wollt Ihr ihnen nicht ent 
gegen gehen, Frau Muhme? ſagte ſie, und ſchlug indeſſen 
Licht mit zitternden Fingern. — Ich kann nicht — ich kann 
nicht! rief dieſe: Anne ſoll mit dir gehen. Chriſtine ſchauderte; 
es war das Unangenehnfte, was die Muhme ihr befehlen konnte. 
Sie ſtand ſtill, ſie konnte ſich eines innern Grauens nicht 
erwehren, vor die fremden, feindlichen, vielleicht rohen Män- 
ner hinzutreten. — Doch faßte ſie ſich, rief Annen aus der 
Küche, zündete ihre Kerze an, und ſchritt den Hausgang hins 


L 2 


164 


ab. Georg hatte indeß geöffnet. Zwey Cuiraſſiere in blinken⸗ 
den Harniſchen ſtanden vor ihr: ein ältlicher Mann, den der 
Goldbeſatz auf dem Aermel als einen Unteroffizier bezeich⸗ 
nete, und ein Jüngling, der ſich finſter hinter dieſem zurück⸗ 
zog, und ihm das Wort zu führen überließ. 


Chriſtine verſtand kein Franzöſiſch, der Marechal du Logis 


kein Deutſch; ſo mußte der Reiter vortreten, und überraſcht 
hörte ſich Chriſtine in ſehr reinem Deutſch anfprechen. Jetzt 
erſt ſah ſie dieſem ins Geſicht und erröthete, und ſchlug in 
höchſter Verwirrung die Augen nieder, als die Züge eines 
bildſchönen, jungen Mannes, des ſchönſten, den fie je geſe⸗ 
hen, ihr in der hellen Beleuchtung ihrer Kerze ſichtbar wur, 
den, und zwey große blaue Augen ſie mit einem düſtern Ernſt 
anſahen, den kaum ein Ausdruck der Höflichkeit milderte. Sie 
antwortete nicht ſogleich, die Stimme hatte ihr verſagt; aber 
ſie ermannte ſich ſchnell, gab kurz eine beſcheidene Antwort, 
man verſtändigte ſich, Chriſtine reichte Annen ihr Licht, und 
die Reiter gingen, von dieſer geführt, über den Hof, die Hin⸗ 
tertreppe hinan, in ihr Stübchen, deſſen Reinlichkeit an Ge⸗ 
räth und Betten die müden Krieger wohlthuend anſprach. 
Chriſtine kehrte zu ihrer Pflegemutter zurück, die das Mäd⸗ 
chen mit ſichtbarer Freude wohlbehalten von der Zuſammen⸗ 
kunft mit jenen Furchtbaren wiederkehren ſah. Dieſe war ſehr 
ſtill, und in ſich gekehrt; doch gewohnt, das Mädchen meiſt 
ſchweigſam zu finden, befremdete es Frau Sebald nicht, daß 
fie auf umſtändliche Erkundigungen nur obenhin, und kurze Ant⸗ 
wort gab. Chriſtinens Gemüth hatte einen Eindruck empfan⸗ 
gen, der zu plötzlich und zu gewaltſam gekommen war, als 
daß es ihr möglich geweſen wäre, ihn mit aller Ueberlegung 


165 


und Beſonnenheit fo ſchnell wieder zu vertreiben. Indeſſen 
gingen die Dinge im Hauſe ihren Gang fort, die Reiter wur— 
den durch Anne und Georg verpflegt, Chriſtine ließ ſich nicht 
vor ihnen blicken, und erſt am Abend des zweyten Tages, als 
fie von einer Revue nach Haufe kamen, verlangte der Unter— 
officier, der Dame des Hauſes, wie er ſich artig ausdrückte, 
ſein Compliment zu machen. Georg, dem er den Auftrag gab, 
ihn zu melden, hätte ihn gern diefer Höflichkeit überhoben. 
Frau Sebald erſchrack, als ihr der Beſuch angeſagt wurde, 
und dankte nur Gott, daß Chriſtine eben in der Veſper, und 
alſo nicht zugegen war, als die Soldaten eintraten. Dieſe be⸗ 
nahmen ſich indeſſen fehr höflich; der Jüngere mußte den Doll⸗ 
metſch machen, und Frau Sebald entdeckte nicht ohne Ver— 
gnügen einen Landsmann in ihm; denn auch er war, wie ſie, 
aus den Rheingegenden gebürtig, wohlhabender Bürgersleute 
Kind, und auf dem Punct geſtanden, bald ſelbſt Bürger und 
Meiſter in der Schreinerkunſt, der er ſich nach des Vaters 
Beyſpiel gewidmet, zu werden, als die unſelige Conſeription 
ihn traf, und mitten aus feinen Bahnen und Hoffnungen fort- 
riß. Zu ihrem Erſtaunen fand die gute Frau im Verlaufe 
der Unterredung, daß dieſe gefürchteten Unholde doch ganz 
menſchlich und höflich waren, ja, das beſcheidene Weſen und 
der Anſtrich von Mißmuth im Geſichte des jungen Landsman⸗ 
nes hatten ihm ihr Wohlwollen gewonnen. So war es ihr 
eben nicht mehr fo unangenehm, als nun Chriſtine zurückkam; 
und von der Verwirrung, mit welcher ſie den jungen Solda— 
ten, dieſer ſie erblickte und grüßte, gewahrte ſie vollends 
nichts. Die Reiter waren aufgeſtanden, der Eintretenden ih⸗ 
re Höflichkeit zu bezeigen; eine hohe Purpurgluth überſtrömte 


166 


Chriſtinens Wangen. Der Unterofficier rückte ihr galant einen 
Stuhl zurecht, und bemühte ſich in gebrochenem Deutſch dem 
ſchönen Mädchen einige Artigkeiten zu ſagen; der Jünger⸗ 
war ſeit ihrem Eintritte verſtummt, nur zuweilen fiel ein bren⸗ 
nender Blick von der Seite auf ſie, und er überhörte meiſt, 
was Frau Sebald zu fragen, oder ſein Camerad ihm zu ſagen 
hatte. 

Von dem an ſahen ſich die Hausleute und die Einquartier⸗ 
ten zuweilen. Der Marechal du Logis war bald bekannt mit 
Allen, eine gutmüthige Kriegerſeele, rauh, aber ehrlich und 
beſcheiden, wenn man feine nicht unbilligen Forderungen er— 
füllte. Aber zwiſchen den jungen Leuten hatte ein ſcheues Be⸗ 
tragen Platz genommen. Sie ſchienen ſich vielmehr zu vermei⸗ 
den, als zu ſuchen, und Frau Sebald mahnte nicht ohne Aengſt⸗ 
lichkeit ihre Pflegetochter manchmahl an die Pflicht der Höflich⸗ 
keit gegen die fremden Gäſte, die nun einmahl im Städtchen 
die Herren ſpielten, und ihren Hauswirthen, wenn ſie gereitzt 
würden, manchen Schaden zufügen könnten. Chriſtine beobach- 
tete jene Pflicht wohl gegen den Unterofficier; aber wenn fie 
dieſen anſtändig grüßte, verneigte ſie ſich kaum gegen ſeinen 
Gefährten, der feiner Seits fie nur finſter anblickte, und Beyde 
gingen ſcheu, ohne je ein Wort zu wechſeln, an einander yors 
über. N 


Rettung. 


Aber dieß war nicht das Einzige, was Frau Sebald mit 
Mißvergnügen an ihrer Chriſtine bemerkte. Ein ſeltſames 


267 


Wefſen hatte fih ihrer bemächtigt, das fonft fo befonnene‘, 
kluge Mädchen war träumeriſch, zerſtreut geworden, und alle 
Augenblicke hatte die Alte nöthig, fie an irgend Eines der ge: 
wöhnlichen täglichen Geſchäfte zu erinnern, die ſonſt wie ein 
regelrechtes Uhrwerk ſich ſtill jeden Tag wiederholt hatten. 
Chriſtine war ſtets wenig mittheilend geweſen; nun verſchloß 
ſie ſich ganz in ſich, und ſprach nichts, als was die äußerſte 
Nothwendigkeit erforderte. Das verdroß Frau Sebald, und 
zu dieſem Verdruß geſellten ſich bald Sorgen und Kummer, 
als ſie nach ein Paar Wochen die ſichtbare Abnahme in des 
Mädchens Aeußerm bemerkte. Das Roſenroth ihrer Wangen 
erblaßte, ihr lebhafter Blick war trübe, ihr raſcher Gang 
ſchleichend geworden, fie aß beynghe nichts, und in der Nacht 
glaubte Frau Sebald ſie oft in ihrer Kammer im obern Ge— 
ſchoſſe unruhig hin- und hergehen zu hören. Sie ſtellte fie deß⸗ 
halb zur Rede; Chriſtine läugnete, verficherte, ſich ganz wohl 
zu befinden, und Alles blieb wie vorher, bis in ein Paar Tagen 
ein plötzlicher Lärmen auf der Straße Frau Sebald an's Fen— 
ſter zog. Sie öffnete dieß, und fragte, was es gäbe? Man 
antwortete ihr, daß auf dem großen Platze ein Geſpann Pferde 
durchgegangen wären, und unter der, des Wochenmarktes we— 
gen verſammelten, Menſchenmenge einige Perſonen befha- 
digt hätten. Gott im Himmel! Mein Stinchen! rief fie er: 
ſchrocken; denn es fiel ihr ſogleich ein, daß Chriſtine mit der 

ſagd auf den Markt gegangen war, um Vorräthe für das 
Haus einzukaufen. Zitternd trat fie vom Fenſter hinweg, ihre 
Kniee verſagten ihr den Dienſt, fie mußte ſich ſetzen. Als fie 
ſich wieder erholt hatte, ſtand fie auf, mit dem Vorſatze, 
Georg ſogleich guf den Platz zu ſchicken, um zu ſehen, wo 


168 


Chriſtine ſey, und fie nach Haufe zu geleiten. Aber in dem 
Augenblicke machte ein lautes Geräuſche und Fußtritte vieler 
Menſchen, die fie im Hausgange hörte, ihr Blut auf's Neue er: 
ſtarren. Erſchrocken eröffnete ſie die Stubenthüre, da ſtand 
unter einer Menge hereindringender Menfchen der junge 
Reiter, dem das Blut durch die blonden Locken über das Ge— 
ſicht floß, und hielt ihre Chriſtine bleich und ohne Leben — ob 
ohnmächtig oder todt, wußte ſie nicht — auf den Armen. 
Großer Gott! Was iſt das? rief die Matrone. Der Rei: 
ter antwortete nicht, er ſtarrte nur unabläſſig auf das bleiche 
Mädchen in feinen Armen hin; aber die uebrigen bedeuteten 
fie, daß der Poſtzug des franzöſiſchen Commandanten, der vor 
dem Rathhauſe angeſpannt geſtanden habe, von irgend Etwas 
erſchreckt, plötzlich ſcheu geworden, und mitten in das Ge— 
wühl der Kaufenden und Verkaufenden hineingeſtürmt ſey. 
Sich zu retten, war beynahe unmöglich; die Menſchen dräng⸗ 
ten, von allen Seiten durch Todesfurcht getrieben, auseinan⸗ 
der, Körbe, Stühle, Perſonen ſtürzten auf einen Haufen, 
das wüthende Geſpann wurde durch den Lärmen noch mil 
der. Chriſtine hatte ſich in eine Nebenſtraße retten wollen, 
die Pferde wandten ſich, und kamen gerade hinter ihr her, 
ſie lief, ſie ſtürzte, die Roſſe waren an ihr, die erſchrockene 
Menge ſchrie. Da ſprang der junge Reiter durch den dichten 
Haufen, riß die wilden Hengſte am Zügel zurück, daß des Ei— 
nen aufbäumender Kopf ihn an der Stirne blutig fihlug , 
raffte das Mädchen vom Boden auf, und rannte mit ihr fort. 
Während dieſes Berichtes hatten der Reiter und Frau Se— 
bald die Ohnmächtige in die Kammer und auf das Bette ges 
legt — die Thüre ward verſchloſſen, um die Neugier der Zu⸗ 


169 


dringenden abzuhalten. Anna brachte Eſſig und Waſſer, die 
Bewußtloſe zu laben, und vergebens ſuchte Frau Sebald den 
Jüngling zu bewegen, daß er ſich von ihr das Blut abwa— 
ſchen, und nach ſeiner Wunde möchte ſehen laſſen. Er war 
nicht dazu zu vermögen; ſtumm und bebend hielt er ſeine Blicke 
auf Chriſtinen geheftet, und: — Wenn ſie nur lebt, wenn 
ſie nur nicht verletzt iſt! waren die einzigen Laute, die ſeiner 
Bruſt entdrangen. Endlich ſchlug fie die Augen auf, fie ſchau— 
te erſtaunt um ſich her, — jetzt fiel ihr Blick auf ihren Ret⸗ 
ter, auf das Blut, das über feine Wangen floß, und mit eis 
nem Schrey des Entſetzens ſprang ſie vom Lager auf, auf 
ihn zu, und umſchlang ihn mit krampfhafter Heftigkeit, zum 
Schrecken der beyden alten Frauen, die in dieſer unvorbereite— 
ten Bewegung einen Anfall von Wahnſinn zu ſehen glaubten. 
Du bluteſt! rief ſie: Es iſt um meinetwillen! Ich weiß, ich 
weiß, ich ſterbe mit dir! Sie ſank von neuem zuſammen, 
aber der Reiter ließ ſie nicht aus ſeinen Armen gleiten. Auch 
ihn ſchien ein unſichtbares Feuer zu durchzücken, er preßte fie 
an feine Bruſt, feine Lippen brannten auf den ihrigen, feine 
Thränen fielen auf ihre Wangen; ſie richtete ſich auf, blickte 
ſcheu umher, erkannte in dem Augenblicke das Unſchickliche ih⸗ 
rer Lage, riß ſich los, und ſetzte ſich erſchöpft, zitternd auf 
das Bette nieder. 

Was war das? rief jetzt Frau Sebald, indem ſie ſich müh⸗ 
ſam ihrem lähmenden Erſtaunen entriß. Steht es ſo mit Euch, 
Unglückliche? 8 

Ein Moment hatte das Geheimniß der beyden Herzen ge⸗ 
waltſam enthüllt, das bis jetzt ſich durch kein Wort, durch 
keinen Blick geoffenbart, und vermuthlich Keinem von Beyden 


170 


in ſeiner ganzen Stärke bewußt geweſen war. Nun war auch 
nichts mehr zu verhehlen, und zugleich mit dem geliebten Ge— 
genſtande erfuhr auch die beſtürzte Pflegemutter das Geſtänd— 
niß, ja, das Daſeyn dieſer Leidenſchaft. Eine lange Predigt 
begann nun, Chriſtine unterbrach fie ſchnell mit entſchloſſenem 
Tone, indem fie, vom Bette aufſpringend, nichts anders ſag— 
te, als: Frau Muhme! Jetzt iſt hierzu keine Zeit. Laßt uns dem 
edelmüthigen Retter unſern Veyſtand leiſten! Frau Sebald 
beſann ſich — Chriſtine hatte, wie faſt immer, auch jetzt wie⸗ 
der Recht. — Sie hieß den Verwundeten niederſetzen, und fie 
zit Chriſtinen wuſch feine Wunde, die übrigens nicht ſehr 
bedeutend, und nur durch den Ort, die Schläfe, dem fie ganz 
nahe war, hätte gefährlich werden können. Der Verband war 
geendigt; Frank, fo hieß der Reiter, dankte mit düſterm Blick 
Hätte ich mich verblutet, ſagte er, indem er das Zimmer ver⸗ 
ließ, es wäre vielleicht für uns Alle beſſer geweſen! 

So erſchrocken Frau Sebald über die gemachte Entdeckung 
war, fo war es ihr doch in dieſem Augenblicke nicht möglich, 
dem unglücklichen Jünglinge, der ſo viel für ihre Nichte, 
und damit auch für ſie gethan, und der jetzt ſo leidend, ſo 
bleich ſchien, zu zürnen, wie ſie es gern gewollt hätte. Ihr 
Herz blutete, wenn fie an das Schickſal der beyden jungen, 
hübſchen Leute dachte; aber ſie durfte dieſe Liebe nicht zuge⸗ 
ben; denn ſie kannte die Verhältniſſe ihres Bruders, und noch 
mehr ihrer ſtolzen Schwägerin Denkart, ſie wußte im Vor⸗ 
aus, daß hier an keine Einwilligung zu denken war, und das 
Loos der Frau, oder Braut eines franzöſiſchen gemeinen Reiz 
ters ſchien ihr doch gewiß auch zu traurig, und ihrer ſchönen, 
Chriſtine nicht werth. 


Hinderniſſe. 


Von dieſem Augenblicke an wandte fie alſo all ihr Stre— 
den dahin, die jungen Leute auseinander zu halten; ſie ſtellte 
Ehriſtinen die Thorheit, ja, die Unmöglichkeit einer ſolchen Ver⸗ 
bindung mit allen erſinnlichen Gründen vor Augen, ſie be— 
wachte ſie unabläſſig, hüthete jeden ihrer Schritte, und traf 
auch ſonſt noch die nöthigen Maßregeln, um die gefährliche 
Nähe des ſchönen Unruhſtifters und den Umgang der Liebenden, 
der in demſelben Hauſe nicht ganz zu vermeiden war, auf— 
zuheben oder einzuſchränken. 

Alles, was ſie beginnen konnte, ſcheiterte aber an der ſinn⸗ 
reichen und entſchloſſenen Liebe des jungen Paars. Ihre Leidens 
ſchaft, die ſie lange verborgen, die ſie Niemand, ja, kaum 
ſich ſelbſt geſtanden, war nun durch jenen Zufall entdeckt, ſie 
war in helle Flammen aufgeſchlagen, und keine Ueberzeugung 
von den unüberwindlichen Schwierigkeiten, die ihr im Wege 
ſtanden, war im Stande, dieſe Gluth zu dämpfen. Ein Zu- 
ſtand leidenſchaftlichen Wahnſinnes ſchien ſich Beyder bemäch⸗ 
tigt zu haben, welcher aller Gegenwirkungen und aller Hinz 
derniſſe, die der Matrone Vorſicht um ſie herum aufzuhäufen 
wußte, ſiegreich ſpottete. 

Sie fanden Mittel, ſich allein zu ſehen, zu ſprechen, oder 
ſich wenigſtens zu ſchreiben. Entwürfe wurden mitgetheilt, 
Plane für die Zukunft verabredet; Chriſtinen war die Vor— 
ſtellung undenkbar, je einem andern Manne anzugehören, eis 
nem Andern auch nur gut zu ſeyn, als ihrem Frank. Er fühlte 
ſich von demſelben Glauben belebt; dieſe Liebe ſollte den Lei⸗ 
den, der Entfernung, der Zeit trotzen. Endlich brach der er⸗ 


172 


ſte Sturm gegen fie los. Die Reiter wurden plötzlich ausquar⸗ 
tiert, und ihre Schwadron ziemlich weit weg, auf ein Dorf in 
der Umgegend, verlegt. Chriſtine wurde todtenbleich, als der 
Wachtmeiſter mit dieſer Neuigkeit in's Zimmer trat, um mit 
dankbarem Herzen Abſchied von der freundlichen und ſorgſa— 
men Hauswirthin zu nehmen. Aber ihr Stolz wehrte dem Aus⸗ 
bruch eines Gefühls, irgend einer Klage gegen die Matrone, 
als der Reiter das Zimmer verlaſſen; denn nicht mit Unrecht 
ſchien es ihr, als habe Frau Sebald die Hand im Spiele 
gehabt, und als ſey die Schwadron nicht ohne Einwirkung 
des Herrn Bürgermeiſters entfernt worden, mit deſſen Gemah— 
lin Frau Sebald ſeit langem vertraut, und in deſſen Hauſe 
ſie die letzten Tage viel geweſen war, ohne, wie ſonſt geſchah, 
Chriſtinen mitzunehmen. N 

Chriſtinens Scharfblick hatte fie nicht getäuſcht, obwohl, 
was Frau Sebald zur Ausführung ihres Planes hatte thun 
können, nur das Wenigſte war, und der Zufall das Meiſte 
bewirkt hatte. Indeſſen, da dieß über Erwartung gelungen 
war, wünſchte ſie nun auch eine letzte Zuſammenkunft zwiſchen 
Chriſtinen und dem Reiter, ſo wie alle fernere Verbindung 
unmöglich zu machen; fie wußte Chriſtinen anhaltend zu bes 
ſchäftigen, zu bewachen, ſie ging ſelbſt in den Hof hinaus, 
um jenen den Abſchied in der Stube zu erſparen. Bald hörte 
man die Soldaten ſich zum Fortreiten anſchicken, die Pferde 
ſtampften, die Waffen raſſelten, das Hofthor ging auf, und 
unter lautem Getöſe verließen die Krieger das gaſtfreye Haus, 
das ſie durch mehrere Wochen mit Zufriedenheit bewohnt hatten. 

Frau Sebald beobachtete ihre Pflegebefohlene ſcharf; aber 
keine Miene verrieth, was in ihrem Innern vorging, und 


173 


jene wußte nicht, ob fie dieſe Ruhe auf Rechnung innerer Kälte 
oder Selbſtbeherrſchung ſchreiben, oder den Sturm fürchten 
ſollte, der auf dieſe Stille folgen würde. Es folgte keiner. 
Am andern Morgen wurde ſchon wieder neue Einquartierung 
in das Haus gelegt; es gab zu fegen, zu ordnen, nach der 
Küche zu ſehen. Frau Sebald, die nun ihre übermäßige Surcht 
vor den fremden Gäſten verloren hatte, legte ſelbſt mit Hand 
an; es war nicht möglich, während der Unruhe, die dieß im 
Hauſe erzeugte, Chriſtinen ſo ſtreng zu bewachen. Alle Liebe 
iſt ſchlau, die unglückliche iſt noch dazu kühn. Trotz aller Wach⸗ 
ſamkeit der Alten kam doch ein Zettel in Chriſtinens Hände, 
der ihr all ihre Heiterkeit und ihren Muth wieder gab, welche 
feit dem Eintritt des Wachtmeiſters ihre Seele verlaſſen , 
und einer Geiſtesqual Platz gemacht hatten, die um fo tier 
fer war, je weniger davon in ihrem Aeußern erſchien. 

Die Nacht kam, Frau Sebald ging zu Bette, Chriſtine 
ſtieg in ihre Kammer hinauf; aber ſie ging nicht ſchlafen, ſie 
zählte die Schläge der Uhr an ihrem hochklopfenden Herzen; 
fie hatte ſich den Schlüſſel zur Thüre, die von dem Hof rück- 
wärts in den kleinen Garten führte, zu verſchaffen gewußt, 
und wie es eilf Uhr war, ſchlich fie leiſe, auf Socken, die 
Treppe herab, über den Hof weg, öffnete das Pförtchen, und 
ſtand nun ganz allein in der finſtern, todtenſtillen Nacht. 
Da rauſchte es an der Planke von Außen, ſie hörte, wie man 
fie erſtieg, — jetzt kniſterten die Geſträuche auf der inwendi— 
gen Seite — jetzt ſah ſie ſich's regen — er war es, er lag in 
ihren Armen, und zum erſten Mahl, ſeit ſie ſich kannten und 
liebten, ward ihnen die ungeſtörte Seligkeit von zwey nur zu 
flüchtigen Stunden zu Theil. Diefer Genuß war zu ſchon, zu 


74 


neu, als daß die Liebenden nicht Alles hätten wagen ſollen, 
um ſich ſeiner auch für künftig zu verfichern. Alle Maßre⸗ 
geln wurden getroffen; dieſe geheimen Beſuche dauerten uns 
entdeckt fort, und was Frau Sebald durch ihre liſtige Verwen- 
dung bey der Frau des Bürgermeiſters hatte hindern wollen, 
machte ſich erſt recht feſt und unauflöslich durch dieſe Einwir⸗ 
kung ſelbſt. Jetzt hatten die jungen Leute Zeit, ſich über alle 
ihre Hoffnungen und Ausſichten zu verſtändigen, und ihnen 
erſchien die Möglichkeit, ja die Wahrſcheinlichkeit ihrer künf— 
tigen Verbindung, wenn Wilhelm feine Capitulation ausge 
dient haben, und wieder zu ſeinem Handwerke, das er tüch⸗ 
tig verſtand, zurückkehren würde, in nichts weniger als hoff— 
nungsloſem Lichte. Muth und Liebe wohnten in ihrer Beyder 
Bruſt; Jahre zu warten, Schwierigkeiten und Widerſtand zu 
beſiegen, dem Schickſal, den Gefahren des Krieges zu entge— 
hen — Alles ſchien ihnen leicht, und ſo genoſſen ſie mit vol⸗ 
len Zügen das Glück inniger Zärtlichkeit. 


Trennung. 


Chriſtine war ein anderes Weſen geworden, das Bewußt⸗ 
ſeyn: heiß und treu geliebt zu ſeyn, erhob ihr Gemüth, die 
Sicherheit, den Geliebten ungeſtört und recht oft ſehn und 
ſyrechen zu können, machte fie glücklich, und die Zuverſicht, 
mit der ſie ihrem künftigen Schickſale entgegen ſah, gab ihr 
eine Heiterkeit, einen kindlichen Frohſinn, den Frau Sebald 
nie an ihr gekannt, und nach dem, was ſie gethan zu haben 
germeinte, durchaus nicht begreifen konnte. Indeſſen ſtand dieſe 


Ed 
179 


Stimmung dem geiſtvollen hübſchen Mädchen fo wohl, es 
machte ſie im Haushalt ſo brauchbar, ſo angenehm, daß Frau 
Sebald ſie immer lieber zu gewinnen anfing, und nur mit 
Angſt an die Möglichkeit dachte, daß ihr Vater ſie vielleicht 
doch über kurz oder lang von ihr fordern, oder eine vortheil⸗ 
hafte Heirath fie ihrem Haufe entziehen könnte. 

Aber dieſe gegenſeitige Zufriedenheit ſollte nicht lange 
dauern. Das Regiment, bey welchem Wilhelm ſtand, bekam 
Befehl aufzubrechen, und ſich an die große Armee anzuſchlie— 
ßen, welche ihre Siege bis nach Pohlen hinein verfolgte. Die 
Nacht vor dem Abmarſche der Truppen war die letzte glückliche 
Zeit in Chriſtinens Dafeyn. Mit Gefahr, feinen Dienſt zu 
verſäumen, und daher vielleicht auf Koſten ſeines Lebens, hatte 
ihr Freund ſich noch vor Mitternacht zu ihr geſtohlen; um vier 
Uhr ſollte die Schwadron aufbrechen, und feine Schaar lag an⸗ 
derthalb Stunden von dem Städtchen. Chriſtine ſah die Ge— 
fahr dieſes Beſuches ein, und wußte ſie nach ihrer ganzen Grö— 
Pe und der Tiefe ihres Gefühls zu würdigen. Ja, wäre eine 
Möglichkeit geweſen, ſie hätte ſich unbedenklich entſchloſſen, 
mit ihrem Wilhelm zu ziehn, jedes Loos mit ihm zu theilen, 
mit ihm zu leiden, für ihn zu ſorgen, vielleicht mit ihm zu 
ſterben. 

Der Abſchied brachte alle ſeine Schmerzen, und alle ſeine 
wehmüthige Luſt mit ſich; der Morgen fing an zu grauen, und 
die erwachende Lerche ſchreckte auch hier ein unglücklich lieben— 
des Paar auseinander. So wie Wilhelm ſein Roß beſtiegen 
hatte, ſo wie die Hufſchläge desſelben ſchwächer und ſchwächer 
in Chriſtinens Ohr verhallten, geſellte ſich zu dem erdrüden» 
ven Schmerze des Verluſtes noch die Angſt um den Gelieb⸗ 


176 


ten, der ſich vielleicht zu lange aufgehalten, der feiner Liebe 
ſeine Pflicht zum Opfer gebracht hatte. Die Sonne fand ſie 
ruhelos, der Tag verging unter unausſprechlichem Bangen; 
Standrecht und Execution ſchwebte vor ihren Blicken, bis end: 
lich die Nachricht kam, daß das Regiment ohne weitern Zu⸗ 
fall die Gegend verlaſſen habe, und noch vor Einbruch der 
Nacht der bekannte Bothe erſchien, ihr ein Paar Zeilen zu 
bringen, die ſie beruhigten, und Wilhelms letztes Lebewohl und 
erneuerte Schwüre enthielten. 

So war ſie nun getrennt, auf lange — und wer bürgte 
ihr dafür, ob nicht auf immer? Dennoch war nur ihr Glück, 
nicht ihr innerer Friede erſchüttert. Sie wußte, was ſie em⸗ 
pfand, und ſie baute feſt auf ein gleiches Gefühl in des Freun⸗ 
des Bruſt; ja, die heftige Leidenſchaftlichkeit, mit der er ſie, 
wie er ihr hernach oft geſtanden, im erſten Augenblicke er⸗ 
faßt; der Heldenmuth, den er bey ihrer Rettung bewieſen, 
die grenzenloſe Liebe, ſelbſt die Eiferſucht, die er ihr in der 
Zeit ihres verſtohlenen Umgangs bewieſen hatte, der unge— 
heure Schmerz, der bey'm Abſchied ſeine Bruſt zerriß, Alles 
zeigte ihr, daß ſie auf eine Art geliebt wurde, die keinen 
Wunſch, wie keinen Zweifel mehr übrig ließ. Sie ruhte ſtill 
und ergeben in dieſem Gedanken, und keine Sorge, als für 
das Leben des Geliebten, kam in ihre Seele; denn daß er 
treu wieder komme, wenn er käme, und daß es ſeinem Fleiße 
wie ihrer Genügſamkeit dann nicht an Mitteln fehlen würde, 
ſich rechtlich durchzubringen, davon war ſie verſichert. Endlich 
auch glaubte fie auf ihrer Pflegemutter Liebe für fie rechnen 
zu dürfen, und ſo erſchien ihr die Zukunft nicht ſo düſter, 
wenn Gott nur das Leben ihres Freundes ſchonte. 


177 


Trauerbothſchaften. 


Ein halbes Jahr war vorübergeſchlichen. Einige Mahle 
hatte Wilhelm Mittel gefunden, Chrifiinen Nachricht von ſich 
zu geben, und in jeder ſah ſie die Fortdauer ſeiner Liebe und 
ihrer Zuverſicht. Aber endlich blieben die Nachrichten aus, die 
Zeitungen lieferten beunruhigende Neuigkeiten für jedes Herz, 
das etwas Geliebtes bey einem der beyden Heere wußte. Die 
Franzoſen waren tief nach Pohlen vorgedrungen, die mörde— 
riſchen Tage von Friedland und Eylau folgten, kein Laut von 
Wilhelm drang herüber. Aus den öffentlichen Nachrichten ward 
kund, daß ſein Regiment viel gelitten hatte. Chriſtinens Muth 
und ihre Liebe bahnten ihr einen Weg, ſich durch Briefe an 
den Commandirenden wenden zu können, und fie vernahm end— 
lich die längſtgefürchtete Kunde von ſeinem Tode, — er war in 
der Schlacht von Eylau geblieben. 

Sie trug dieſe Nachricht mit Muth, wie bisher ihr gan⸗ 
zes Geſchick. Sie ſprach mit Niemand darüber; denn was Wil⸗ 
helm ihr geweſen, wie ſie ihn geliebt, und was ſie ſich geſchwo⸗ 
ren, war das heilige Geheimniß ihres Herzens, und daß es 
Niemand mußte, die einzige Beruhigung, die jetzt in ihrem 
Schickſal lag. Aber ihr Aeußeres und ihre Geſundheit trugen 
die ſichtbaren Spuren der innern Aufreibung. Frau Sebald 
berief alle Aerzte, die in dem Städtchen und der Gegend 
zu finden waren. Keiner wußte Rath. — Einige vermutheten 
eine Gemüthskrankheit; aber Frau Sebald, die ihre Pflege— 
tochter bey der erſten kürzern Entfernung, und dann bey der 
völligen Abreiſe des ihr einſt theuren Mannes fo ziemlich rus 
hig geſehen hatte, konnte dem Gedanken keinen Raum geben, 

M 


178 


daß fein Andenken nach mehr als einem Jahre noch dieſe Nach⸗ 
wirkung hervorzubringen fähig ſeyn könnte. Daß er nach poh⸗ 
len gekommen, daß er geblieben ſey, von alle dem wußte ſie 
nichts, und Chriſtine hatte ſich wohl gehüthet, je einen Laut 
darüber gegen ſie zu verlieren. Auch jetzt behandelte ſie ihre 
Kränklichkeit als etwas Unbedeutendes, und wollte ſich kaum 
entſchließen die vorgeſchriebenen Mittel zu gebrauchen; insge⸗ 
heim aber freute ſie ſich der Abnahme ihrer Kräfte und ihres 
ſichtlichen Dahinſchwindens. 

Frau Sebald fand ihren Zuſtand immer bedenklicher, ſie 
ſchrieb deßhalb an ihren Bruder, theilte ihm ihre Angſt mit, 
und das Vaterherz, daß ſich ohnedieß längſt nach dem Umgang 
des geliebten hoffnungsvollen Kindes geſehnt hatte, deſſen 
ſchöne Entwickelung er nur in ſehr ſeltenen Augenblicken mit 
angeſehen, konnte die unnatürliche Trennung nicht mehr er: 
tragen. Herr Grelling ſchrieb alſo ſeiner Schweſter, Chriſtinens 
Geiſt wäre reif genug, die Wahrheit zu ertragen, und das, was 
ſie vielleicht im älterlichen Hauſe ſehen würde, mit ihrer Pflicht 
gegen Vater und Stiefmutter zu vereinigen, er werde daher 
mit ſeiner Frau ſprechen, Chriſtinen zu ſich kommen laſſen, 
und die geſchickteren Aerzte der e über ihren Zuſtand 
befragen. 

Frau Sebald nahm dieſe Nachricht nicht ſehr freudig auf, 
ſie hatte ſich an Chriſtinens Gegenwart gewöhnt, ſie hatte 
ſie liebgewonnen. Sie ſträubte ſich eine Weile, ſuchte Bedenk⸗ 
lichkeiten hervor, aber ihres Bruders feſter Wille, ſein Kind 
bey ſich zu haben, und noch mehr das Gefühl ſeiner eignen 
zunehmenden Kränklichkeit, die ihn ſeines herannahenden Alters, 
nud vielleicht feines baldigen Todes mahnte, widerſtand allen 


179 


diesen Verſuchen. Dennoch würde feine Schweſter wohl noch 
eine Weile gezögert haben, wenn nicht ein Brief gekommen 
wäre, der des Meiſters plötzliches ſchweres Erkranken meldete, 
und ſeine Tochter ſchnell zu ihm beſchied. Nun war nichts mehr 
zu verſchieben. — Frau Sebald rief Chriſtinen, und dieſe er— 
fuhr faſt in demſelben Augenblicke, daß ſie einen Vater habe, 
wo ſie in Gefahr ſtand, ihn zu verlieren. Sie erfuhr, daß er 
derſelbe Mann ſey, den ſie bey ſeinem früheren Beſuchen, 
als den Bruder ihrer Wohlthäterin, ſchon gekannt und geliebt 
hatte. Dieſe Entdeckung, ſo erſchütternd ſie war, riß ſie doch 
mit wohlthätiger Gewalt aus der düſtern Gleichgültigkeit, 
in welche ihr Gram ſie verſenkt hatte. Der Gedanke an die 
Gefahr des Vaters, an ſeine Liebe zu ihr, und die Möglich⸗ 
keit, ihn durch ihre treue Pflege zu erhalten, weckte ihre Thä⸗ 
tigkeit, und noch am Abend desſelben Tages, wo Frau Sebald 
den Brief bekommen hatte, ſaß Chriſtine ſchon, von dem treu⸗ 
en Georg begleitet, auf dem Poſtwagen, der ſie zu dem gelieb⸗ 
ten Vater bringen ſollte. 

Ihre Ankunft wirkte heilſam auf den Kranken, ihre Pfle⸗ 
ge erquickte ihn, er fing an, ſich zu erhohlen, er ging wieder 
an ſeine Verrichtungen; aber der Keim des Lebens war ver— 
ſehrt. Eine mühevolle, bey ſchwerer Arbeit hingebrachte Ju⸗ 
gend, anſtrengende Sorgen, und manch häuslicher Verdruß 
in ſpätern Jahren hatten ſeine Kräfte erſchöpft, ſie erſetzten 
ſich nicht mehr. Mit unendlichem Schmerz ſah Chriſtine den 
geliebten Vater hinſiechen, ſie widmete ſich mit eigenſinniger 
Anſtrengung ſeiner Pflege, und fand Troſt in den Gedanken, 
daß fie darüber zu Srunde gehen, und dem Vater und Gelieb⸗ 
ten in eine beſſere Welt folgen könnte. 

M 2 


100 


Der Stiefmutter hatte eine fo lange Abmwefenheit fie nicht 
genähert, ihre Herzen blieben ſich fremd; aber der frühere 
Widerwille hatte ſich durch die Zeit verloren, und der Tebens- 
frohen Frau kam die Theilnehmerin und thätige Gehülfin 
im Hauſe und bey dem Kranken, der ſo mancher Leiſtungen be— 
durfte, ſehr gelegen. Sie behandelte Chriſtinen ziemlich freund— 
lich, und wünſchte ihr längeres Verweilen. Dieſer Wunſch 
ward auch erfüllt; denn der Vater ſiechte lange, und es ver— 
ſtrich mehr als ein Jahr unter Sorge und Kummer, bis end— 
lich der ſchwache Lebensfunke erloſch, und Herr Grelling uns 
ter Segnungen für alle ſeine Kinder, aber am meiſten für 
ſeine treue Pflegerin, in ihren Armen verſchied. 

Der Ernſt dieſer letzten Augenblicke hatte doch erſchütternd 
auf das Gemüth der leichtſinnigen Frau gewirkt. Sie fühlte 
ſich von dem Bilde der Pflichten, die ihr jetzt oblagen, er⸗ 
griffen, ſie begegnete Chriſtinen, deren Benehmen ihr Achtung 
eingeflößt hatte, mit Anſtand und Freundlichkeit, und dieſe 
war nicht ungeneigt, auch nach des Vaters Tode im Hauſe zu 
bleiben, und die mannigfachen Sorgen des Hausweſens zu 
theilen; denn ihr Herz war der Annäherung mütterlicher Liebe 
freudig entgegen gekommen, und der Gedanke: thätig und für 
ihre jüngern Geſchwiſter nützlich ſeyn zu können, hatte ihrem 
zweckloſen Daſeyn ein willkommenes Ziel eröffnet. Aber dieß 
ſchöne Verhältniß dauerte nicht lange. Die Welt hatte noch 
zu viel Reitze für Frau Grelling, und ihr reiches Haus, wie 
ihre noch immer hübſche Geſtalt, zu viel Anlockendes für wohl- 
berechnende Freyer. Dald ſah Chriſtine die Mutter von Lieb— 
habern umworben, und den Augenblick nahe, wo fie einem von 
ihnen mit ihrer Hand die Führung und die bedeutenden Ein- 


181 


künfte ihres wohleingerichteten Gewerbes überlaſſen würde, 
Vorſtellungen und Plane, wie man ſich, ohne jenen mißlichen 
Schritt zu thun, mit einem Werkführer behelfen, und ſeine 
Freyheit wie ſein Vermögen für die Kinder des erſten würdigen 
Satten bewahren könnte, glitſchten fruchtlos an ihrem Herzen 
ab, und da Frau Sebald um eben dieſe Zeit in jedem Briefe 
mit Wehmuth von ver Zeit ſprach, wo Chriſtine bey ihr gelebt 
hatte, und ſie wieder zu ſich wünſchte, ſo gewann der Gedan— 
ke, ein Haus zu verlaffen, in welchem fie unter fo veränder— 
ten Umſtänden von keinem weſentlichen Nutzen ſeyn, ja kaum 
die nöthige Freyheit für ſich würde behaupten können, immer 
mehr Gewicht in Chriſtinens Seele, und ſie entſchloß ſich, 
wenn die Mutter auf ihrem Sinn, ſich abermahls zu verhei— 
rathen, beſtünde, zu ihrer Muhme zurückzukehren, in deren 
Lage ſich, während Chriſtinens Abweſenheit, ohnedieß eine 
große Veränderung zugetragen hatte. 


Ueberſiedlung. 


Frau Sebald hatte längſt daran gedacht, wenn ihre Nich⸗ 
te heirathen würde, nach **ingen, zu ihrem Sohne, der dort 
eine anſehnliche Fabrik dirigirte, zu ziehen. Als jetzt vor un⸗ 
gefähr anderthalb Jahren Chriſtine ſie, zwar nicht von der 
Hand der Liebe, aber der Kindespflicht geleitet, verlaſſen hat⸗ 
te, wurde jener Gedanke wieder lebhaft in ihr. Die alte krän⸗ 
kelnde Frau fühlte ſich einſam an einem Orte, wo kein nähes 
res Band ein Weſen mit ihr vereinigte; ſie ſchrieb an ihren Sohn, 
die Verhandlungen wegen der Ueberſiedlung waren im Gange, 


182 

als der Krieg von Neuem ausbrach, die franzöſiſchen Heere 
ſich ihrer Gegend abermahls nahten, und die einſame alte 
Frau alle Unordnungen und Unruhen der erſten Invaſion 
drohend vor ſich ſah, ohne den Troſt zu haben, daß Chriſti⸗ 
ne ihr hilfreich zur Seite ſtehn, und ihr den größten Theil 
der Laſt abnehmen würde. Das wollte ſie nicht erwarten. Mit 
Haſt betrieb ſie ihre Abreiſe, beſchleunigte den Verkauf des 
Häuschens, und verließ ungefähr ein halbes Jahr nachdem 
Chriſtine zu ihrem Vater gereiſet war, ihren bisherigen Auf⸗ 
enthalt, an welchem fie, feit ihrer Verheirathung, faſt drey⸗ 
ßig Jahre gelebt, um nie wieder dahin zu kehren. Es ſchien 
ihr guter Geiſt geweſen zu ſeyn, der in ihrer Seele den Ge⸗ 
danken an dieſe ſchleunige Flucht erregt hatte; denn kaum war 
ſie einige Wochen in ihrem neuen Wohnorte, als die ganze 
Fluth eines verheerenden Krieges ſich auf jene Gegenden warf, 
eine Schlacht unweit ihres vorigen Aufenthaltes geliefert, 
das Städchen im Hin- und Wiederziehen der Truppen genom⸗ 
men, entſetzt, wieder erobert, geplündert und zum Theil in 
Aſche gelegt wurde. 

Frau Sebald dankte dem Himmel, der ſie ſo väterlich je: 
nem Verderben entrückt hatte, und lebte nun ruhig, aber ſehr 
einſam bey ihrer Familie. Ihres Sohnes Geſchäfte waren 
weitläuftig, ſein Haus übervoll und laut; das ſtimmte wenig 
zu der gewohnten Stille, an die ſie ſich durch die lange Zeit 
ihres Witwenſtandes gewöhnt hatte. Sie hielt ſich daher meiſt 
ganz zurückgezogen in ihrer kleinen Wohnung, und hier, 
wo fie Niemand von ihren alten Bekannten um ſich hatte, 
die Angehörigen ihres Sohnes ihr zwar mit liebevoller Ruͤck⸗ 
ſicht begegneten, doch aber ihr fremd und neu erſchienen; war 


183 


es, wo die Sehnſucht nach ihrem Stinchen um ſo lebhafter 
erwachte. So lange ihr Bruder lebte, hätte ſie es für pflicht⸗ 
widrig gehalten, auch nur mit einem Laute dieſes Wunſches 
zu erwähnen; jetzt aber, da dieſer todt war, da fie aus Chri— 
ſtinens Briefen von den Abſichten ihrer Stiefmutter überzeugt 
wurde, glaubte ſie ſich und dem verwaiſten Mädchen mit dem 
Antrage, wieder zu ihr zu ziehen, eine unbeſtreitbare Wohl— 
that zu erzeigen, und ſprach alſo ihren Wunſch unverhohlen 
aus. 

Frau Grelling hatte ſich indeſſen ebenfalls entſchieden, 
und ihre Wahl war auf einen jungen Meiſter gefallen, dem 
es, wie ſie glaubte, an nichts als an Vermögen gebrach. Es 
war ein hübſcher, rüſtiger Mann, um mehrere Jahre jünger 
als ſie, aber ihr deßhalb nicht unangenehm. Chriſtine ſprach 
mit ihr darüber, aber der Entſchluß ſtand bereits zu feſt, 
und da jene keine Luſt bezeigte, mit dieſem Stiefvater in 
einem Hauſe zu leben, ſo ſchien es Frau Grelling nicht un— 
erwünſcht, wenn die ſtolze, allzukluge Tochter, in der ſie 
nichts, als eine ſtrenge Richterin ihrer gegenwärtigen und 
künftigen Schritte ſah, ſich au ihrer Muhme, nach *ingen, 
zurück begab. 

Frau Sebald empfing die geliebte 0 wie einen Bo⸗ 
then vom Himmel gefandt, und dieſe gelobte ſich's im Stil- 
len mit aller Aufopferung, deren ſie fähig war, für das ein⸗ 
zige Weſen zu leben, das ihrer bedurfte, dem ſie ſich ange⸗ 
hörig fühlte. Freudenarm, aber nicht ohne ſtille Beruhigung 
gingen ihr Tage, Monden, Jahre hin. Die friſche Blüthe 
ihrer Geſtalt war längſt, nicht ſowohl der Zeit, als dem 
Schmerze zum Opfer gefallen; aber nach und nach trat Chri⸗ 


184 


ſtine auch wirklich aus den Jahren der erſten Jugend heraus. 
Dennoch lag ein ſanfter Reitz über die ſchlanke, ernſte Ge⸗ 
ſtalt ausgegoſſen, und die Tüchtigkeit für Haus und Wirth— 
ſchaft, die Jedermann kannte, nebſt der Ausſicht auf ein 
nicht unbedeutendes Capital, das ihr vom Vater vererbt war, 
machte ſie zum Ziele mancher Wünſche. Es fanden ſich viele 
Freyer ein, die bald bey Frau Sebald, bald bey ihrem Soh— 
ne um die ſchöne Verwandte warben. Manche von ihnen wür⸗ 
den jedem andern Mädchen wünſchenswerth erſchienen ſeyn; 
für Chriſtinen hatte das Alles keinen Werth, ihre Nechnung 
für dieſe Welt war ſeit ihres Wilhelms Tod geſchloſſen, und 
ihre Zukunft lag hinter ihr. So wies ſie alle dieſe Anträge 
artig, aber mit Beſtimmtheit ab, und blieb ihrem Vor ſatze 
getreu, ihr Leben der Pflege ihrer geliebten Vaters ſchweſter 
zu weihen. 


Zweyter Witwenftand. 


Frau Grelling hatte in der zweyten Ehe das Glück nicht 
gefunden, das ſie ſich verſprochen; Herr Ambach war leicht⸗ 
ſinnig, verſchwenderiſch, ein Schwelger und Spieler. Im 
Haufe mangelte es an Aufſicht, bey den Geſchäften außerhalb 
an Pünctlichkeit und Ordnung. So gingen einige Jahre hin; 
mit Verdruß und Reue ſah die Frau dieſe Untugenden eine 
nach der andern hervorkeimen, und ihrem Vermögen, wie 
ihrer häuslichen Zufriedenheit den Untergang drohen. Zank 
und Streit erhob ſich, das einſt würdige Haus war der Schau⸗ 
platz wüſter Auftritte, und Alles wies auf noch ſchlimmere 
Zeiten hin, als zum Glück der Frau und der Stiefkinder ein 


185 


Sturz mit dem Pferde Herrn Ambachs Leben und dem Vers 
druß der Seinigen ein Ende machte. 5 

Chriſtine vernahm dieſe Neuigkeit in ihrem ſtillen Aufent⸗ 
halte, und würde ebenfalls froh darüber geweſen ſeyn, hätte 
nicht die genaue Kenntniß von der Denkart ihrer Mutter ſie 
doch im Grunde wenig Gutes hoffen laſſen; und wirklich er⸗ 
hielt fie kaum ein halbes Jahr nach jener Nachricht die Mel⸗ 
dung, daß dieſe ſchon wieder daran dächte, ſich einen Theil- 
nehmer und Gehülfen in ihrem großen Gewerbe zu ſuchen; 
daß aber ihre Wahl doch dießmahl zur Zufriedenheit des gan⸗ 
zen Hauſes auf einen eben ſo geſchickten, als fleißigen und 
ſittlichen Menſchen, ihren Altgeſellen gefallen ſey, der ſchon 
ſeit mehr als einem Jahre in ihrer Werkſtatt arbeitete, wäh⸗ 
rend dem Leben des vorigen Herrn faſt alle Geſchäfte allein 
geleitet hatte, und der Familie die Ausſicht gab, einen rede 
lichen und geſchickten Mann an der Spitze ihrer Angelegen— 
heiten zu ſehen. 

Das Alles berührte Chriſtinen nur in ſo weit, als es das 
Schickſal ihrer jüngern Geſchwiſter betraf. Waren es dieſe zu⸗ 
frieden, ſo war ſie es auch; ſie antwortete daher in dieſem 
Sinn, bekümmerte ſich übrigens nicht viel mehr um die ge⸗ 
naueren Umſtände, ſchrieb ſelten, erhielt ſelten Briefe, und 
ſuchte ihr ganzes mögliches Erdenglück in Stille und Pflicht⸗ 
übung. 

Aber es ſchien, als wäre ihr dieſe Ruhe nicht beſtimmt. 
Ungefähr ein Jahr nach der zweyten Verehlichung ihrer Mut⸗ 
ter, wurde Frau Sebald gefährlich krank; der Arzt erklärte, 
daß wenig Hoffnung zum Leben übrig ſey, und wirklich ver 
ſchied ſie nach wenig Wochen in den Armen der tiefgebeugten 


106 


Chriſtine, die fih nun, da fie im Haufe ihres Vaters nie recht 
einheimiſch geworden war, hier, wie auf einer einſamen In⸗ 
ſel, im weiten Meere allein fand. 

Nicht ſobald vernahmen die Ihrigen in der Reſidenz den 
Tod der Vatersſchweſter, und Chriſtinens verlaſſene Stellung, 
als die Schweſtern ihr aufs Freundlichſte ſchrieben, und ſelbſt 
die Mutter ſie zu ſich beſcheiden ließ. Die Tochter, welche zu⸗ 
nächſt an Jahren an Chriſtinen ſtand, hatte nach des Vaters 
Tode weit weg geheirathet, die erwachſenen Söhne waren auf 
Wanderſchaft, und die beyden jüngſten Mädchen bedurften noch 
mehr der Aufſicht, als daß ſie der Mutter zu bedeutender 
Hülfe hätten ſeyn können. Dieſe fühlte das Alter herannahen, 
und brauchte eine Gehülfin. Chriſtine ſtand einſam; fie war 
noch zu jung, und zu hübſch, um das mit Anſtand zu können. 
So nahm ſie denn, ſo wenig ſie ſich Dauer von dieſen Ver⸗ 
hältniſſen verſprach, bis ſich eine ſchicklichere Gelegenheit fand, 
das Anerbiethen dankbar an, und reiſete nach der Reſidenz ab. 


Der Stiefvater. 


Die Werkſtätte des alten Meiſters Grelling, deren Ruhm, 
ſo lange jener leichtſinnige, erſte Nachfolger desſelben lebte, 
in Verfall gekommen war, hatte ſich unter dem jetzigen Mann 
der Witwe wieder mit neuem Glanze erhoben. Er verſtand 
das Geſchäft vollkommen, trieb es noch mehr ins Große, nahm 
Beſtellungen in entfernte Länder an, entwarf, erfand, zeich⸗ 
nete Alles ſelbſt, und wenn er auch nicht mehr Hand an die 
Arbeit legte, ſo leitete doch ſein thätiger Geiſt Alles mit Kraft 


n 2 


2 


1 87 


und Einſicht, und ſeine gründliche Kenntniß des Handwerks, 
da er ſelbſt einer der geſchickteſten Geſellen geweſen, in frem— 
den Ländern gearbeitet, Vieles geſehen und erfahren hatte, 
flößte ſeinen Untergebenen Achtung und Folgſamkeit ein. Der 
junge, kräftige Mann gefiel ſich in dieſem weitverbreiteten 
Wirken, er ſah ſein Vermögen ſich vermehren, ſeine Ehre 
wachſen, er übte eine Art von Uebergewicht über feine Zunft- 
genoſſen, und ſtand, durch eine feinere Bildung, der Geſtalt 
ſowohl, als des Benehmens, eine Frucht feiner Reifen und 
eines hellen Verſtandes, den höhern Claſſen nicht fern. Daher 
verkehrten die Vornehmen, welche Arbeiten bey ihm beſtellten, 
gern ſelbſt mit dem verſtändigen, artigen Meiſter, er hatte 
Zutritt in angeſehenen Häuſern, und Chriſtinens Mutter ſonn— 
te ſich in ihren ſpätern Jahren mit Luft und nicht ohne Anmuth 
in dem Glanze, den ihr junger und geachteter Mann über ihr 
Haus brachte. 

Mitten in dieſem heitern, rührigen Leben betrat Chriſtine 
das Haus ihrer Aeltern wieder. Die Stiefmutter, die Schwe— 
ſtern gingen ihr freudig entgegen; Herr Frank war ſeit eini— 
gen Wochen abweſend; aber man erwartete ſeine Wiederkehr 
in den nächſten Tagen, und freute ſich auf ſeine angenehme Ueber— 
raſchung, wenn er die Zahl der Hausgenoſſen um ein ſo wer⸗ 
thes Glied vermehrt ſehen würde, von deren Ankunft er keine 
Nachricht hatte; denn die Verhandlungen zwiſchen ſeiner Frau 
und ihrer Stieftochter waren während ſeiner Reiſe geſchloſſen 
worden. . 

Dieſe fand die Mutter, die Geſchwiſter geſund und froh, 
die Geſchäfte blühend, überall Spuren des Wohlſtandes, der 
pünctlichſten Ordnung, der verſtändigſten Leitung, fie hörte 


188 


von dem unbekannten Stiefoater reden, es geſchah mit Liebe 
und Zutrauen, und ihr Herz ſchloß ſich angenehmen Empfin⸗ 
dungen auf. Sie hoffte jetzt eine Zufriedenheit hier zu finden, 
auf die ſie eben nicht ſehr gerechnet hatte, und ſah mit Ver— 
gnügen der perſönlichen Bekanntſchaft des Mannes entgegen, 
der ſo bedeutenden Einfluß auf das Wohl der Ihrigen hatte, 
und deſſen übrigens ziemlich allgemeiner Nahme ſchon durch 
eine theure Erinnerung ſie mit lebhafterem Intereſſe für ihn 
gewann. f 

So wie ſie nun mehrere Tage im väterlichen Hauſe zuge⸗ 
bracht hatte, hörte ſie nach und nach immer mehr, was zwar 
ihre gute Meinung von ihm noch vermehrte, aber auch ihr Herz 
auf eine tiefere, wunderbarere Art berührte. Sie erfuhr nähm⸗ 
lich: ihr Stiefvater heiße nicht allein Frank, ſondern Wil⸗ 
helm Frank, er ſey aus den Rheingegenden gebürtig, habe 
eine Weile in franzöſiſchen Kriegsdienſten geſtanden, und den 
Feldzug in Pohlen mitgemacht. Sie ließ ſich ſeine Geſtalt be⸗ 
ſchreiben, ſie hörte mit Entſetzen und ſchmerzlicher Luſt, was 
ihre Vermuthungen beſtätigte, ſie fragte nach vielen kleinen 
Beſtimmungen, — ſie trafen alle, alle zu, und immer 
heller und heller trat die Vorſtellung vor ſie hin, ihr Stief— 
vater ſey kein anderer, als der fo lange beweinte, erſte, ein⸗ 
zige Liebling ihrer Seele, dem fie Treue geſchworen und ges 
halten, der ihr den gleichen Schwur geleiſtet, und — es 
lag eine Hölle von Qualen in dieſem Gedanken. Aber noch im⸗ 
mer war ſie ihrer ſchrecklichen Vermuthung nicht gewiß, und 
die Möglichkeit, daß Wilhelm lebe, daß ſie ihn wiederſehen 
werde, hielt ſelbſt dem Schmerz, ihn in ſolchen Beziehungen 
zu finden, ein wunderbares Gleichgewicht. 


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189 


Viele andere peinliche Nückſichten geſellten ſich zu den Vor⸗ 
ſtellungen, die ihr Herz zerriſſen. Wenn er es nun war, — 
wenn fie dem Geliebten und einſt ſo leidenſchaftlich Liebenden 
hier im Hauſe ſeiner Gattin, die ihre Mutter war, be⸗ 
gegnen ſollte: — welches Betragen ſchrieben ihr Pflicht und 
Stolz vor? Flucht, ſchleunige Flucht aus dem Haufe war ihr 
erſter Gedanke. — Aber wohin, wenn nicht ſelbſt dieſer plötz⸗ 
liche und unter den jetzigen Umſtänden ſo überraſchende Ent— 
ſchluß die Mutter aufſchrecken, ihr Verdacht einflößen, und 
dem Treuloſen den wahren Zuſtand ihres Herzens verrathen 
ſollte, der ja, über ihr Daſeyn überhaupt, ſo wie über ihre 
Verhältniſſe zu dem Hauſe ſeiner Gattin vielleicht nicht ſo 
unwiſſend war, als ſie es leider bisher in Anſehung ſeiner ge⸗ 
weſen? f 

Unter ſo quälenden Vorſtellungen, von Schmerz und Stolz 
bekämpft, bey hundertmahl entworfenen und wieder aufgege— 
benen Planen, waren die wenigen Tage vergangen, welche noch 
bis zu Herrn Franks Ankunft verfließen ſollten. Der Reiſe⸗ 
wagen rollte vor die Thüre des Hauſes, Alles eilte dem Ans 
kommenden entgegen. Chriſtine hatte ſich vorgenommen, ſich 
nicht zu verbergen. War Herr Frank ihr ein ganz Fremder, 
ſo hatte ſie keine Urſache, ihn zu meiden; war er Derjenige, 
den ſie meinte, ſo ſollte ihr plötzlicher Anblick die einzige Rache 
ſeyn, die ſie ſich an ihm zu nehmen erlaubte. Wie ſehr ſie ſich 
ſelbſt dabey ſtrafen würde, dachte ſie nicht, und ſo folgte ſie, 
dem Anſcheine nach ruhig, ihrer Mutter in's äußere Zimmer. 

Die Thüre ging auf — Wilhelm ſtand vor ihr. Ihre Züge 
erſtarrten, ihr Herz zog ſich zuſammen, Dunkel umhüllte ihre 
Augen, und vergebens gegen die immer wachſende Vewußt⸗ 


190 


loſigkeit ringend, fanf fie endlich langſam hinter der Mutter 
nieder. Ihr Fall erſchreckte Alle. In dem Augenblicke ſah, und 
erkannte ſie Frank. Er ſtürzte auf ſie zu, faßte ſie in ſeine Ar⸗ 
me, an ſeine arbeitende Bruſt, und trug ſie ſo, zum zweyten 
Mahl — unter wie veränderten Beziehungen! — in ihre Kam⸗ 
mer. Unvermögend ſich ſogleich loszureißen, hatte er die Des 
wußtloſe noch immer ſtarr betrachtet, die Beſtürzung der Mut⸗ 
ter, der Schweſtern, entzog ſeine Befangenheit ihren Blicken; 
aber als jetzt Chriſtine die Augen aufſchlug, und mit ſtummen 
Geberden alle, fie zu verlaffen, bath, da ging auch er mit 
den Uebrigen, und ſeine lange verſchloſſene Bruſt öffnete ſich 
gewaltſam ſehr ſchmerzlichen Eindrücken. 


Verkettung der Umſtände. 


Es war Wilhelm Frank, es war der Todtgeglaubte. Ju 
der Schlacht von Eylau war er für todt auf dem Platze geblie⸗ 
ben; in einem ruſſiſchen Spital erwachte er zu neuem Leben. 
Seine Heilung ging ungemein langſam vor ſich, verſchiedene 
Umſtände verzögerten ſie, ſo wie ſeine Rückkehr nach Deutſch⸗ 
land. Er ſchrieb, ſobald er die Feder führen konnte, an ſeine 
Aeltern, und meldete, daß er noch lebe; daß er aber wegen 
feiner Wunben nicht mehr dienen könnte, und entſchloſſen ſey, 
ſein erlerntes Handwerk wieder zu ergreifen, daher der Vater 
ihm ſeine Entlaſſung erwirken ſollte. Die Aeltern ſandten 
ihm ſogleich Geld, und waren über den Entſchluß des Soh— 
nes, ſeinen Stand zu verlaſſen, beynahe eben ſo erfreut, als 
über die Gewißheit ſeines Lebens. Sobald er konnte, machte 


191 


er ſich auf den Weg nach Deutſchland. Sein erſter Weg war 
zu den Aeltern, der zweyte, einige Monathe ſpäter, in das 
Städtchen, in welchem er Chriſtinen kennen gelernt hatte. 
Er fand es halb eingeäſchert, alles Alte verſtört, das Haus 
ihrer Muhme fand nicht mehr, und von ihr und Chriſtinen 
war keine Spur zu finden, als die Nachricht, daß jene ſpäter, 
dieſe früher, die Stadt verlaſſen hätte, um nie wieder zurück 
zu kehren, und wo ſie ſich gegenwärtig aufhielten, wußte ihm 
Niemand zu ſagen. 

Tief und ſchmerzlich empfand Wilhelm dieſen Verluſt. Doch 
es waren vier Jahre ſeitdem hingegangen, mancherley Eins 
drücke hatten des jungen Kriegers Seele bearbeitet, er betrau⸗ 
erte ſeine zerſtörten Hoffnungen; aber er faßte ſich endlich, 
gedachte ſeiner erſten Liebe, ſeiner Schwüre wie eines ſchönen 
Traumbildes, das uns noch ergötzt, wenn wir erwachen, das 
unſer Herz noch eine Weile mit lieblich wehmüthigen Empfin⸗ 
dungen anregt; das aber — — nicht ins Reich der Wirklich⸗ 
keit gehört. 

Die Nothwendigkeit, für ſeine künftige Exiſtenz zu ſorgen, 
trat fordernd vor ſeinen Geiſt; ſein Lebensplan mußte gere⸗ 
gelt, und die Arbeit, von der er Erhaltung, Wohlſtand, und 
einſt ein ſorgenloſes Alter erwartete, mit Kraft und Ernſt an> 
gegriffen werden. Es gelang ihm bald, ſich vor ſeinen Genoſ— 
ſen auszuzeichnen. Der feſte Wille, der kluge Sinn, womit 
er ſeine Arbeit betrieb, das Kunſtgefühl, welches ſich in ihm 
offenbarte, heftete die Aufmerkſamkeit der Meiſter auf ihn; 
er wurde geſucht, beſſer bezahlt, anſtändiger behandelt. Sein 
Ehrgefühl wurde mächtig angeregt, der Gedanke: ſich hervor⸗ 
zuthun, eine neue Bahn zu gehn, und nicht zu ſeyn, wie Dies. 


192 


le, ſchwebte feinem Geiſte vor, und richtete fein Gemüth, ab— 
feits den Lockungen und Genüſſen, die ſonſt junge Leute zu 
umſtricken pflegen, auf Ehre und Bedeutenheit hin. Chriſti⸗ 
nens Bild trat ganz in den Hintergrund ſeines Herzens. Noch 
immer bewahrte er ihr ein achtungsvolles Andenken; aber es 
war nicht vermögend, ihn zu irgend etwas zu beſtimmen, ja, 
ſelbſt die Liebe überhaupt und der Sinn für das durch fie ge⸗ 
gründete, häusliche Glück, die ihn einſt mächtig bewegt hat— 
ten, wurden nun höheren Nückſichten untergeordnet. Er wan⸗ 
derte von Stadt zu Stadt, erweiterte feine Anſichten, begründete 
ſeine Kenntniſſe, und kam endlich in die Reſidenz, und die Werk⸗ 
ſtatt der Frau Ambach, wie Chriſtinens Mutter damahls hieß. 
Die Nachläſſigkeit des gegenwärtigen Meiſters gab ihm bald 
die Führung des ganzen Geſchäftes in die Hände, weihte ihn 
gleichſam in alle Vortheile desſelben ein, und regte den Wunſch 
nach eben ſolcher Wirkſamkeit lebendig in ihm auf. Bald Dar: 
auf raffte der Tod jenen hin, und dieſer unvermuthete Fall, 
ſo wie der Witwe ſichtbare Vorliebe für den wohlgebildeten 
und geſchickten Geſellen, erweckte glänzende Hoffnungen in ihm. 

Er warb alſo um die Hand der Meiſterin, und erhielt 
ſie. Jetzt hatte fein Geiſt freuen Spielraum, Er beſaß Ein⸗ 
fluß, Vermögen, Bedeutung, ſelbſt ſein beſſeres Streben, 
Andern durch Beyſpiel vorzuleuchten, und den Wohlſtand ei⸗ 
ner Familie zu ſichern, der er durch Dankbarkeit verpflichtet 
war, wurde angenehm aufgeregt, und in dieſem lebendigen 
Schaffen und Wirken fühlte er felten, daß fein Herz unbe: 
friedigt war, und die alternde Gattin ihm fremd und unge— 
nügend zur Seite ftand. 

Da führte das Schicklal ihm plötzlich das Traumbild feiner 


— 


193 


Jugend entgegen. Es war Chriſtine, die ohnmächtig am Boden 
lag, es waren dieſe einſt geliebten Züge, jetzt bleich, abge— 
ſpannt, wie vom Hauche des Todes berührt. 

und wenn ſie das waren, weſſen war wahrſcheinlich 
die Schuld? — Das rief ihm eine vorwerfende Stimme im 
Innern zu. Er kämpfte gegen den Eindruck, er ſagte ſich Alles, 
was ſeine Vernunft ihm darboth, er ſuchte ſein Gewiſſen zu 
beſchwichtigen, wenn es ihm in manchem Augenblicke vorhielt, 
daß er ſeine Nachforſchungen zu bald aufgegeben habe, daß 
hier in dem Hauſe des Bruders ihrer Pflegemutter vielleicht 
Erkundigungen zu hohlen geweſen ſeyn würden — er war mit 
ſich zerfallen, und die ſichere Ruhe, die ihn bisher begleitet, 
war entwichen. 


Miß verſtändniß. 


Chriſtine fühlte ſich ſehr krank, ſie mußtr ein Paar Tage 
das Bette hüthen, und konnte und wollte ihre Stube noch 
lange nicht verlaſſen. In dieſer Einſamkeit nun wurde, unter 
taufend Schmerzen, der neue Lebensplan entworfen: — zu 
ſchweigen — die Vergangenheit begraben ſeyn zu laſſen; aber 
auch ſobald als möglich das Haus ihrer Mutter zu verlaſſen, 
während der Zeit ihres Stiefvaters Anblick fo viel als möglich 
zu vermeiden, und wenn fie ſich ſehen müßten, des ehemah— 
ligen Verhältniſſes mit keinem Laute, keinem Blicke zu er⸗ 
wähnen. 

Als ſie ſich dieß feſt vorgezeichnet hatte, ſuchte ſie die Mut⸗ 
ter unter einem wahrſcheinlichen Vorwande dahin zu vermögen, 
N 


194 

daß fie ihr erlaube, die Stelle einer Kammerjungfer bey der 
Gräfin von T* **, einer Dame, in deren Haufe ihr Vater 
den Anfang ſeines Glücks gefunden, und die ſeitdem der Fa— 
milie ihres ehemahligen Schützlings gewogen geblieben war, 
anzuſuchen, weil die Gräfin die ihrige damahls eben verloren 
hatte. Die Mutter war nicht zufrieden mit dieſem Vorſchlage, 
fie konnte die kluge Gehülfin im Haufe gar zu wohl benu— 5 
tzen, ſie widerſprach darum lebhaft, und ſuchte ihren Mann 
in ihre Anſichten zu ziehen, indem ſie ihm den Vortheil be— 
greiflich machte, der aus Ehriſtinens Anweſenheit entſtand. Frank 
verſtand Chriſtinens Abſicht vollkommen; aber was ihn dieſer 
Wunſch nach Trennung auf ihre Gemüthsſtimmung ſchlieſßſen 
ließ, trug nicht bey, ihn ruhiger zu machen. Ihm graute vor 
dem nächſten Zuſammentreffen, und er unterſtützte daher den 
Vorſatz Chriſtinens, jenen Dienſt anzunehmen, mit allen mög⸗ 
lichen Gründen. 

Indeſſen war das Geſchäft jenes Dienſtanſuchens nicht ſo 
geſchwind abzuthun, als es Chriſtine, und wohl auch Frank ges 
wünſcht hätten; die Stiefmutter ließ ſich nur mühſam dazu be⸗ 
reden, und endlich gingen noch einige Tage hin, bis Alles mit 
der Gräfin in Richtigkeit gebracht war. Chriſtine konnte kei⸗ 
nen Vorwand mehr finden, in ihrer Stube zu bleiben, ſie 
mußte im Wohnzimmer der Familie erſcheinen. Frank war da⸗ 
von benachrichtiget, und vermied es, dieſen Tag zu Hauſe zu 
ſeyn. Aber wie lange konnte das fortdauern, und wie ſollte 
er ſich gegen fie benehmen? Dieſe Fragen ſtürmten unaufhör⸗ 
lich in ſeiner Bruſt. 

Chriſtine faß im Wohnzimmer mit der Mutter und den 
Schweſtern bey häuslicher Arbeit, in dem Zimmer, wo Frank 


195 


mit ſeiner Frau lebte, wo Alles Spuren feiner Gegens 
wart trug, und dankte Gott für die kleine Erleichterung, daß 
ihr wenigſtens ſein Anblick erſpart war, und ſie ſich nach und 
nach an das Unvermeidliche gewöhnen konnte. Da rief ein Ge⸗ 
ſchäft die Mutter in die Küche, und ein Fremder trat ein, 
der mit Herrn Frank zu reden hatte. Er ſah ſich im Zimmer 
um: man hatte ihn an die Frau des Meiſters gewieſen, eine 
ſchlanke, weibliche Geſtalt, in welcher bedeutender Reitz und 
Jugendblüthe von einem zarten Schleyer geheimen Kummers 
oder Kränklichkeit überſchattet ſchien, ſaß am Fenſter, und 
nähte, natürlich war das des jungen ſchönen Meiſters junge 
ſchöne Frau. 

Der Fremde trat auf ſie zu, brachte ſein Geſchäft vor, 
erfuhr, daß Herr Frank erst ſpät zurückkehren würde, und wur— 
de erſucht, morgen um die gleiche Stunde vor Eſſenszeit zu 
kommen, wo der Meiſter ſicher zu Hauſe ſeyn werde. 

Der Fremde ging, des Vorfalls wurde nicht weiter ge— 
dacht, und der Tag verſtrich endlich. Am nächſten Morgen faß 
Chriſtine abermahls mit bangklopfendem Herzen am Arbeits: 
tiſche beym Fenſter; — denn heute wurde der Stiefvater zum 
Eſſen erwartet. Sie rief jede Kraft in ſich auf, um dieſem 
Zuſammentreffen zu begegnen, fuhr zuſammen, ſo oft die Thüre 
aufging, ſchalt ihre Schwäche, und ermannte ſich wieder, 
als jetzt ſein feſter Tritt im äußern Zimmer ertönte, die Thüre 
raſch aufflog, und nun die einſt fo theure, nie vergeſſene Ge— 
ſtalt, etwas männlicher und ſtärker; aber darum nur deſto 
bedeutender — in ſo gauz veränderten Verhältniſſen vor ihr 
ſtand. 

Sein erſter Weg war zu ihr. Freundlich, ja, angelegen 

N 2 


196 


erkundigte er ſich nach ihrem Befinden; fie antwortete, fo gut 
ſie es vermochte. — Die erſten Worte waren gewechſelt, der 
Ton dieſer Stimme hatte wieder an ihr Herz geſchlagen, ſie 
fühlte wohl, daß in demſelben noch Alles war, wie ehemahls; 
ſie bebte, ſie rang nach Kraft, und hielt ſich auch; denn ſelbſt 
die Gegenwart der Mutter und der Schweſtern trug bey, 
ihre Faſſung zu ſichern. In dem Augenblick kam der Fremde 
von geſtern; man hatte Frank ſchon davon geſagt. Die Män— 
ner behandelten ihr Geſchäft laut, und im Verlauf der Unter: 
redung erwähnte der Fremde ſeines geſtrigen Beſuches, daß 
er bereits mit des Meiſters Frau geſprochen, wies auf Chri— 
ſtinen hin, und wendete ſich mit der Benennung Frau an ſie. 
Frank folgte feinen Blicken — fein Auge begegnete dem Chri- 
ſtinens. — Purpurgluth und Leichenbläſſe wechſelte in ihren 
Zügen, ein nahmenloſer Ausdruck ſpiegelte ſich in den ſeini⸗ 
gen, und diente nur dazu, Beyder Beſtürzung noch zu vergrö— 
ſſiern, als die Mutter ſchnell hervortrat, und mit der Bemer- 
kung, ſie ſey Frau Frank, und jene ihre Tochter, den Frem— 
den zurechtwies. Sie? antwortete der Mann betroffen und 
erſtaunt: Sie? — dann iſt das wohl die Stieftochter, ſetzte 
er langſam hinzu, und in feinen Mienen ſpiegelte ſich, was 
bey'm Erkennen dieſes widernatürlichen Verhältniſſes in ſeinem 
Geiſte vorging. Chriſtine zitterte heftig, fie mußte das Näh— 
zeug ſinken laſſen, Frank ſtand düſter und ſchweigend da, und 
nur der Verdruß feiner Frau fand in dieſem Augenblicke Wor⸗ 
te, um dem Fremden fühlen zu Taffen, daß feine Verwunde— 
rung beleidigend für ſie geweſen ſey. Dieſer empfahl ſich bald, 
Hund ein Strom von bittern Bemerkungen ergoß ſich aus dem 
Munde der gereitzten Frau, ſobald jener die Thüre hinter ſich 


197 


angezogen hatte, und gab den zwey Betroffenen Zeit, ſich ei: 
niger Maßen zu ſammeln. Aber Chriſtine hielt es im Zimmer 
nicht aus. Was der Fremde in ihr angeregt hatte, war zu 
ſchmerzlich, fie klagte über plötzliches Uebelbefinden, und ent— 
fernte ſich. Frank glaubte fie ſchwanken zu ſehen, feine Befins 
nung war überwältigt, er eilte auf ſie zu, um ſie zu unter⸗ 
ſtützen. Sie erhob das Auge, es traf auf einen Blick voll 
Zärtlichkeit, Sorge und Reue. Nun war es auch um ihre Faſ— 
fung gethan. In Thränen ausbrechend, ſank fie auf einen Stuhl 
an der Thüre nieder. Frank ſtand im heftigſten innern Kampfe 
neben ihr, er hatte geſehen, was er zu erfahren gefürchtet, 
und darum gern nicht geglaubt hätte. Indeſſen ſtrömte die 
Stimme feiner Frau immer fort, und die Töne dieſer durch- 
dringenden Stimme, die ganze Gemeinheit ihres Benehmens 
fielen peinigend in feine Seele. Was das Mißverſtändniß des 
Fremden in ihm angeregt hatte, erhob ſich furchtbar vor ſei— 
nem Geiſte; er war nicht fähig ein Wort hervorzubringen, 
als endlich Chriſtine ihre Thränen bezwang, und ohne daß ihre 
Mutter in ihrem Feuereifer etwas bemerkt hatte, ohne daß 
Frank etwas that, um ſie aufzuhalten, ſchnell das Zimmer 
verließ. 5 

Sie war feſt entſchloſſen, es nicht wieder zu betreten, 
mochte die Mutter, mochte Frank davon denken, was fie woll⸗ 
ten. Zu ihrem größten Glücke erſchien noch den Nachmittag 
der Haushofmeiſter der Gräfin, um ihr anzukündigen, daß 
dieſe wünſche, ihre neue Kammerjungfer ſollte ihren Dienſt 
um ein Paar Tage früher antreten. — Die Mutter war es 
ſeit dem Auftritt von heute Vormittag auch wohl zufrieden; 
denn fie befürchtete nicht ohne Grund, die Anweſenheit der 


198 


ſchönen Tochter könnte fie leicht ähnlichen beleidigenden Miß⸗ 
verſtändniſſen ausſetzen. Frank, dem der Gedanke, Chriſtinen 
nicht mehr zu ſehen, ſeit dieſem Morgen ſchmerzlich war, ſah 
dennoch die Nothwendigkeit dieſes Schrittes ein, er verſprach 
ſelbſt zur Gräfin zu gehen, und ſeine Tochter auf's angele⸗ 
gentlichſte zu empfehlen. Die Gräfin dankte ihm für das Zu⸗ 
trauen, das ihr die Familie bewies, und freute ſich, ein fo 
ſchätzbares Weſen, wie ihr Vater ſie ſchilderte, um ſich zu 
haben, die ihr mehr als Dienerin ſeyn würde, und ſo trat 
denn Chriſtine, ohne ihren Stiefvater noch einmahl geſehen 
zu baben, da Beyde unter ſchicklichen Vorwänden es gern ver— 
mieden, ſchon am dritten Tag ſeit jenem unſeligen Auftritte 
ihre neue Beſtimmung an. 2 


N ii ck fa kl. 


Sie war nun abermahls aus dem älterlichen Haufe geſchie— 
den. Nirgends mehr konnte ihr Frank begegnen, kein Zuſam— 
mentreffen war möglich, und was ihm vor einigen Tagen wün— 
ſchenswerth geſchienen hatte, Chriſtinens Entfernung, regte 
nun, da ſie eingetreten war, und nach dem Vorfall an jenem 
Vormittage fein Herz in Wehmuth und Verlangen auf. Im— 
mer ſchwebte ihr Bild ihm vor, wie ſie, in Thränen ausbre— 
chend, an der Thüre auf den Stuhl ſank, und ſie dünkte ihm 
anziehender in dem Reitz ſanfter Schwermuth, als vormahls 
in unbewußter Jugendblüthe, die vielleicht — vielleicht der 
Kummer um ihn ſo frühe abgeſtreift hatte. 

Dieſer Gedanke grub ſich am tiefſten und quälendſten in 


299 


feine Seele. Alles, was er von dem erſten Augenblicke des 
Wiederſehens an, bis jetzt hatte bemerken können, ließ ihn 
mit der höchſten Wahrſcheinlichkeit vermuthen, daß fie ihres 
Schwuüres beſſer eingedenk geweſen, als er, daß ſie ihn ſogar 
dem Todten gehalten, daß er immerfort in ihrer Seele gelebt, 
und fie um ſeinetwillen jede andere Verbindung ausgeſchlagen, 
indeß er ſeine Treue, ſeine beſſeren Gefühle leichtſinnig den 
Rückſichten feines Ehrgeitzes und feiner Eitelkeit geopfert. Alle 
alten Erinnerungen wachten auf, alle Jahre, welche zwiſchen 
jener erſten Zeit in * und den letzten Tagen gelegen hatten, 
verſanken vor ſeinem Geiſte; die Vergangenheit knüpfte ſich 
unmittelbar an den jetzigen Augenblick, jeder Blick auf ſeine 
alternde Gattin, an welche Selbſtſucht und Ehrgeitz ihn ge— 
kettet, jeder Vergleich zwiſchen ihr und ihrer Tochter, fuhr 
wie ein Stachel in ſeine Seele, regte die beſſern Gefühle auf, 
welche jene ſelbſtſüchtigen Triebe niedergekämpft hatten, und 
verklärte in höherem Glanze vor ſeinen Augen das Bild ſeines 
häuslichen Lebens, wie es ſich an Chriſtinens Seite geſtaltet 
haben würde, und wie er es wahrſcheinlich bey früherem und 
emſigerem Nachforſchen und ſtandhafterer Treue, von der Zeit 
von ihrer Liede, und des Vaters Liebe für ſie, hätte erhalten 
konnen. i 

Alles, was er von Chriſtinen hörte, nährte dieſe finſtern 
Vorwürfe. Sie fand ſich mit gehaltener Entſagung in ihre ab: 
hängige Lage, welche ihr übrigens durch die Güte ihrer Ge— 
bietherin fo viel als möglich erleichtert wurde; aber daß fie 
ſichtlich abnahm, daß ein unheilbares Uebel an ihrer Geſund— 
heit zu nagen ſchien, das kennten die Schweſtern, wenn fie 
fie beſuchten, unmoglich überſehen, obwohl über Chriſtinens 


200 


Lippen Feine Klage kam, und fie die zuweilen geäußerten Ber 
ſorgniſſe zu verſpotten, oder zu widerlegen ſuchte. Wenn zu Hau⸗ 
ſe die Rede davon war, und der Stiefvater die beſorgten Re— 
den der Seinigen hörte, da drangen die Dornen der Reue 
brennend in feine Gruft, und immer heftiger ward der Kampf 
in feinem Innern, und immer heißer der Drang, nur ein- 
mahl, ein einziges Mahl mit ihr zu ſprechen, ſich vor ihr ans 
zuklagen, und ſie aber auch in dem Jammer, der ihn zerriß, 
die volle Rache ſehen zu laſſen, die das Schickſal für den ver⸗ 
nachläſſigten Schwur an ihm genommen. 

Er widerſtand einige Zeit dieſem Wunſche, deſſen gefähr⸗ 
liche Folgen er für Chriſtinens Ruhe wohl einſah — aber der 
Sturm in feiner Bruſt wurde zu mächtig, und was auch Ver⸗ 
nunft, Zartgefühl und Grundſätze vorwandten, die Stimme 
der Leidenſchaft übertäubte ſie Alle. Ein Vorwand war bald 
gefunden, warum der Stiefvater mit der Tochter zu ſprechen 
haben konnte, da Niemand ihr wahres Verhältniß ahnte; aber 
daß Chriſtine ihn nicht annehmen würde, wenn er ſich gerade⸗ 
zu melden ließ, das konnte er vorherſehn. 5 

Sie war eben bey der Gräfin, als er von dem Bedien- 
ten in ihr Zimmer gewieſen wurde, und er bath, die Jung— 
fer zu rufen, weil Jemand, von der Mutter geſchickt, ſie zu 
ſprechen hätte. Nichts Arges ahnend, trat Chriſtine herein; 
fie erkannte Frank, ihr Erſchrecken ſagte ihm, was in ihr vor— 
ging, und beſtätigte jede gerechte Furcht, und jede ſtrafbare 
Hoffnung feiner ruft. 

Seine glühenden Blicke verſchlangen die geliebte Geſtalt; 
die Heftigkeit ſeiner Gefühle hemmte auf einige Augenblicke 
ſeine Worte, und gab Chriſtinen die Zeit, ſich zu faſſen, und 


201 


mit unterdrückter Stimme zu fragen: Herr Vater! Was ſteht 
zu Eurem Befehl? 

Vater! rief er: Vater! Verhaßter Nahme! Habt Ihr nur 
dieſen Fluch, um mich zu empfangen? 

Chriſtine fuhr zurück vor der wilden Heftigkeit, mit der 
dieſe Worte hervorgeſtoßen wurden. Sie zitterte, und mit anz 
geſtrengter Faſſung ſagte ſie: Mich dünkt, es wäre beſſer, 
Euch nicht zu hören, und mit dieſem Worte wollte ſie ſich wen⸗ 
den, und das Zimmer verlaſſen; aber Frank ſtürzte auf ſie zu, 
ergriff ihre Hand, und rief: Du mußt mich hören, ich muß 
Dir Alles ſagen, ich muß wiſſen, ob Du mich verdammſt, ob 
Du mich haſſeſt? Sie ſah ihn an, fie ſah den Ausdruck der glü— 
hendſten Leidenſchaft in ſeinen Zügen, und Thränen in dieſen 
blauen Augen, deren ſeelenvoller Blick ihr in der traurigen 
Verlaſſenheit langer Jahre immer gegenwärtig geblieben war. 
Auch ihr ſchwand die Rückſicht auf alles Vorhergegangene, 
außer ſich warf ſie ſich an ſeinen Hals, und ihre Thränen floſ— 
ſen an ſeinem Herzen. 

Wie lange ſie ſich in ſchmerzlich ſüßer Betäubung ſo um⸗ 
faßt gehalten, war ihnen ſelbſt nicht bewußt. Der Ton der 
Klingel aus dem Zimmer der Gräfin ſchreckte ſie auseinander. 
Ich muß fort, rief Chriſtine; lebe wohl! auf ewig! — auf 
ewig! Nein, fuhr Frank auf: nicht alſo! Es iſt nöthig, daß 
Du mich anhörſt, daß Alles klar zwiſchen uns ſey. Ich kann 
es fordern, ich komme morgen wieder. In halber Betäubung 
willigte Chriſtine ein, und Frank verließ fie, triumphirend . 
daß er ſo viel erlangt, daß er ihrer Liebe ſicher war, und 
leidenſchaftlicher für ſie entzündet, als er es ſelbſt bey ihrer er⸗ 
ſten Bekanntſchaft geweſen. 


202 


Als fie wieder Zeit hatte, ſich zu ſammeln, erkannte fie 
wohl die Gefahr, welcher ſolche Zuſammenkünfte ſie ausſetzten; 
aber fie glaubte, für jetzt ſey nichts zu thun; fie machte ſich 
ſelbſt weiß, es wäre nothwendig für das mühſame Gebäude 
ihrer künftigen Ruhe, ganz klar den Zuſammenhang der frü— 
heren Begebenheiten einzuſehn, ſie könnte dem Freunde ihrer 
Jugend dieſe Rechtfertigung nicht verſagen, und ſo erwartete 
fie unter inneren Kämpfen den nächſten Tag und Franks Bes 
ſuch. Wie die verabredete Stunde näher kam, wuchs ihre Angſt 
und ihr Entzücken; denn was auch ihre Vernunft gegen Diefe 
Unterredung einwenden mochte, ihr Herz hatte zu lange an 
dieſer ſeligſten ihrer Freuden gedarbt, als daß ſie nicht mit 
Luſt in dem Gedanken hätte ruhen ſollen, den innig und ein: 
zig Geliebten ſehn und ſprechen zu können. Frank kam. Auch 
bey ihm hatten Beſinnungen und Rechtlichkeit den erſten Sturm 
ſelbſtiſcher Leidenſchaft niedergekämpft, auch er wollte nichts, 
als ſich rechtfertigen, und von Chriſtinen die Erlaubniß erhal—⸗ 
ten, ſie zuweilen, wenn auch äußerſt ſelten, auf eine halbe 
Stunde zu ſehen, und über fo manche Sorge, fo manches Pein⸗ 
liche in ſeiner Lage bey ihr Troſt und Stärkung hohlen zu dür— 
fen. Freundlich und ruhig ſetzte er ſich neben Ne, fragte nach 
ihrer Geſundheit, nach ihren Verhältniſſen, ſchien wirklich nur 
ein liebender Vater, oder Bruder zu ſeyn, ſo daß Chriſtinen 
ganz leicht wurde, und die ängſtliche Spannung ihres Herzens 
nachließ. Sie erzählte, fie vertraute ihm Alles, nach und nach 
würde das Geſpräch lebhafter. Erinnerungen wurden berührt, 
Beziehungen erwähnt, Franks erkünſtelte Ruhe war dahin, al⸗ 
les Ungeſtüme der Leldenſchaft brach in unbewaͤchten Augen- 
blicken hervor. Auch er erzählte, was mit ihm vorgegangen, 


203 


eit er Chriſtinen in jener Abſchiedsnacht zum letzten Mahle ge⸗ 
ſehn. Seine Sehnſucht, ſeine Trauer um ſie, die Schickſale 
des Feldzugs, ſeine Verwundung, ſeine langen Leiden, wie er 
bey der ſpäten Rückkunft jede Spur von ihr verlöſcht gefun— 
den, und dann freylich in den Zerſtreuungen eines unfteten 
Wanderlebens, unter mancherley Sorgen und dringenden Be— 
dürfniſſen, das Bild feiner erſten Liebe in trübe Schatten, hoff⸗ 
nungsloſer Entſagung zurückgetreten ſey, daß er nicht mehr 
mit dem Eifer geſucht, der ihn wahrſcheinlich hätte finden, 
und dadurch den nahmenloſen Qualen entgehen laſſen, die ihn 
nun folterten. 

Hier klagte er ſich nun mit ſolcher Strenge, ſolcher Verzweif⸗ 
lung ſelbſt an, daß ſelbſt die Anklage, und der Schmerz, in 
welchem ihn Chriſtine ſah, zu neuen, unzerreißbaren Vanden 
für ihre befangene Seele wurden. Zwar konnte ſie ſich's nicht 
verhehlen, daß er nicht ganz fo gehandelt, wie ſie es gewünſcht⸗ 
hatte, daß ſie ihre Treue ſtrenger gehalten, und daß, wenn 
ſeine Liebe immer ſo lebendig wie die ihrige geblieben wäre, 
er mehr gethan haben würde, ſie wieder zu finden. Aber ſie 
bedachte, daß er ein Mann war, welche Anſprüche er an die 
Welt, und dieſe an ihn habe, wie beweglich für Ehre und 
rühmliche Thätigkeit der Sinn des ſtärkern Geſchlechtes ſey; 
ſie erwog, daß er ihr ja eigentlich nicht untreu geweſen, daß 
ſein Herz an allen Eingebungen ſeines Ehrgeitzes keinen Theil 
gehabt, und endlich — ſah ſie ihn unglücklich, verzweifelnd 
und noch immer leidenſchaftlich liebend vor ſich. Dieſe Betrach- 
tung überſtimmte Alles, was Vernunft und Stolz einwenden 
mochten. Sie konnte ihm nicht zürnen, fie konnte ſich's nicht verſa— 
gen, ihr gedrücktes Herz am glühenden Strahl der Siebe ſich 


204 


aufzuſchließen, und mit ſtummer Luſt an dem lang entbehrten 
Schimmer ſich erhohlen zu laſſen, und eben fo wenig konnte 
fie fo grauſam ſeyn, dem unglücklichen Freunde jede Mög: 
lichkeit abzuſchlagen, zuweilen Erheiterung und Kraft zu den 
mühevollen Geſchäften, welche der Ihrigen Wohl betrafen, in 
ihrem Umgange zu finden. 

Zwar ſollten ihre Zuſammenkünfte nur äußerſt ſelten fen, 
das gelobten fie ſich Beyde mit ernſtlichem Willen; aber ſich 
ganz zu trennen — dieſer Vorſatz ſchien ihnen undenkbar, und 
ſelbſt in der Unmöglichkeit, ihn auszuführen, da tauſenderley 
Zufälle fie bey ihren Familienverhältniſſen einander plötzlich nahe 
bringen konnten, der Stempel ſeiner Verwerflichkeit zu liegen. 

Beſſer war es ja, fie gewöhnten ſich nach und nach, ein—⸗ 
ander ohne ſo große Erſchütterungen zuweilen zu ſehen — es 
war genug, daß fie nicht in einem Haufe lebten, und Rechts 
lichkeit und Vernunft ſollten ihnen Beyden als ſchützende En⸗ 
gel zur Seite ſtehen. 


Vergeblicher Kampf. 


Es ging die erſten Mahle ſo ziemlich. Frank begnügte ſich, 
feine Beſuche in längere Zwiſchenräume einzutheilen, fein Herz 
offen vor der Freundin darzulegen, und bey ihr Rath und 
Theilnahme zu ſuchen. Auch Chriſtine hielt ihr Gefühl in ſtren— 
ger Acht, und ſchon begann ihre Seele, an die Möglichkeit und 
Dauer eines ſchönen Freundſchaftsbundes zu glauben. Aber 
die Geſchichte ihrer erſten Zuſammenkunft widerhohlte ſich hier 
nur in größeren Verhältniſſen. Franks Leidenſchaft brach wild 


205 


hervor, es war ihm unmöglich, fih in den Schranken ruhiger 
Achtung zu halten. Sein Ungeſtüm riß auch Chriſtinens Fünfte 
liche Faſſung nieder, ſtürmiſche Auftritte folgten, der Ent 
ſchluß, ſich zu meiden, wurde zehnmahl gefaßt, und ſcheiterte 
zehnmahl an der Schwäche der allzuliebenden Herzen. Die Ru- 
he war dahin, und der innere Kampf erſchien bald auch in dem 
äußern Benehmen der beyden Unglücklichen. Frank wurdel au⸗ 
niſch, ungleich, hart gegen ſeine Umgebungen. Oft war eine 
Kleinigkeit im Stande, ihn zum heftigſten Zorn zu reitzen, 
und in ſeinen trüben Stunden, wenn er über den Vergleich 
des Einſt und Jetzt in ſeiner Lage die Außenwelt vergaß, 
konnte vorgehen, was wollte, verſehen, verdorben werden, 
was der Leichtſinn, oder böſe Wille der Geſellen, oder Dienſt— 
leute verbrach, er hatte keinen Sinn dafür. Er ſah nach, wo 
er firafen ſollte, und ſtrafte, wo kaum Etwas gefehlt war; er 
fühlte dieſe Schwäche, und der Unmuth darüber reitzte ihn noch 
mehr auf. Seine Geſchäfte gingen nicht mehr, wie fie gegan— 
a gen waren; ſeine Frau empfand das, ſie rügte es auf ihre 
Art gemein, ſchonungslos, mit Keifen und Zanken, bis fein 
auflodernder Zorn fie wieder einmahl einſchüchterte, und ihm 
guf ein Paar Tage eine unheimliche Stille verſchaffte. Je öf⸗ 
ter ſich dieß Alles wiederhohlte, je mehr wurde feine häusli⸗ 
che Lage ihm verleidet, je lebhafter trat das Bild des Glücks, 
das er ſich verſcherzt hatte, in lockenden Farben vor feine See— 
le, je ſtürmiſcher ward ſein Gemüth, und je mehr riß ſeine 
Leidenſchaft die Unglückliche, die ihr nicht zu widerſtehen ver: 
mochte, und ſich ihr doch nicht ergeben durfte, mit ſich hin. 
Ihre Geſundheit hatte ſchon längſt gewankt, jetzt war fie zer- 
ſtört. Fieber und Schwäche rieben fie auf; vergebens fuchte ih⸗ 


206 


re Gebietherin durch Schonung und ärztliche Hülfe dem Ueßel 
zu wehren, vergebens drangen Mutter und Schweſtern in ſie, 
ſich einer förmlichen Cur zu unterziehen, Chriſtine durfte nicht 
ſagen, was der Grund ihrer Krankheit war, und was allein 
allen Arzeneyen, allen Vorſchriften widerſtand. 


Eifer ſucht. 


So vergingen einige Monathe. Frau Frank hatte ſchon kan⸗ 
e, von ihrem Unmuthe geleitet, eiferſüchtigen Regungen Raum 
gegeben, die freylich keinen beſtimmten Gegenſtand hatten; 
aber bey der alternden Frau des jungen ſchönen Mannes nur 
zu natürlich entſtanden. Sie forſchte nach, fie lauerte auf ſei— 
ne Schritte und Gänge, aber ſie fand nichts Verdächtiges; 
denn, daß der Stiefvater in acht oder zehn Tagen einmahl die 
Stieftochter in dem Hauſe ſeiner Gönnerin, der er ſie ſelbſt 
empfohlen, beſuchte, konnte ihr unmöglich auffallen. Da führ⸗ 
te ein unſeliger Zufall bey'm Durchſuchen der alten Papiere 
ihres ſeligen Mannes ihr ein Paar Briefe der nun ebenfalls 
geſtorbenen Frau Sebald in die Hände, die in der Periode der 
erſten feindlichen Invaſion aus“ gefchrieben waren. Die beſorgte 
Frau hatte es nöthig geglaubt, den Vater von allen Schritten 
ſeiner Tochter zu unterrichten, und ſo meldete ſie ihm auch 
jene Geſchichte der Rettung vor den wilden Pferden, die er— 
folgte unerfreuliche Entdeckung des geheimen Liebesverſtänd— 
niſſes, den Nahmen, Geburtsort und andere Verhältniſſe des 
gefährlichen Liebhabers. Ein dichter Schleyer fiel in dieſem Mo— 
mente von den Augen der enttäuſchten betrogenen Frau. Ihr 


207 


Mann war Fein anderer, als der ehemahlige Liebhaber ihrer 
Tochter, und ihr jetziger dazu, und Alles, was der Zufall ge- 
kartet hatte, ſchien ihr vlanmäßiger Entwurf der unerhörte— 
ſten Bosheit und Niederträchtiakeit. Außer ſich vor Wuth, for— 
derte ſie Hut und Halstuch, und ſtürmte fort zu Chriſtinen; 
denn zum Unglücke für ſie, war Frank auf ein Paar Tage ver⸗ 
reiſet. 

Wie eine Raſende trat fie in's Zimmer des erſchrockenen 
Mädchens; ein Strom von Vorwürfen, Schimpfreden und 
entehrenden Vermuthungen ergoß fich über ihre Lippen, und 
Chriſtine erfuhr mit Entſetzen das Furchtbarſte, was ihr ge— 
ſchehen konnte, Entdeckung ihres Geheimniſſes mit Aufſe— 
hen, Schande, und nur zu nachtheiligem Scheine gegen ſie. 
Alles, was ihre im Innerſten empörte Natur in dieſem ſchreck⸗ 
lichen Augenblicke vermochte, war, die Mutter bey allen Hei⸗ 
ligen zu beſchwören, ihre Stimme zu mäßigen, daß nicht die 
Gräfin und das ganze Haus Zeugen dieſes unwürdigen Auf- 
trittes würden; aber mit dieſer Bitte war Oehl in's Feuer des 
lodernden Zornes gegoſſen. Das will ich eben, ſchrie die 
Wüthende: Erfahren, hören ſollen ſie es, wie ſchlecht Du biſt, 
wie Deine Scheinheiligkeit alle hinter's Licht geführt hat, wie Du 
Dich nicht ſchämeſt, den Mann Deiner Mutter, Deinen Stief— 
vater zu verführen. Die ganze Welt ſoll es wiſſen, was Du 
für eine verworfene Creatur biſt. Chriſtine zitterte, jede Ner⸗ 
ve an ihr war empört, ſie ſank und wollte ſich an einem Ti⸗ 
ſche halten; aber Frau Frank ſprang in blindem Zorne auf ſie 
zu. Nicht alſo, rief fie: keine Künſte! keine verſtellte Ohn— 
macht! Wir kennen das; Du ſollſt hören, Du ſollſt nicht ohne 
mächtig werden! Bey dieſen Worten hatte ſie die Unglückliche 


208 


ergriffen, und wollte fie gewaltſam aufreißen. Chriſtine hat⸗ 
te den Tiſch krampfhaft gefaßt, ihre Hand ließ ihn in der hef— 
tigen Spannung nicht los, ſie ſtürzte nieder, der Tiſch mit 
ihr, und das fürchterliche Gepolter zog die Gräfin und die 
Zofen, die ſchon längſt, zwiſchen Furcht und Vorwitz kämpfend, 
das Geſchrey der Frau gehört hatten, in's Zimmer. Sie fan⸗ 
den Frau Frank mit der Geberde einer Furie, ſchäumend vor 
Wuth, die unbarmherzig an ihrer Tochter riß, Chriſtine wie 
eine Todte bleich am Boden, und mit Blut überſtrömt, wo 
der fallende Tiſch fie im Geſicht verwundet hatte. Alles erſchrack, 
die Zofen fprangen zu Hülfe; die Eine riß die wüthende Frau 
von ihrer Tochter weg, die Andere ſuchte die Ohnmächtige zu 
laben, und ein ſtrafender Blick der Gräfin befragte die Mut— 
ter um die Urſache dieſes empörenden Auftrittes. Taub für jes 
de Stimme der Vernunft oder Ehre, ſtrömte dieſe nun ihren 
Geifer aus, und wenn es ihr auch nicht gelang, das Gemüth 
der Gräfin mit allen den unwürdigen Vermuthungen zu be— 
ſlecken, die in ihrer Seele Platz fanden, fo erfuhr fie doch ge⸗ 
nug, was, mit ihren eigenen Beobachtungen über Chriſtinens 
Betragen und ihre Gemüthskrankheit, denn dafür hatte es die 
Sräfin längſt erkannt, zufammengehalten, ihr eine ſehr une 
günſtige Meinung von dieſer einflößen mußte. Frau Frank be— 
kam einen eruften Wink, ſich zu entfernen, und länger nicht 
durch ihr gemeines Benehmen die Wohnung der Gräfin zu 
entwürdigen; Chriſtinen aber überließ ſie den Händen ihrer 
Gefährtinnen; denn ihre Seele wandte ſich mit Unmuth von 
der Vorſtellung bewußten und des pflichtvergeſſenen Unrechts ab, 
doch nicht ohne jenen alle mogliche Sorgfalt für die Unglück⸗ 
liche eingeſchärft zu haben. 


Entſchluß. 


Chriſtine erwachte erſt nach Stunden aus ihrer tödtlichen 
Betäubung. Noch vermochte fie kaum in dem zerrütteten Geis 
ſte zu faſſen und zu ordnen, was mit ihr vorgegangen war. 
Die voreilige Revfeligkeit ihrer Gefährtinnen unterrichtete fie 
nur zu wohl. Sie ſah den Abgrund der Schmach, der Ent- 
ehrung vor ſich geöffnet, und ſich rettungslos verloren. 
Hier zu bleiben unter dieſen Umſtänden, dem Stiefvater viel— 
leicht noch einmahl zu begegnen, war ihr undenkbar. — Sie 
ſchwieg aber; denn ſie war keines zuſammenhängenden Ge— 
dankens, keiner Erörterung mächtig. Nur Flucht, Entfers 
nung von dem unſeligen Orte, wo ihre Ruhe, ihr beſſeres 
Bewußtſeyn, und jetzt auch ihre Ehre unwiederbringlich verlo— 
ren gegangen; dieſe einzige Idee leuchtete wie ein Strahl in 
finfterer Nacht ihrer gemarterten Seele vor; mit ihr allein 
beſchäftigte ſie ſich, und entwarf unbedachte Plane, um ſie 
zu verwirklichen. Noch heute, zu Fuße, wollte ſie fort; denn 
morgen wurde Frank zurückerwartet, und was dann folgen 
konnte, mochte ſie nicht denken. — War ſie nur erſt aus der 
Stadt, bey einer armen Frau in dem nächſten Dorfe, die 
ſie noch von ihres Vaters Lebzeiten her wohl kannte, dann 
ſollte ihr dieſe behülflich fern, auf dem Poſtwagen zu ihrem 
Vetter nach ingen zu gelangen, und dort — dort würde fie 
doch wohl ein ruhiges Plätzchen finden, um zu ſterben. 

Sie ſagte Niemanden etwas von ihrem Vorhaben. Die 
Gräfin ſchellte ihr kein einziges Mahl den ganzen Tag über, 
und ließ ſich von einem andern Mädchen bedienen. Chriſtine 

O 


210 


empfand nur zu wohl, was in dieſem Betragen lag, es beug⸗ 
te ſie tiefer, als ihrer Mutter unwürdige Behandlung. Sie 
machte ihr Bündel, ordnete Alles auf's gewiſſenhafteſte, was 
ſie von ihrer Gebietherin unter den Händen hatte, und da 
dieſe in's Theater gefahren war, entſchlüpfte ſie über die Hinz 
tertreppe in's Freye, und ſuchte, ſo ſchnell es ihre gänzliche 
Erſchöpfung erlaubte, das nahe Dorf, wo die Witwe wohn— 
te, zu erreichen. Ihr Weg führte ſie an dem Kirchhof, wo 
ihr Vater begraben lag, vorbey. Sie war todtmüde, und 
ſein Grab der einzige Platz, der hier in dieſer Stadt, welche 
ihr von jeher nur Qual bereitet hatte, einen Werth für ſie hatte. 
Der ſtille Friedhof ſtand offen, ſie ging hinein, die Gegend 
des Grabes war ihr wohlbekannt. Wie oft hatte fie da ſchon 
gebethet, und den vorangegangenen Vater angerufen, ſie 
abzuholen! So ſetzte ſie ſich auch jetzt, erſchöpft von inne⸗ 
rer Zerrüttung, von äußerer Krankheit angegriffen, auf den 
Raſen hin. Der Abend wurde feucht und finſter, Regenwol⸗ 
ken zogen am dunkelnden Himmel herauf — es blitzte von fern 
— und Donner grollten in den Bergen. Jetzt riß der Sturm 
ſich los, er fuhr über den Gräbern hin, ein ſchneidender 
Hauch berührte die Arme. — Fieberfroſt ſchüttelte ſie, ſie wollte 
ſich aufraffen, und vermochte es nicht mehr, jede Kraft war 
entſchwunden, jede Sehne entſtrickt. — Betäubt, aber doch 
nicht ganz bewußtlos ſank fie auf den Hügel hin, der die theu⸗ 
ren Ueberreſte deckte, und das Gefühl ihrer entſetzlichen Lage 
kam zermalmend über ſie. 

Wie lang ſie ſo gelegen, wußte ſie ſelbſt nicht; ein Rüt⸗ 
teln und eine fremde Stimme erweckten ſie aus ihrem dum⸗ 


211 


pfen Zuſtande. Es war ein Mann von rauhem Anſehn, der, 
eine Laterne in der Hand, womit er ihr in's Geſicht leuchtete, 
vor ihr ſtand. — Sie ſah ihn an, aber ſie konnte nicht ſpre⸗ 
chen; ſie hörte ihn fragen; aber ſie verſtand nicht, was er 
ſagte. Auf ſein Rufen kamen eine alte Frau und ein Burſche. 
Man hob Chriſtinen mitleidig auf, und brachte ſie in das Haus 
des Todtengräbers; denn das war der Mann, der ſie gefunden. 
Die Nacht verging unter den gutgemeinten aber fruchtloſen 
Hülfeleiſtungen der einfachen Menſchen. Am andern Tage — 
man hatte fie fogleich vermißt und überall gefucht — erſchien 
der Wagen der Gräfin mit dem Arzte und der Kammerfrau. 
In dem Herzen ihrer Gebietherin war, mit dem Gedanken an 
die mögliche Schuldloſigkeit der Unglücklichen, Verkannten, 
Reue und Angſt um ſie erwacht, und ſie hatte, ſobald ſie den 
Ort erfahren, wo man ſie gefunden, ihr Hülfe geſchickt. Der 
Arzt erklärte, daß an ein Hinwegbringen nicht zu denken ſey, 
die Kranke ſey zu ſchwach; doch ordnete er Alles an, was zu 
ihrer Erleichterung dienen konnte, und in ein Paar Stunden 
erſchien die gute Gräfin ſelbſt. Das war die Erſcheinung ei⸗ 
nes Engels in ihrer gänzlichen Verlaſſenheit, und ſo viel es 
ihre Schwäche erlaubte, bezeugte ſie ihren Dank und ihre 
Freude. Aber das waren nur lichte Augenblicke in der trüben 
Nacht, die ihre Seele umfangen hielt. Sie war die meiſte 
Zeit des Tages ohne Vewußtſeyn, wüthende Fieberanfälle er: 
ſchütterten und erſchöpften die letzte Kraft ihrer Natur. Gegen 
Abend kam Frank an. — Die Zerſtörung in ſeinem Hauſe, 
die gemeine Wuth ſeines Weibes, der Jammer der jüngern 
Töchter ſagten ihm Alles. — Er eilte auf den Kirchhof. Hier 
O 2 


212 


hatte die Gräfin die ſtrengſten Befehle gegeben, er wurde nicht 
zu der Sterbenden gelaffen. Außer ſich vor Reue und Ber: 
zweiflung, warf er fich vor der Thüre des Hauſes nieder, ges 
berbete ſich, wie Leidenſchaft und höchſte Angſt ihn trieben, und 
rannte dann fort, ohne daß man durch mehrere Tage etwas 
von ihm erfuhr. Auf das Erſuchen der Kranken, und den bes 
ſtimmt geäußerten Wunſch der Gräfin, wurden ihre Schweſtern 
geholt, die ſie immer geliebt. Die Gräfin ſelbſt führte ſie an 
ihr Lager, der Geiſtliche trat mit ihnen ein, körperliche Er— 
ſchöpfung und ſeine tröſtenden Worte hatten den Sturm ihres 
Gemüthes beſchwichtigt, Beſinnung und Ruhe kehrten zurück— 
Sie vergab Allen, deren Werk ihr Unglück war, herzlich, 
theilte, was ſie beſaß, unter ihre Schweſtern, und verſchied 
noch denſelben Abend in den Armen der tiefgerührten Gräfin, 
die ſie nicht mehr verlaſſen hatte, und den troſtloſen Schwe— 
ſtern, ſanft und heiter den Augenblick ſegnend, der ihr leiden⸗ 
volles Leben endigte. 

Herrn Franks Ehe und häusliche Exiſtenz war zerſtört. 
Die Geſchichte war ſtadtkündig geworden; fein Nahme, feine 
ſeltſamen Verhältniſſe wurden das Mährchen müſſiger Stun— 
den, Afterreden und Mißdeutungen empfingen ihn überall. 
Chriſtinens Bild in der letzten Nacht, wo fie, verzweifelnd an 
allem Erdenglück, auf dem Grabe ihres Vaters gelegen hatte, 
war das Schreckbild ſeiner Träume, das Andenken an ihre 
Liebe und Treue, und an den Lohn, den feine felbftfüchs 
tige Leidenſchaft ihr bereitet, der Stachel, der jede ſeiner 
Freuden tödtete; er vermochte es nicht, hier auszuhalten. Fey— 
erlich ließ er ſeine Ehe mit der Frau, die ihm jetzt ſo verhaßt 


213 


geworden war, daß er ihren Anblick nicht ertragen konnte, 
durch die Behörden trennen, gab ihr Alles zurück, was er 
durch ſie empfangen und erworben, eilte fort, und ſoll ſich 
in dem nächſten Seehafen eingeſchifft haben, um jenſeits dem 
Meere ein neues Daſeyn, wo möglich unverfolgt von den Geifs 
ſeln der Reue, zu beginnen. 


Caroline Pichler, geb. v. Greiner 


21 


Jon 


Der Glaube an die Frauen. 


5 holden Fraun! die Ihr mit ſtillen Händen 
Am Leben ſpinnt, in Lieb' und Luſt und Leid! 
Und Eure Welt in Eures Haufes Wänden 
Im eignen Licht des warmen Herzens ſeyd; 
Daß nimmer iſt nach Außen Euer Streben, 
Und Eure Bruſt ſtill wie der Altar ſteht 
Im Heiligthum, wenn draußen wild das Leben, 
Mit ſeines Kriegs und Friedens wildem Streben, 
Im Wirbel um das Heiligthum ſich dreht; 


Ihr holden Fraun! wenn auch die ſanften Augen 
Der Lebensfäden wild verwirrtes Spiel 
Zu binden nicht und nicht zu ſcheiden taugen, 
Den Fäden folgend nach dem fernern Ziel; 
Wenn Ihr auch nicht nach allen Himmelsſeiten 
Laßt Eure Zügel ſchießen wild und laut, 
Wie auch die Blumen aus den Arm nicht breiten, 
Und doch auf ihren Buſen zart, beſcheiden, 
Das reinſte Licht der Sonne niederthaut; 


215 


Ihr Frauen all! Ihr, in des Liedes Kreiſe, 
Ihr Andern auch! die, ſelbſt ein zartes Lied, 
Ihr in der Dichtung zartem Schleyer leiſe 
Und zaͤhllos mir im Zug vorüberzieht, 
Ich will Euch jetzt, ich muß ein Wort Euch ſagen, 
Das lange ſchon im tiefen Herzen ſpricht; 
Und nun mit Augen, liebreich aufgeſchlagen, 
Auf Liedesſchwingen duftig fortgetragen, 
Ein neues Blatt in Eure Kränze flicht; 


Das ernſte Wort von aller Lehr' und Kunde, 

Die wir von Euch, von Euch allein empfahn, 
Von Eurem Herzen, Eurem ſüßen Munde, 

Den Huld und Liebe ſelbſt Euch aufgethan; 
Von Sitt' und Kunſt, wie Ihr ſie uns verkündet, 

Daß, wie in einer Schule heil'gen Kreis, 
Sich das Geſchlecht auch kindlich zu Euch findet, 
Und rohe Kraft in Eure Formen bindet, 

Die nimmer ſonſt von Zucht und Anmuth weiß; 


Die Schule, die der Weltgeiſt aufgeſchloſſen, 

Als er in's Meer der wilden Menſchenkraft 
Das Oel der Lieb' und Anmuth ausgegoſſen, 

Die Ordnung erſt im wilden Kreiſe ſchafft, 
Die Schule, wo der Arme zweifelnd Ringen, 

Der Seele Zittern und der Laut der Bruſt, 
Zum Wohlklang wird, zum herrlichen Gelingen, 
Weil nun des Lebens Werk, das wir vollbringen, 

Für uns auch wird ein Werk der ſüßen Luſt! 


216 


Ich nenn’ Euch nur den erften ſtillen Segen, 
Den Ihr, wenn ſich der zarte Sproß nun löſt, 
Der träumend hat am Herzen Euch gelegen, 
So ſanft in's junge Doppelleben flößt, 
Der Segen, der die Kraft im zarten Reiſe 
Allmählich ſchwellt, daß ſie in Schönheit blüht, 
Indeß ein zweytes höhres Leben leiſe 
Aufdämmert in der Blüthen ſtillem Kreiſe, 
Und aller Knoſpen heil'gen Kelch durchglüht. 


Denn es löſ't der zarte Sproß 
Ganz ſich nicht vom Mutterſtamme, 
Ganz nicht von der heil'gen Flamme, 
Die das Leben ihm erſchloß! 

Denn Natur hat tief geſonnen, 
Und den Faden dicht geſponnen, 
Der aus dunklem Erdenſeyn 

Tief in's Leben läuft hinein; 

Daß der Mutter Augen gerne 
Folgen ſo dem Faden ferne 

Bis zum goldnen Lebensſchein! 
Und es tragen Mutterhände 

Dann der Knoſpe zarten Duft 

Aus der Huth der ſtillen Wände 
Selber in die Gottes Luft! 

Theilen auch aus ihrem Leben 
Balſam mit dem jungen Reis, 

In des Kindes Adern weben 
Mutterkräfte, warm und Teils 


Wenn ſich dann zur Himmelsbläue 
Dann empor die Augen ſchlagen, 
Nach dem Leben ſchüchtern fragen, 
Das ſich ihnen beut, das neue, 
Kann ja Mutterlieb' und Treue 
Nur allein die Antwort ſagen; 
Kann dem neuen Menſchengeiſt, 
Der auch Liebe ſchon will finden, 
Liebe Niemand ſonſt verkünden, 
Wenn ſich in der Mutter Auge, 
Wenn in ihres Kuſſes Hauche 
Nicht der Liebe Lächeln weiſt, 
Kann in frommer Gluth Entfalten, 
Kann die neue Menſchenhand 
Niemand ja nach oben halten 

In der erſten Andacht Brand; 
Wenn mit Sprüchen und Gebeten 
Engel zu dem Kindlein treten; 
Niemand als der Mutter Sinn 
Weiſen nach den Engeln hin, 
Daß ſie bald die Kindlein kennen, 
Und die heil'gen Nahmen nennen, 
Die, im ew'gen Glanze ſchön, 
Wie fie nur das friſchentbrannt 
Fromme junge Herz erkannte, 

Wie ſie Kindesaugen ſehn, 
Nahe bey der Mutter ſtehn! 

Und es ziehen Mutterſorgen 

Nicht die warme Hand zurück, 


217 


Bis des Lebens voller Morgen, 
Und der Sonne großer Blick 


Alle Knoſpen hat geborgen; 


Wollen dann auch ganz nicht ſcheiden, 
Und der Zweige ſtärkern Trieb 
Leiſe hin nach oben leiten, 

Und nach Allem fort ſie breiten, 
Was da heilig, ſchön und lieb; 
Und wie in des Abends Reichen 
Von den ewig warmen Zweigen 
Nieder ſelber ſinkt die Frucht, 
Wenn nur leiſe Lüfte ſtreichen, 


Sonder Müh die goldne Wucht; 


Sinkt aus treuen Mutterhänden, 
Wenn ſie ſich zum Knaben wenden, 
Ohne daß er ſinnt und ſucht, 
Nieder ihm die fromme Zucht! — 
Bis hinein in's wilde Leben 

Seine Tritte feurig ſtreben, 

Sey das junge Haupt, die Hand 
Sey der Mutter zugewandt: 

Daß ſie ſeiner Seele Regen 

Wie es Gott nur dunkel ſchrieb, 


Möge aus — dem Knaben — legen, 


Kindlich, wie ſie ſelber blieb! 
Denn es mag den jungen Seelen, 
Blühend auf im Erdenlicht, 
Vaterarm und Sorge fehlen; 
Aber nur die Mutter nicht, 


219 

Denn das iſt ja im heilgen Formenkreiſe, 

Den Eures Daſeyns ſchöner Stern durcheilt, 
Die erſte Form, in der Ihr, fromm und leiſe, 

Schon an der Menſchheit erſten Wiege weilt, 
Die ew'ge Form, die reine makelloſe, 

Die überall das Menſchenherz verſteht, 
Und die Maria, fie, des Himmels Roſe, 
Auch angethan als auf der Mutter Schoofe 

Der Heiland ſich den ew'gen Stuhl erhöht! 


Doch, wie der Gott, den an des Ganges Palmen 
Der ew'ge Menſch auch dort mit Nahmen nennt, 
Wenn jetzt noch in der Urwelt alten Pfſalmen 
Im Oſten dort das weiche Herz erbrennt, 
Wie dort der Gott, wenn er durch's Weltall ſchreitet, 
Das überall voll ſeines Wandels iſt, 
Der Erde Mantel vielfach um ſich breitet, 
Und ſich in hundert Formen liebreich kleidet, 
Und hundertfältig ſeine Liebe mißt: 


So ſeyd auch Ihr, im Wandel auf der Erde 
Vielfach geſtaltig, ſegensreich zu ſchaun, 
Denn ſtatt der Mut ter freundlicher Geberde, 
Aus deren Augen Huld und Sorge thaun, 
Tritt eine Form, noch zarter ausgegoſſen, 
Nun wieder neu und herrlich in die Welt! 
Die Jungfrau iſt's, von ſüßer Luſt durchfloſſen, 
Die in der Hand, umhüllt von Myrthenſproſſen, 
Die erſte junge, ſchöne Rofe hält. 


320 


Und es find auf weiter Erde, 
Herrlich leuchtend ihre Tritte, 
Denn es wird die zarte Sitte 
Heimiſch nun an unſerm Herde, 
Und aus raſcher Kräfte Mitte 
Scheidet ſtill die heil'ge Gluth, 
Was nicht edel iſt und gut. 

Und das Starre, Trübe, Rohe, 
Muß in dieſes Brandes Lohe, 
Aller Fehler baar und rein, 

Bald ein Opfer ſelber ſeyn! 

Und wie ſchlummernd das Herz gelegen, 
Wie ein ſchuldlos frohes Kind, 
Wacht es auf bey ſtärkern Schlägen, 
Will ſich, wie mit Flügeln, regen, 
Flügeln, die von oben ſind; 

Und es muß zum zweyten Mahle 
Nun das Auge um ſich blicken, 
Und der Jugend goldne Schale 
Und das Leben voll Entzücken 

An die hellre Seele drücken. — 
Was in der ſtillen Nacht 

Heiliges Sternenlicht 

Leiſe hat angefacht; 

Was ſich im Traumgeſicht 
Tauchend auf und fortgezogen 


Auf der Schönheit Liebeswogen 


Um des Jünglings Schlaf gebogen; 
Was er im Morgenroth, 


Wenn er dem zugewandt das Auge, 
Doch nicht fand, und was im Hauche 
Keines Frühlings ihm ſich both; 
Was ihm nicht die Nachtigallen 

In der Dämmrung ſagen können, 
Wenn, bey ſeines Buſens Wallen 
Nahmen, die er nicht kann nennen, 
Doch in jeder Ader brennen; 

Ach! wer wird ihm da erklären, 
Ach! wer wird ihn da belehren, 
Daß des Lebens ſchönſte Zeit 

Leiſe ſchon an ſeine Zähren 

Seine reinſten Perlen reiht? 

Ach! wer wird ihn liebreich ſchlichten 
Seinen trüben, wilden Streit 
Zwiſchen allen Traumgeſichten, 
Lebensglück und Lebenspflichten! 

Wer in ſchöne Heiterkeit 

Wieder auf die Blume richten, 

Die ja nimmer ſo gedeiht! 


Da tritt ſie eln, des Lebens ſchönſte Hore, 

Noch halb verhüllt in ihres Schleyers Flore, 
Ins Leben ſelbſt, wie aus des Morgens Thore! 
Er blickt ſie an! o! ſchweigt ihr Nachtigallen! 
Sie ſieht's, ſie läßt den zarten Schleyer fallen, 
Zum erſten Mahl der Liebe Laut ihm ſchallen. 

Er wankt ihr zu — er ſinkt ihr fromm entgegen, 


222 


Hat Lieder nur, die noch ſein Herz bewegen, 
Und muß die Hand in ihre Hand wohl legen. 


Und es bricht ein neuer Strahl 

Tief aus ihres Lebens Tiefen, 

Es erwachen, die noch ſchliefen, 

Alle Geiſter allzumal! 

Daß ſie, wie ſie nie erſchienen, 

Lächelnd nun dem Menſchen dienen! 

Und ein Schauer — wie er ſchon 

Ausging über die junge Erde 

Als der Geiſt ſein heil'ges Werde 

Sprach in ſeiner Allmacht Ton — 

Und ein Schauer der Schöpfung rinnt 
- Wieder in des Menſchen Seele, 

Schöpfung, die noch immer ſinnt, 

Immer neue Fäden ſpinnt, 

In der Urkraft dunkler Höhle! 


Und da ſpringen goldne Funken 
Aus der Schöpfung herrlich auf, 
Junge Sterne, freudetrunken, 
Heben an den neuen Lauf; 

Und kein Leben geht verloren, 
Schließt es hier das Augenlied, 
Wird es wieder dort geboren, 
Wo es auch zum Himmel ſieht! 


223 


So iſt der Bund, der Eine, denn geſchloſſen! 

Des Lebens Fülle, an der Liebe Hand, 
Gebändigt nun zum freundlichen Genoſſen, 

Geheiligt nun der Kräfte wilder Grand; 
Aus Blumenranken, die ſich rings erheben — 

Das find die Stunden in der Liebe Schoos!— 
Da blüht empor ein neues ſchönes Leben, 
Wie oft aus Blumen heitre Engel ſchweben, 

Und windet ſanft ſich aus den Blumen los. 


Und wie die Liebe mit dem Gottesauge, 

Als fie zuerſt die junge Welt geſchaut, 
Auch ſelig war, und mit dem Segenshauche 

Der ſtillen Inbrunſt, mit der Freude Laut, 
Den neuen Stern an ihre Bruſt genommen, 

Daß bald ſich auf auch ihm das Auge that, 
Und wieder bald, als auch ſein Lenz gekommen, 
Und ſiegreich alle Kraft nun angeglommen, 

Er mächtiglich ſelbſt an die Reiſe trat; 


So ſteht der Vater bey des Kindes Träumen, 

Auch feiner Schöpfung ſelig, ernſt und Kill, 
Bis morgenröthlich ſich die Flügel ſäumen, 

Und Pſyche nun nicht länger träumen willz 
So ordnet auch der Vater allerwegen 

Mit Liebesſorge zärtlich an ſein Haus, 
Und breitet drinn, wie treue Hände pflegen, 
leich einem Teppich, feiner Arbeit Segen 

Zum weichen Lager ſeiner Lieben aus! 


224 


Und das iſt das dritte Zeichen, 
Und das iſt bas dritte Pfand, 
Das Ihr mit der Liebe Hand 
Wollt zu uns herüberreichen! 

Daß Ihr an die Fackel zündet, 
Daß Ihr in der dunkeln Welt 
Uns den ſchönen Kreis erhellt, 
Wo das Herz ſich ſelbſt erſt findet; 
Liebe, die, wie Wolken ſchweifen, 
Ohne Heimath treibt und zieht, 
Iſt ein bald verklungnes Lied! 
Aber, wie ein goldner Reifen, 
Der das Schöne feſt auch bindet, 
Das ſich ſonſt verſtreut nur findet, 
Iſt der ſchöne Menſchenlaut, 

Der für die geliebte Braut 

Eine Hütte zärtlich baut, 

Sie mit Blumen dann umwindet; 
Drinnen dann das Feuer zündet, 
Auf dem Herde ſtill und rein, 
Daß ſie ſelber ſeine Hände, 

Wie in heil'ge Tempelwände, 
Führen in die Hütte ein, 

Wo, von außen abgeſchnitten, 
Segen iſt und Gottesfrieden. 


Wenn ihm ſonſt, vom frühen Morgen 
Schweifend mit der Erdenſorgen 
Wüſtem Zuge auf und ab, 


225 


Keiner Rath und Kunde gab: 

Was da wolle wohl ſein Wollen, 

Was da ſolle wohl ſein Sollen, 

Daß, gleich aufgelösten Roſſen 

Hin nach aller Himmel Raum 

Ohne Richtung, Ziel und Zaum, 

Alle ſeine Kräfte ſchoſſen, 

Daß er ſelber wußte kaum, 

Wem zu Liebe, Nutz und Frommen 

Würde wohl ſein Leben kommen 

In dem unermeßnen Raum; 

Weil die Blumen und die Blüthen, 

Wie ſie noch ſo herrlich glühten, 

Weit die Düfte ſtreuten aus, 

Zarte Seelen, rein geboren, 

Aber in der Welt verloren, 

Weil ſie keine Hand zum Straus 

Sammeln wollte ſtill zu Haus, 

Und im Haufe treu behüthen. — 

O ſo hängen jetzt die Kränze 

Aus des Lebens vollem Lenze 

An der Pforte, friſch und ſchön, 

Laden, die vorübergehn, 

Freundlich in die offne Hütte 

An den Herd der ſtillen Sitte, 

Wollen immer düftig wehn, 

Ob auch Andre ferne ſtehn! 

Das Geheimniß iſt gefunden, 

Nur aus vieler Blumen Glanz, 
P 


Die das Herz in Eins gewunden, 
Nur aus vielen Lebensſtunden, 
Die die Liebe hat gebunden, 
Geht her vor der volle Kranz! 


Denn eine Welt der Huld und Liebe 

Wird feine Hütte felbft ihm nun; 
Wenn alles Andre draußen bliebe, 

Das Herz hat drinnen voll zu thun. 
Du haſt nicht Sonnenſchein und Regen, 

Und nicht den Thau in deiner Hand, 
Die Aernten alle groß zu pflegen 

Dort in dem weiten Gottesland; 
Doch was in deinem ſtillen Reiche 

Du ſelbſt in Liebe ſä'teſt aus, 
Daß es der Welt du draußen gleiche, 

Dem Gottesreich des Menſchen Haus: 
Das kannſt du immer wohl behüthen, 

Das muß in deiner Huth gedeihn; 
Du biſt der Frühling deiner Blüthen, 

Und deiner Blumen Sonnenſchein! 


Sie hat es nun in deine Hand 
Gelegt, des Lebens ſichres Pfand, 
Die holde Frau! und ſeinen Sinn 
Gedeutet, weit durch's Leben hin! 
Nun fühlt ſie auch, die feſte Hand, 
Warum ſie ſtark den Bogen ſpaͤnnt, 
Nun iſt das dunkle Menſchenherz 


227 


Erſt Eins auch mit dem Arm von Erz! — 
Die Ordnung mit dem Heil'genſchein 
Will nun in's offne Haus hinein, 

Der Ernſt in aller Arbeit groß, 

Der Fleiß mit ſeinem goldnen Loos, 
Der Zweck mit ſeinem rechten Maß, 
Und ſeinem hellen Stundenglas: 

Die Gäſte ziehn mit heitrem Sinn 

Und ſind bald Alle heimiſch drinn, 

Und Lieb' und Luſt und Heiterkeit, 

Die halten immer das Mahl bereit 

Und ſehn bis zu des Abends Ruh 

Der muntern Spindel lächelnd zu, 

Und bald mit bunten goldnen Schwingen 
Da zieht's wie Engel noch heran: 

Das iſt der Arbeit ſüßes Vollbringen! 
Das iſt das heitre frohe Gelingen! 
Das iſt das Werk! wenn's abgethan 
Von ſeines Meiſters Sorg' und Noth, 
In ſeinem eignen Morgenroth 

Nun auszieht auf des Lebens Bahn 
Und ſich noch Eins zum Meiſter wendet, 
Und für die Mühe, reich geſpendet, 
Ihm dankt mit frommer Augen Gluth, 
Und dann mit ſtillem Gottesmuth 

Nach allen Himmeln Pfeile ſendet! 


Der Fleiß, mit ſeinem muntern Stabe, 
Er zieht am Morgen friſch hinaus, 
P 2 


228 


und nimmer ohne Füll' und Habe 

Kehrt er des Abends in ſein Haus. 
Er ſtößt den Stab in dunkle Tiefen, 

Und Reben ranken fish hinan, 
Und Bäume blühn und Quellen triefen, 

Die Erde wird ihm unterthan! 
Er ſchlägt an dürre Felſenwände, 

Nichts hemmt den ungeheuern Lauf! 
Da reichen dunkle Geiſterhände 

Erzürnt den alten Schatz herauf. 
Was ſelbſt der Weltgeiſt weit geſchieden, 

Und nach den Himmeln hat getrennt, 
Daß überall die Welt hienieden 

Auch ſey der Schönheit Element’, 
Das ſammlet nun aus tauſend Klängen 

Der Menſch, aus tauſend Formen ein, 
Und Farben, die ſich oben drängen, 

Die werden ihm zum Himmelsſchein; 
Die Kunſt zieht aus den weiten Räumen 

Stets enger ſeines Kreiſes Luſt, 
Und bricht, verklärt zu Götterträumen, 

Gewaltſam aus des Menſchen Bruſt; 
Die Wiſſenſchaft mit ihrem Flügel 

Hebt auf fein Auge, Seel und Sinn, 
Und wie ein kleiner Blumenhügel 

Zieht unter ihm die Erde hin, 
Mit ihrem Umfang, ihren Zeiten, 

Ein kleiner Stern der Himmelswelt, 
Der aber fröhlich, und beſcheiden, f 


229 


Sich auch zu feinen Brüdern ſtellt. 
Doch ſoll die Kunſt mit ihrem Oele 

Sanft träufen in des Menſchen Herz, 
Die Wiſſenſchaft die ſtarke Seele 

Feſtgürten in des Kampfes Schmerz, 
Soll deiner Arme ſtarkes Ringen 

Die Krone herrlich auch empfahn, 
Und ſiegreich Stoff und Form bezwingen, 

Bis dir dein Werk iſt unterthan; 
Dann muß im Einklang auch dein Leben 

Bis in des Herzens tiefen Schrein, 
Mit allem, was dich hält umgeben, 

Mit Göttern und mit Menſchen ſeyn. 
Ein Saitenſpiel, das ſeine Töne 

Dem Säuſeln auch entgegen trägt, 
Wenn, Wellen gleich, das Ewigſchöne 

Allmächtig an die Saiten ſchlägt; 
Und beſſer kann das nicht geſchehen, 

Als wenn der Heimath ſtiller Herd 
Der S Seele Sturm zum Frühlingswehen 

Den Kampf zum Frieden Gottes kehrt; 
Als wenn der Liebe Zauberroſe 

Uns bannt in ihren heil'gen Ring, 
Den, als das Beſte ſeiner Looſe, 

Von oben her der Menſch empfing: 
Denn Ordnung, Maß und Ziel im Leben 

Und für die Arbeit auch ein Pfand, 
Daß wir in Liebe ſind und weben, 

Das gibt uns nur der Frauen Hand! 


230 


Sie knüpfen unſern frühen Morgen 

An unſern Stamm, an unſer Reis, 
Und läutern ſo die Erdeſorgen 

Zuerſt zum warmen Liebesfleiß. 


Noch iſt der Kreis des Lebens nicht vollendet, 
Den Euer Daſeyn heilig ernſt umſchließt; 

Ob Vieles auch ſich ſchon uns zugewendet, 

Das immer auf in neuen Knoſpen ſchießt; 

Das Loos und Heil der kommenden Geſchlechte 
Das Euch vertraut an Eurer Bruſt ſchon liegt, 

Die Liebe dann, der Mond der Erdennächte, 

Der Heimath Herd, um den das Wahre, Rechte, 
Gemeſſen ſich mit tauſend Armen ſchmiegt. 


Wenn aber Zwey fo herrlich Eins vollbringen, 

Aus Einem Mund ſo heilig ſchön im Chor 
Des Lebens Pſalter lieblich ſtets erklingen, 

Und kindlich treten an des Himmels Thor; 
Wenn Zwey ſich nun zur Liebe ſich erkohren, 

Von Allem rings bey'm großen Liebesmahl, 
Das eigne Herz im Andern ging verloren, 
Ein Seyn im Andern wieder iſt geboren, 

Ein Blüthenzweig, Ein warmer Gottesſtrahl; 


Und dann des Todes bleiche Nachtgeſichte 
Auch bey den Gatten ernſt vorübergehn, 
In ihrer Nacht, bey'm einſam trüben Lichte, 
Mit Händefalten nah dem Lager ſtehn; 


Dann leiſe winken und den Nahmen nennen, 
Dem ja kein andrer Erdennahme gleicht; 
Und wieder winken, um ihn abzutrennen, 
Und wir die dunkle Stunde nun erkennen, 
In welcher auch der Liebe Mund verbleicht: 


O! da ringt aus wilden Schmerzen 
Bey dem Schein der Grabeskerzen 
Sich ein neuer Engel los. 

Hebt auch er mit Händefalten 

Die verbleichenden Geſtalten, 

Hebt ſie ſanft in ſeinen Schoos! 
Weinet nicht! ſie ſind geborgen! 
Spricht er: für den andern Morgen! 
Schweiget dann und winket Leif’ 
Nach der Sterne blauen Kreis! — 
Ein Panier vom Gotteslamme 
Leuchtet wie einſt Moſis Flamme 
Herrlich durch die dunkle Nacht. 
Und das Lamm iſt Menſch geweſen, 
Hat in unſrer Bruſt geleſen, 

Hat mit Liebe, Huld und Macht 
Alles, Alles wohl bedacht; 
Hoffnung ſteht mit goldnen Schriften, 
Glaube drin, ein Palmenkranz 
Flattert in den Balſamlüften 

Aus der Fahne Siegesglanz. 

In der Noth der tiefen Wunden 
Hat das Lamm es auch empfunden, 


232 


Als es nach der Mutter nah 
Troſtreich noch vom Kreuze ſah! 
Was der Liebe Gottesſtunden 
Feſt auf Erden, feſt gebunden 
Mit des Bundes heil'gem Wort, 
Lebt durch alle Himmel fort, 
Und die hier ſich müſſen trennen, 
Werden dort ſich wieder kennen. 


Denn alle Liebe, die vom Himmel ſtammt, 
Thut an ſich erſt das dunkle Erdenkleid, 

Bis ihr, umwallt von Sieg und Herrlichkeit, 
Der Gottheit Siegel an der Stirne flammt; 
Das ewig iſt, wie der, aus deſſen Hand 
Der ew'ge Thau herab in's Leben träuft, 
Der uns erquickt im wilden Lebensbrand, 

Und Palmen kühl um unſ're Stirne häuft! 
Die Lieb' — ein Theil deß, der da iſt und war, 
Iſt Ewigkeit! — uns hier ſchon offenbar! 


Fr. Kuhn. 


Bilder aus der Natur. 


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N 


Mir ich im Buſen reich an Silbertönen, 

Dir ſollten ſie, mein Tannenbaum, erklingen? 

Denn Keiner weiß von allen Waldesſöhnen 

So ritterlich den Nordwind zu bezwingen; 

Sie müſſen ihm mit Laub die Stirne krönen, 

Du aber ſpotteſt ſeiner frechen Schwingen, 

Und prangſt, ein weithin leuchtend Bild der Tugend, 
Mit ew'gem Grün geſchmückt, in ew'ger Jugend! 


O könnteſt du die ſchwere Kunſt mich lehren, 
Wenn gift'gen Hauchs die Erdnachtſtürme blaſen, 
Vom jungen Haupt ſie muthig abzuwehren; 

Je mehr der Froſt den Herzſtrom will verglaſen, 
Je tüchtiger die innre Gluth zu nähren, 

Weil nur die Kraft die Kraft kann überraſenz 
Die ſchwerſte Kunſt, die je ein Menſch betrieben, 
Der fühlt' und ſtritt: zu leiden und zu lieben! 


234 


II. 


Heiter lächelnd tritt der Knabe 
Früh aus ſeinem luft'gen Zelt; 
Alles, ruft er, was ich habe, 


Will ich mit dir theilen, Welt! 


Und er ſchüttet Well' auf Welle 
Durch der kleinſten Spalte Raum, 
Und es rinnt die goldne Quelle, 
Herab wälzend ihren Schaum. 


Sieh, an ſeine Ferſen hängt ſich 
Eine Jungfrau, wunderzart; 
Ihrem Kuß entgegen drängt ſich 
Luſtig Leben aller Art, 

Und ſie ſtreckt die ſchönen Arme 


Zwiſchen Erd' und Himmel aus, 
Daß an ihrer Bruſt erwarme, 
Was ſich regt im weiten Haus. 


Seltſam Mährchen, das verkündet 
Von dem reitzgeſchmückten Paar, 


Wie entzündend und entzündet 


Eins des Andern Urſprung war; 
Denn es geht die alte Sage: 


Daß er hat gezeugt das Weib, 


Ob er gleich an ſelbem Tage 
Strahlend fprang ans ihrem Leib. 


235 
Und ſo leuchte, Lichtverbreiter, 
Geiſt, der immer weiter ſtrebt! 
Und ſo wärme, Wärmeleiter, 
Herz, das nur in Liebe lebt! 
Geiſt, laß dich durch's Herz entflammen! 
Herz, zieh du den Geiſt zu Rath! 
Nur, wenn ſie von Beyden ſtammen, 
Wirkt das Wort und wirkt die That! 


III. 
Dichter. 


Willſt, Nachtviole, nicht die Aeuglein ſchließen? 
Schon hält die Schweſtern dein der Schlaf gefangen 
Trägſt du nicht auch nach Ruh' ein ſüß Verlangen? 
Mußt noch ſo ſpät dein tiefſtes Seyn ergießen? 


Blume. 


Wenn Sonnenſtrahlen wild herniederſchießen, 

Faßt mich ein Bruſt zuſammenſchnürend Bangen; 
Doch kommen Abendſchatten ſtill gegangen, 

Beginn' ich erſt recht freudiglich zu ſprießen. 

Warum mir bange vor des Tages Flammen? 

Am Weſen ſelbſt ungern den Schein vermiſſend, 

Will er, ſelbſt Schein, was prunkt und gleißt, nur loben. 
Ich bin ein einfach Kind; von Prunk nichts wiſſend, 
Duft' ich, weil Duft mit meinem Ich verwoben. 


Dichter. 
Wohlauf, lieb Herz! da paſſen wir zuſammen! 


236 
IV. 
Liebe Wellen! Liebe Wellen! 
Was iſt euer Aug' ſo trübe! 


„Kommt der Lenz, die Bruſt voll Liebe, 
Wird es liebend ſich erhellen !« 


Nachtigallen! Nachtigallen! 

Ach, wo ſind die ſüßen Lieder? 
„Kommt der luſt'ge Frühling wieder, 
Werden fie auf's neu’ erſchallen !« 


Und du wollteſt, Menſch, verzagen, 
Weil vielleicht das Glück dir flohe? 
Well' und Vogel künden's frohe: 
Winter bringt den Lenz getragen! 


V. 
Zu Nacht, wie einen heiß ſich Fluth und Gluth, 
Und doch wird nie ein Ton der Liebe laut; 


Am Tag, wie fern vom Bräutigam die Braut, 
Und doch ſpricht Fluth von Strahl und Strahl von Fluth. 


Bin ich bey ihr, ſo bin ich nicht bey ihr, 

Sie iſt mir nah und doch iſt ſie mir fern, 

Ich ſag' ihr nichts und ſagt' ihr's doch ſo gern! 
Bin ich bey ihr, fo bin ich nicht bey ihr. 


2357 


Ich bin bey ihr, bin ich auch nicht bey ihr; 
Sie iſt mir fern, und doch iſt ſie mir nah, 
Ich ſag' ihr viel, und doch iſt ſie nicht da! 
Ich bin bey ihr, bin ich auch nicht bey ihr. 


Ludwig Jeitteles. 


Die die Elemente 


Richard an Fanny. 


Da ſprichſt zu mir, o Göttin meiner Lieder! 
Du fragſt mich lächelnd: welches Element 
Mein Urtheil als das Erſte anerkennt? 

O weh mir! planlos flattern auf und nieder 
Im Lichtglanz deiner Anmuth die Gedanken! 
So lang' ich dich erblicke, muß ich ſchwanken! 


Die Luft? Da mußt du wohl den Himmel meinen, 
Der wolkenlos aus deinen Augen lacht? 
Ihm hatt' ich ſchnell die Krone zugedacht, 

Da redeſt du, und plötzlich will mir's ſcheinen, 
Indeß die Worte mir im Innern glühen, 
Als ſey der Luft das Feuer vorzuziehen! 


239 


O deiner Locken weiche zarte Wellen! 
Wie hell ihr Gold die reine Stirn' umkränzt! 
Ob nicht das Element am ſchönſten glänzt, 
Das ſanft, wie ſie, und leuchtend weiß zu ſchwellen? 
Und doch — ich fühl's, daß ich mir klar nicht werde. — 
Faſt ſcheint es auch gebührt der Preis der Erde! 


Sie läßt mir ja die Blumen nicht verſchwinden, 
Mit denen ſich dein holdes Antlitz ſchmückt, 
Und hab' im Himmel ich dein Aug' erblickt, 

Kann ich's ja auch im Veilchen wieder finden! — 
Du ſiehſt, daß ich in Zweifel mich verſenke, 
So lang’ ich dich und deine Schönheit denke! 


Wohlan, ſchon ſteh' ich von dir abgewendet. 
Nun, Herz! ſprich: ob die Erde dir gefällt? 
O nein, ich bin auf ihr ſo fern geſtellt, 
Won ihr, die einzig Glück und Luft mir ſpendet. 
Sie iſt ein Stern, in Aetherräumen ſchwebend, 
Ich nur ein Vöglein, ſchüchtern ſich erhebend. 


Das Feuer auch; ich bin ihm gram geworden! 
Du nennſt die Liebe ſo, die mich bedrängt, 
Doch Feuer tödtet ja, was es umfängt, 
Und ich? — Du konnteſt meine Ruh wohl morden, — 
Ich möchte lieber tauſend Qualen dulden, 
Als Einen Seufzer nur von dir verſchulden! 


240 


Auch lieb' ih nicht des Waſſers glatte Bahnen, 
Es iſt ſo falſch, als ich bin treu geſinnt, 
Und wie es flüchtig glänzt, und ſchnell verrinnt, 
Muß es an deine flücht'ge Gunſt mich mahnen, 
Die minder, als die Welle, noch verweilet, 
Und wenn das Herz fie faſſen will, enteilet. 


Wie aber? könnt' ich dich nicht preiſend lohnen, 
Du Luft, gleich mir, von manchem Sturm bewegt, 
Doch die den ſchönen Himmel in ſich trägt, 
In dem die Sänger friedlich dürfen wohnen? 
Gewiß, bedenk' ich, was die Andern gaben, 
Muß ich den Himmel wohl am liebſten haben! 


Auch darf ich ja ihn deine Heimath nennen, 
Er iſt's, der all mein Hoffen in ſich ſchließt; 
Wenn dort dich einſt der Engel Schar begrüßt, 
Dann weiß ich doch gewiß, wirſt du erkennen, 
Wer dich am meiſten hat geliebt hienieden! — 
So ſprich: biſt du mit meiner Wahl zufrieden? 


Klotilde. 


241 


Der Geiſt des Gewäſſers. 


Werde! ſprach der höchſte Meiſter, 
Und aus ſchwüler Kerkernacht 
Stiegen rothe Feuergeiſter, 
Die zerſchlugen meine Macht. 


Angefeſſelt in den Lüften, 
Leid’ ich des Verbannten Qual, 
Und es ſtrömen aus den Klüften 
Meine Thränen ohne Zahl. 


Zwey verderblich kühne Flüſſe 

In des Berges tiefſtem Schlund, 
Unterwühlen meine Füſſe, 

Rings der alten Felſen Grund. 


Nebelrauch ſind meine Glieder, 
Und es ſchäumet das Kryſtall 
Meines greiſen Vartes nieder, 
Als ein ſtolzer Waſſerfall; 
Q 


242 


Schlinget um entfernte Länder 
Seiner Locken helle Schar, 

Wald und Wieſe, grüne Bänder, 
Knüpfen ihm das reiche Haar. 


Meer und Strom roll' ich in Ballen, 
Zu erſäufen die Natur; 

Aber die Verräther fallen 
Leicht als Regen auf die Flur. 


So verrauſchen Wuth und Klage 
In den Winden ungehört, 

Bis der Herr am letzten Tage 
Rächend feine Welt zerſtört: 


Bis die Fluth in wilden Bächen 
Ueber die Vernichtung rinnt, 
Meine Sclavenketten brechen, 
Und mein altes Reich beginnt. 


Baron Schlechta. 


243 


Adern n 


— —— 


Sieh! ſtill und ernſt auf ſeinem hohen Sitze, 
Ruht dort der Adler auf des Felſens Spitze, 
Und ſchauet unverwandt zur Sonne hin; 

Sein Auge glänzt in ihrem Feuerſtrahle, 
Und blicket nicht herab zum niedren Thale, 
Wo tauſend Blumen lieblich duftend blühn. 


Doch wie er immer ſchaue voll Verlangen, 
Zum ſchönen Ziele kann er nicht gelangen, 
Sie glühet ſtets ihn aus der Ferne an; 
Und dennoch will ſein Blick von ihr nicht laſſen, 
Denn er allein kann ihre Pracht erfaſſen, 
Sein Flug berührt am nächſten ihre Bahn. 


Die Schlange ziſcht, es kriecht der Wurm im Staube, 
Die Vögel flattern in der dunklen Laube, 
Der Biene Fleiß iſt Luſt ihr, und Gewinn: 
Den Adler locken nicht der Erde Freuden : 
Es kann an Niedrem fich fein Herz nicht weiden, 
Er ſchwebt empor mit königlichem Sinn. 
22 


24 


Sein Flügelſchlag zerknickt die Alpenroſe, 
Entſproſſen kaum dem harten Felſenſchooſe, 
Streift von dem Neis die zarten Blüthen ab, 
Er ſchwinget kühn ſich bey des Sturmes Wehen 
Mit freud'gem Stolze zu des Himmels Höhen, 
Fährt drohend gleich der Blitz auf ihn herab. 


So wenn ſich ſtarke Seelen hingegeben, 
Steh' eine Welt entgegen ihrem Streben, 
Sie halten feſt, was frey das Herz erwählt. 
Und wird die Treu' hienieden nicht belohnet, 
So krönt ſie dort, wo die Vergeltung thronet, 
Die Myrthe, die nicht grünt auf die ſer Welt. 


Caroline Freyin v. Vogel ſang. 


245 


Der Luft ſchiffe r. 


Die Sag' erzählet von einem Mann, 
Der dacht' allimmer himmelan, 
Und meinte nur droben im blauen Raum, 
Gelagert auf flimmerndem Sonnenflaum, 
Von Wolkenroſen das Haupt umſpielt, 
Von Adlerfittigen kräftig gekühlt, 
Hoch oben dort unter den Lüften allein, 
Könn' einer frey und fröhlich ſeyn. 


Drum wob er ſich Schwingen mit Dädals Kunſt, 
Hochauf zu fliegen aus irdiſchem Dunſt, 
Auf daß er, eh ſeine Zeit vorbey, 
Doch einmahl frey und fröhlich ſey. 
Und mehr, als Kunſt und als Schwingen gar, 
Schuf ihn ſein gewaltiges Sehnen zum Aar! 
Er hob ſich, — er flieg mit beflügelter Sohl'! 
Empor ohn' alles Lebewohl, 
Und ruderte durch mit ſtarker Bruſt, 
Sog Aetherfreyheit, Aetherluſt! 


246 


Und wie er nun hoch in den Lüften ſtand, 
Da ſah er hinauf, und hinunter auf's Land, 
Hinauf und hinunter mit einem Zug, 
Und wiegte ſich, hemmend den ſchwindelnden Flug. 
Ha! rings in der Höhe, ſo blau ſo weit, — 
Und rings in der Tiefe, lang und breit, 
Ein Spiegel, ein Leben, ein buntes Gewirr! 
Sein Auge wird bey dem Anblick' irr. 
Hoch oben einſam, — öd', und leer: 
Ein weites, todtes blaues Meer; 
Der Kuß der Lüfte, der einzige Kuß, 
Der Gruß der Adler, der einzige Gruß. 
Tief unten ein fernes unkenntliches Drehn, 
Der Geiſt der Freude ſcheint drüber zu wehn; 
Und Grüßen und Küſſen im endloſen Raum: 
Fluß küſſet den Fluß, und Baum den Baum, 
und Thäler die Felſen, und Felſen die Luft, 
Und Lüfte die Blumen, und Blumen den Duft; 
Und Vögel, zur Sonne zu ſchwingen ſich, ſtark, 
Umkreiſen die Raine der Erdenmark: 
Und Städte von ewigen Thürmen bekrönt, 
Und Thürme mit funkelnden Kreuzen verſchönt, 
Und fernes Geläut, und ferner Chor 
Umwallt in verſchwimmenden Tönen ſein Ohr. 


Da faßt es mit tauſend Ketten ſein Herz, 
Und ziehet und dränget es erdenwärts: 
Hoch oben nun däucht es ihm öd' und leer, 
Und unten ein ewiges Freudenmeer. 


247 


Er ſenket die Flügel, er ſchwingt fich herab, 
Herab aus dem blauen unendlichen Grab, 
Herab, wie ein Engel zur Erde ſich ſchwingt, 
Und Glück dem genießenden Menſchen bringt, 
Und ſelbſt ſich verklärt in der Glücklichen Glück. 


Die Bäume des Thales begrüßet ſein Blick; — 
Und wie er nun wieder zur Erde kam, 
Stand, — ſchaut' er, und freut' er ſich wunderſam, 
Und warf ſich zu Voden mit ſchweigender Luſt, 
Und drückte das grüne Getrieb an die Bruſt, 
Und ſchöpfte vom Bergquell, und pflückte vom Baum, 
Und wandelt' und ſchritt durch den grünenden Raum, 
Und ſchien es zu faſſen: »Auf Erden allein 
Könn' einer auch frey und fröhlich ſeyn!« — 


Johann Gabr. Seidl. 


248 


An meines Töchterchens erſtem Geburtstage. 
1818. 


Süßes Pflänzlein, lieb und zart, 
Zweyen recht zur Luſt gegeben, 
Wer doch hat ſo treu bewahrt 
Uns dein kleines, ſchwaches Leben, 


Daß kein böſer Sturm dich fand, 
Daß kein rauher Fuß dich knickte, 
Daß dich keine kalte Hand 
Vor der Zeit vom Boden pflückte? 


Der den Zweyen wies die Bahn 
Zu dem rechten Zaubergarten, 
Hat auch dieß an dir gethan, 
Wollte treulich deiner warten; 


Sandte feine Englein aus, 
Daß ſie an ihr Herz dich legten, 
Und dein ſchwankes Kinderhaus, 
Treue Wächter, rings umhegten; 


249 


Hat die Gärtner dir beſtellt, 
Daß ſie liebend bey dir weilen, 
Und, dir freundlich zugeſellt, 
Luſt und Schmerz und Arbeit theilen; 


Hat mit ſeiner Vaterhand 
Dich geſtützt in Sturmeswehen, 
Einen Himmel ausgeſpannt, 
Dran kein Wölkchen war zu fehen, 


Und der Himmel, blau und licht, 
Sandt' dir Strahlen, einzuſaugen; 
Warmer Regen fehlte nicht, 
Wonnerguß aus frommen Augen. 


Und ſo biſt du froh gediehn, 
Herzensluſt und Augenweide, 
Duftig, wie die Röslein blühn, 
Deiner Gärtner ſchönſte Freude! — 


O ſo blühe fort und fort, 
Sonder Schuld und ſonder Wehen! 
Schuldlos hier, ein Engel dort — 
Kann dir Schöneres geſchehen? 


Karl Förſter. 


Char its Ruine n. 


(Im Auguſt 1806.) 


Nur wer die Trennung kennt, verſteht das Sehnen; 
An der Geliebten ewig feſt zu hangen 

Und Lebensmuth aus ihrem Aug' zu trinken! 
Er kennt das ſchmerzlich ſelige Verlangen, 
Dahin zu ſchmelzen in ein Meer von Thränen, 
Und aufgelöſ't in Liebe zu verſinken! — 

Wie mir die Bilder winken, 

Die alten! — Ach, fie nahen um zu fliehen! 
Was hilft das Thal mit ſeinen grünen Gluthen, 
Die Strahlen, welche golden niederfluthen; 

Ich ſeh' nur Geiſter mich zum Abgrund ziehen! 
Wozu ſoll ich die goldnen Blüthen pflücken, 
Darf ich doch nie mehr das Geliebte ſchmücken! 


F. L. 3. Werner. 


251 


Ein ſchottiſches Reiſeabentheuer. 


De Sturm, der ſchon ſeit einiger Zeit gedroht hatte, 
brach nun völlig aus, als wir den Berg herabſtiegen. Dicke 
Wolken lagerten ſich um den Gipfel des Helvellyn, und feuri— 
ge Blitze ſchoſſen unaufhörlich aus ihrem dunkeln Schooße. Der 
Donner rollte laut, und die Bergwäſſer, durch den Regen zu 
Strömen anſchwellend, tobten vorüber, ſchwere Felsſtücke 
mit ſich fortwälzend. Nie noch zuvor war uns die Natur fo ers 
haben erſchienen. Wir fühlten uns gleich Weſen, deren Ge— 
burtsland der Sturm, und würden länger uns dieſem Entzü— 
cken hingegeben haben, wenn unſre Seelen bereits den Ban? 
den des Körpers entnommen geweſen wären, und ſich hätten 
einmiſchen können in den Wettkampf der Elemente. 

Solche Ueberſpannungen können aber ihrer Natur nach 
nicht von langer Dauer ſeyn, und ſo wichen ſie auch hier 
bald anderen Bedürfniſſen. Unſere Morgenreiſe hatte uns ermü⸗ 
det, das Wirthshaus, in welchem wir Nachtlager zu machen 
gedachten, war mehrere Meilen noch entfernt, es ſchien, als 
ob der Sturm fobald noch nicht aufhören wolle, und unſre 


252 N 


Lage machte es nöthig, uns nach einem nähern Schutzorte um⸗ 
zuſehn. Glücklicher Weiſe erblickten wir am Fuße des Berges ein 
Haus, das ſeinem Umfange wie ſeinem Anſehn nach, von wohl— 
habenden Leuten bewohnt zu ſeyn ſchien. Dahin flüchteten wir, 
und wurden auf der Flur von einem bejahrten Manne empfan⸗ 
gen, der uns freundlich in's Zimmer treten hieß. Als wir 
uns darin unſrer von Näſſe triefenden Kleidungsſtücke entle— 
digt, und einige andere, die unſer Wirth aus eigenem Vor— 
rathe uns gütig darlieh, angezogen hatten, führte er uns in 
ein anderes Gemach, wo man in der Eile etwas zur Stillung 
unſers Hungers aufgetragen hatte. Eine junge Dame befand 
ſich hier, welche unſer Wirth uns als feine Tochter Miß For⸗ 
reſter vorſtellte. 

Nie werde ich das Aeußre dieses Mädchens vergeſſen! Ich 
habe zierlichere Geſtalten und weit ſchönere Züge geſehn; aber 
jede Tugend der Milde und Anmuth wohnte in den Grübchen 
ihrer Wangen, und ſtahl ſich durch die dunkeln Augenwim⸗ 
per, welche ihre blauen Augen beſchatteten. Sie erweckte 
nicht Bewunderung, aber ein ſanfteres, dauernderes Gefühl. 
Man hätte können Jahrelang in ihrer Geſellſchaft leben, und 
doch kein ausſchließendes Gefühl der Liebe für ſie haben; aber 
der erſte Blick auf fie, gab die Ueberzeugung, daß fie der Heiz 
ßeſten Freundſchaft werth ſey, und daß ein Herz, das ihren 
Tugenden vertraute, nicht getäuſcht werden könne. Solch ein 
Weſen, ſo hätte man glauben ſollen, mußte glücklich ſeyn; 
aber Leiden ſcheinen nun einmal nothwendig, um uns für hö— 
here Segnungen vorzubereiten, und ſo war denn auch ſie die 
Beute des Kummers. Schon bey Tiſch entdeckte ich, ohnerach⸗ 
tet der natürlichen Artigkeit, mit welcher fie ſich benahm, den⸗ 


253 


noch ein gewiſſes zerſtreutes Weſen an ihr, welches mir vers 
rieth, daß nicht voller Friede in ihrer Seele heimiſch ſey. Als 
fie uns nachher verlaſſen, und die fröhliche Wärme der Punſch— 
Bowle Gaſtfreundlichkeit in Vertrauen umgeſchmolzen hatte, 
ſprach ich mit dem trefflichen Alten von den ſichtbaren Vorzü— 
gen ſeiner Tochter. Der muß ein ungeſchickter Virtuos ſeyn, 
wer bey'm Berühren einer ſolchen Saite in dem Herzen eines 
Vaters ihr keinen Ton abgewinnen kann. Auch meinte ich es 
ernſtlich und wahr, und ſo ging 1 Wirth gern in mein 
Gefühl ein. 

Auch F., der mein einziger Begleiter bey dieſem Ausfluge 
war, beſitzt vor allen Menſchen, welche ich kenne, die Gabe, 
Zurückhaltung aus den Geſellſchaften, worin er ſich befindet, zu 
verſcheuchen. Der Ton ſeiner Stimme iſt ſo herzlich, ſein Auge 
blickt ſo offen, in ſeinem Benehmen liegt ſo ganz und gar nichts, 
was den Stolz beleidigen, oder die Schüchternheit abſchrecken 
könnte, daß er der Begünſtigte jebes Alters und beyder Ge—⸗ 
ſchlechter iſt, während der Fremde, der ihn zum erſten Mahle 
ſieht, eine frühere Bekanntſchaft in ihm zu finden glaubt. 
Kaum würde das Mäbchen ſelbſt es ihm verweigert haben, 
ihr Herz vor ihm zu öffnen; um ſo leichter bewilligte alfo une 
ſer würdiger Gaſtfreund die ehrfurchtsvollen Bitten, uns nicht 
länger fremd in den innerſten Beziehungen ſeines Hauſes ſeyn 
zu laſſen. 

»Das Alter ‚« fing unſer braver Wirth an, wird immer 
für geſchwätzig gehalten; Sie würden mir gewiß auch verzei⸗ 
hen, wenn ich es wäre, indem ich die tauſend Vorzüge mei— 
ner lieben Tochter Ellen Ihnen ſchilderte. Mein ganzes Les 
bensglück beruht nur auf ihr. Sie iſt die einzige mir Uebrig⸗ 


254 


gebliebene von allen meinen Kindern, die Stellvertreterin ih— 
rer heißgeliebten, langbeweinten Mutter. So iſt fie mir Toch- 
ter und Gefährtin zugleich, und ergötze ich mich an dem Anblick 
ihrer milden Schönheit, womit ſie der Himmel geſegnet hat, 
ſo erfreue ich mich dann wieder noch weit mehr an ihren häus— 
lichen Tugenden.« 

„In frühern Jahren, als Ellen noch Kind war, lebte ich 
auf einer Pachtung in einer von hier weit entfernten Gegend 
Ein Mr. Adamſon war mein nächſter Nachbar, und treuer 
Freund. So wie ich, war auch er Witwer, und gleich mir der 
Vater eines einzigen Kindes, eines Knaben, der einige Jahre 
mehr als Ellen zählte. So wuchſen die Kinder mit einander 
als Spielkameraden und ſtete Gefährten auf. Oft unterdrück— 
ten Adamſon und ich den Seufzer der Rückerinnerung an 
entflohenes Glück, bey dem Gedanken der Wonne, die wir 
fühlen würden, wenn dieſer Verein unſerer Kinder ihr gan- 
zes Leben hindurch fie aneinander feſſeln könnte. « 

„Karl Adamſon war ein kräftiger unternehmender Burſche, 
und nie ſprühten ſeine dunklen Augen von ſo lebhaftem Feuer, 
als wenn er an Winterabenden den Schreckenserzählungen des 
alten Dieners zuhörte, und ſich Ellen, von Schauder über— 
mannt, enger an ſeine Seite drängte, um gleichſam Schutz 
bey ihm zu ſuchen. In ſolchen Augenblicken wich ſeine Furcht 
einem mächtigern Eindrücke, und die zuſammengezogenen Aus 
genbraunen, wie die geballte Fauſt, zeigten an, wie bereit er 
fen, feine Geſpielin gegen alle ſichtbaren und unſichtbaren Seins 
de zu vertheidigen. Um ihr Vergnügen zu verſchaffen, entfaltete 
er einen für einen Knaben merkwürdigen Muth und reiche Er— 
findungsgabe. Er flocht Binſenkronen, um damit die Schläfe 


b 255 


feiner kleinen Königin zu ſchmücken; kleine Mühlen klapperten 
an der Seite des Fluſſes Eden, der durch unſere Pachtung 
ſich ergoß, und auf ihm ſelbſt ſchwammen nette Schiffchen; ja, 
die ſteilſten Klippen bothen dem gelben Veilchen keinen Schutz, 
daß er es nicht gepflückt, und in einen Blumenſtrauß für El: 
len gewunden hätte.« 

»Es gewährt ein unbeſchreiblich ſüßes Gefühl, Zeuge zu 
ſeyn von den Ergüſſen kindlicher Zuneigung. Das Anſteckende 
des böſen Beyſpiels hat da die Reinheit der Empfindung noch 
nicht befleckt; jeder einfache innere Trieb wird durch eine ihm 
angemeſſene Handlung ausgedrückt, und altkluge Weisheit be— 
ſtimmt die Ausdrücke nicht, wodurch Dankbarkeit ſich zu erfens 
nen gibt. Wie ſchrecklich hätte aber bald ein Zufall dieſe rei⸗ 
gende Scene umgewandelt! « 

»Auf eine ſtürmiſche Frühlingsnacht war ein ſchöner Mor— 
gen gefolgt, unſer zeitig genoſſenes Frühſtück vorüber, und ich 
ging aufs Feld. Ellen, damahls zehn Jahre alt, hüpfte an 
meiner Seite. Karl begegnete und begleitete uns dann. Uns 
ſer Weg ging nahe am Fluſſe fort, der, durch den Regen der 
vorigen Nacht angeſchwellt, mit ungewöhnlicher Heftigkeit da— 
her rauſchte. Ich blieb bey einer Verzäunung ſtehen, um nach 
einer Schafheerde zu ſehen, während die Kinder ſich damit 
vergnügten, wilde Roſen und Mayblumen zu pflücken. Plötz⸗ 
lich drang das herzbrechendſte Geſchrey an mein Ohr. Ich eilte 
zurück, und wer beſchreibt meinen Schrecken, als ich Ellen im 
Fluſſe erblickte, von den tobenden Wellen fortgeriſſen. Sie zu 
retten ſchien unmöglich. Ich konnte nicht ſchwimmen, und hät— 
te ich's auch gekonnt, ſo war der Strom doch ſo reißend, daß 
ſelbſt die ſtärkſte Menſchenkraft nicht im Stande geweſen wäre, 


256 
ihn zu beſiegen. Nicht weit von dem Orte, wo Ellen in den 
Fluß gefallen war, ſtürzte ſich das Waſſer mehr als dreyßig 
Fuß hoch über einen Felſen herab. Dahin riß fie der Strom 
mit Blitzes Schnelle. Wäre ſie gerettet, und ich die Beute der 
wilden Wogen geweſen, meine Empfindungen wären Himmels— 
wonne geweſen gegen das, was ich jetzt empfand, als ich ſo auf 
das heißgeliebte Kind hülflos hinſtarrte. Mein Kopf brannte, 
mein Herz ſtand ſtill. Ich bemerkte nicht eher, daß mich Karl 
verlaſſen hatte, bis ich ihn ſchnell zu dem Abgrund hinellen ſah. 
Er hatte ſich erinnert, daß dort eine alte Eiche ihre Zweige 
weit über den Strom hinbreite. Dieſer Baum, der an dem 
äußerſten Rande des Ufers ſtand, war jetzt mit Waſſer um⸗ 
floſſen; aber die kleine Geſchicklichkeit, welche Karl ſich im 
Schwimmen erworben hatte, machte es ihm möglich ihn zu 
erreichen, und ſich darauf zu ſchwingen, feſt entſchloſſen ſeine 
Geſpielin zu retten, oder ſelbſt unterzugehen. Etwas, das der 
Hoffnung ähnlich war, belebte wieder mein Herz, als ich 
Karls Entſchluß gewahrte. Ach! ich konnte ihn bloß mit meinem 
Sautlofen Gebethe unterſtützen. So ſtand ich, athemlos auf das 
hinſtarrend, was jetzt ein todter, auf den Fluthen ſchwimmen⸗ 
der Körper ſchien. Brachten auch die Wellen mein Kind da⸗ 
hin, wo der kühne Knabe ſie erreichen konnte? Und geſchah es, 
vermochte ſeine ſchwache Kraft dennoch ſie zu retten? Der Zweig, 
auf dem er hing, war ſo dünn; er konnte brechen, und Beyde 
ſtürzten dann in den bodenloſen Abgrund, der da unten ſchauer⸗ 
voll heraufgähnte! « 

„Gott des Himmels! Sie naht ſich dem Be Sie ift 
zu weit entfernt, als daß Karl fie erreichen könnte: Sie iſt 
verloren, verloren für immer! — Nein! Er hat ihr Gewand 


‘ 257 


mit der einen Sand erfaßt, während die andere fih um 
die rettende Eiche klammert. Eine faſt wunderbare Anſtren⸗ 
gung ſeiner Kräfte hat Ellen bis zu ihm hingezogen, und 
Beyde lehnen nun, immer noch gefahrvoll, doch bey weitem 
ſicherer als vorher, an dem Baume. Man bringt Seile herbey, 
ſie werden Karln zugeworfen; er befeſtigt ſie um Ellen's Leib. 
Meine Arbeiter eilen herzu, und erſt ſie, dann er, ſo wurden 
ſie mit Beyſtand derſelben glücklich an's Ufer gerettet. Worte 
könnten es nicht ausdrücken, mit welchen Gefühlen ich mein 
neugeſchenktes Kind und ihren wackern Retter an mein Herz 
drückte; aber Ihre naſſen Augen ſagen mir, daß ich auch kei⸗ 
ner bedarf. Von dieſem Augenblicke an betrachtete ich Karl 
und Ellen Beyde als meine Kinder, und liebte Beyde nun hei— 
ßer, als das Eine zuvor. « 

„Nicht lange nachher ſtarb mein Freund Adamſon, und 
ließ mich als Vormund ſeines Sohnes zurück. Einige Jahre 
vergingen nun, in denen mir dieſes Geſchäft nur Vergnügen 
gewährte. Karl, der ganz einheimiſch bey mir geworden war, 
wuchs zum vielverſprechenden Jünglinge auf. Er ſah in mir 
ſeinen zweyten Vater, und kam allen meinen Wünſchen lie⸗ 
bend zuvor. Seine Leidenſchaft für Ellen ward glühend und 
feſt; aber ſtets vom reinſten Sinne für Zartheit beherrſcht. 
Sie kam ihm mit gleichen Gefühlen entgegen. Liebe konnte 
keine Familie mehr beglücken, als uns Drey.« 

„Das Vermögen, das Karln anheim gefallen, war beträcht— 
lich, und ſo beſchloß ich denn, um ſeine Erziehung ganz zu 
vollenden, ihn guf ein oder zwey Jahre nach Edinburg zu 
ſenden. « 

„Während der erſten zwölf Monathe, die er dort zubrachte, 

R 


258 


führten wir Beyde einen regelmäßigen Briefwechſel, und ich 
war ungemein über die Fortſchritte erfreut, die jeder ſeiner 
Briefe deutlich an den Tag legte. Nach und nach hörte jedoch 
dieſe Pünctlichkeit feiner Seits auf, und ſtatt der innigen Herz 
zensergießungen, von denen ſonſt ſeine Briefe überſtrömten, 
trugen die, welche er mir nun ſchrieb, das Gepräge der Zu— 
rückhaltung, und ſeine Nachfragen nach Ellen glichen mehr 
den Erkundigungen nach einer gewöhnlichen Bekannten, als 
nach einem Weſen, das durch die innigſten Gefühle ſchon ſo 
lange mit ihm verbunden geweſen war. 

„Zwar bekümmerte mich dieſe anſcheinende Veränderung 
in den Empfindungen meines Mündels ſehr; aber ich war zu 
ſtolz, um ihn deßhalb ſchriftlich zur Rede zu ſtellen. Allerdings 
hatte fein Vater, fo wie ich, dieſe Verbindung zwiſchen un⸗ 
fern Kindern gewünſcht, und die jugendlichen Neigungen ders 
ſelben ſchienen ganz damit übereinzuſtimmen; ich überlegte mir 
aber nun, daß ihre Zuneigung doch eigentlich bloß die Folge 
vorwaltender Verhältniſſe geweſen ſey, daß Karl in Edinburg 
Mädchen kennen gelernt haben könne, deren höhere Bildung 
Ellen's Andenken, und ihre häuslichen ſtillen Vorzüge aus ſei- 
ner Seele verſcheucht hätten, und daß jede ſtrenge Bemer⸗ 
kung, die ich über ſeine gegenwärtige Gleichgültigkeit machte, 
eicht in unzarten Streit mit ſeinen jetzigen Wünſchen und 
Abſichten treten könnte. Waren übrigens Karls Gefühle für 
Ellen ſo flüchtiger Art, daß eine Abweſenheit von wenigen 
Monathen ihn feiner frühſten und zärtlichſten Freundin ent- 
fremden konnte, ſo mußte ſelbſt die Rückſicht auf das Glück 
meiner Tochter es mir angenehm machen, daß eine ſolche leich—⸗ 
te Umwandlung des Chargeters ſich ſchon jetzt, und nicht erſt 


259 


dann gezeigt hatte, wenn ihre Schickſale bereits unauflöslich 
an einander gefeſſelt waren. Ich fuhr daher fort, ihm wie 
bisher zu ſchreiben, ſo daß er nicht die geringſte Aenderung 
in meinem Betragen bemerken konnte. « N 
„So blieb es einige Zeit lang, als ich Nachrichten erhielt, 
welche Karls Character in ſehr ungünſtigem Lichte zeigten. Die⸗ 
ſe, verbunden damit, daß er Wechſel auf mich gezogen hatte, 
welche weit höhere Summen betrugen, als dieß ſeinem Ver⸗ 
mögen angemeſſen war, beunruhigten mich ernſtlich, und ich 
eilte alſo ſelbſt nach Edinburg. Dort fand ich meine ſchlimm⸗ 
ſten Beſorgniſſe nur zu ſehr beſtätigt. Karl war nicht nur auf 
dem Wege ein Verſchwender zu werden, ſondern darauf ſchon 
ſehr weit vorgeſchritten. Durch einige verworfene junge Leute, 
mit welchen ihn der Zufall bekannt gemacht hatte, war er zum 
Billard verleitet worden. Dort war ſein Verluſt nicht klein, 
weil feine Gegner Meiſter in dieſem Spiele waren. Vom Billard: 
zimmer war die Wanderung in die Weinſtuben nur zu leicht, 
und dieſe wurde dann wieder mit Orten vertauſcht, in denen 
man das Laſter noch mit unedlern Gebräuchen anbethete. Von 
allen dem unterrichtete ich mich erſt genau, ehe ich Karln ſelbſt 
rufen ließ. Und als er nun kam, wie erſchrack ich über die Ver⸗ 
änderung, welche wenige Monathe in ſeinem Aeußeren hatten 
hervorbringen können. Statt des Jünglings, der ſonſt gewohnt 
war, vor mir zu ſtehen, mit einem Geſichte, auf dem jeder Ge— 
danke feiner ſchuldloſen Seele ſich wiederſpiegelte, deſſen Aus 
ge in milder Kraft ſtrahlte, deſſen Stimme der Ton der Fröh⸗ 
lichkeit war, ſah ich einen Menſchen vor mir, welchen das La— 
ſter furchtſam gemacht hatte; der Freude heuchelte, während 
ihn Gewiſſensbiſſe nagten, deſſen tiefliegende Augen die Bac⸗ 
8 2 


260 


chanalien vieler Nächte verkündeten, und deſſen hervorgeſtot⸗ 
terten Worte, ftatt fie zu verkleiden, feine Beſchämung nur 
noch deutlicher kund gaben. 

„Einen Augenblick lang überwältigte ihn das Gefühl ſei⸗ 
ner beſſeren Zeit. Er drückte mir die Hand mit derſelben Lie⸗ 
be, demſelben Vertrauen, wie damahls, als er noch tugendhaft 
war. Aber ſchnell ließ er fie los, und Empfindungen mannig⸗ 
facher Art, doch im traurigen Wechſel, verdunkelten fein Aus 
ge. Ich machte ihn, ruhig aber feſt, mit den Befürchtungen 
und Sorgen bekannt, welche die erhaltenen Nachrichten über 
ſein Betragen in mir erregt hätten. Ich beſchwor ihn, wenn 
er ſeinen eigenen Frieden, das Andenken ſeines Vaters, und 
das Wohlwollen ſeiner Freunde achte, nicht fortzuſchreiten auf 
dieſem Wege. Ich ſagte ihm, wie ſehr mein eigenes Glück von 
ſeinem Benehmen abhänge, und verſchwieg ihm nicht, daß Ellen 
im Stillen über die Verirrungen ihres Bruders weine. Dieß 
Letztere rührte ihn. Er bekannte die ganze Fülle feiner Aus: 
ſchweifungen, und verſprach Beſſerung. Jetzt hielt ich es nicht 
gerathen, ihn mitten unter den Verſuchern zu laſſen, die für 
ſeine wiedererwachende Tugend zu gefährlich hätten werden 
können, und nahm ihn mit mir auf's Land. « 

„Einige Wochen lang hielt er ſich nach feiner Rückkehr 
in den Schranken der ſtrengſten Regelmäßigkeit. Doch, ach! 
dieſe Beſſerung war nur von kurzer Dauer. Seine landwirth— 
ſchaftlichen Arbeiten wurden vernachläſſigt. Er blieb faſt ſtets 
in einem benachbarten Marktflecken, wo er, in Geſellſchaft der 
niedrigſten Art, Tag vor Tag, und Nacht vor Nacht, in Aus⸗ 
ſchweifungen lebte. Um dieſe Zeit war er großjährig geworden. 
Unſere Rechnungen wurden berichtiget, und er völlig fein eig⸗ 


261 


ner Herr. Bald war fein Vermögen durchpraßt; er ging fort, 
und Niemand wußte wohin.“ 

„Ob mir gleich ſchon Karls Herabwürdigung um feiner 
ſelbſt willen leid that, fo wurde ich doch noch tiefer durch den 
ſichtbaren Nachtheil, den ſein Benehmen auf die Geſundheit 
und Heiterkeit meiner Tochter hervorbrachte, erſchüttert. Lanz 
ge vorher hatte ſie ihn ſchon nicht mehr ſehen, keine Briefe 
mehr von ihm annehmen wollen; aber dennoch war ſein Bild 
feſt eingewachſen in ihr Herz, und ſie dachte nur ſtets an jene 
Tage, wo er kein andres Glück, als das in ihrem Umgange 
kannte. Sie würde nie die Heimath verlaffen haben, um ei— 
nem Geliebten zu folgen, deſſen Seele mit Laſtern befleckt war; 
aber wo ſie nicht mehr achten konnte, hörte ſie doch nicht 
auf zu lieben. Er, dem ihr Herz fo ganz vertraut hatte, 
war ihrer unwerth geworden. So glich fie dem durſtigen Wan⸗ 
derer, der da, wo ſeine Augen ihn mit dem Anblicke friſchen 
Waſſers getäuſcht hatten, nur heißen Sand findet, und deſſen 
Seele bey der Entdeckung des Betrugs erliegt. — Konnte nicht 
jeder Anſchein von Tugend ſtets ſo triegeriſch ſeyn, als er es 
bey Adamſon geweſen war? Konnte nicht jede Liebe eben fo 
ſchnell ſchwinden, als die feine? Und da er, der Geſpiele ih⸗ 
rer Kindheit — ihr Retter vom Untergange — ihr den Frie- 
den ihres Herzens zerſtört hatte, wie konnte ſie ſelbſt von der 
Dauer der Zärtlichkeit eines Vaters überzeugt bleiben? — Die— 
ſe und ähnliche Gedanken ſtürmten auf ſie ein, und ſtellten 
ihr die Welt als einen Aufenthalt dar, aus dem die Hoffnung 
entflohen ſey, und wo nur Verzweiflung hauſe. Sie vernach⸗ 
läſſigte ihre früheren Beſchäftigungen, und ich fand ſie oft in 
Thränen. Ihre Kräfte ſchwanden, und die Spuren innerer Ver⸗ 


262 


zehrung, bey des Mädchens hoher Lieblichkeit nur um ſo beunru⸗ 
higender, breiteten ihr flüchtiges Roth ſchon über ihre Wangen.“ 
»Voll Bekümmerniß befragte ich einen berühmten Arzt, 
welcher mir offen geſtand, daß ärztliche Hülfe hier nichts thun 
könne, ſondern da die Urſache des Uebelbefindens meiner Toch⸗ 
ter geiſtiger Art ſey, Zerſtreuung ihres Gemüthes allein ih⸗ 
re Geneſung befördern könne. Als das beſte Mittel dazu, ſchlug 
er eine Veränderung unſeres Wohnortes vor. Mein Pacht war 
eben damahls zu Ende, und fo kaufte ich dann, auf Anrathen 
eines Freundes, dieſes Haus, das ich bald darauf bezog.“ 
„Auf Ellen hatte dieſer Wechſel den wohlthätigſten Ein⸗ 
fluß. In ihrer frühern Heimath hatte fie jeder Gegenſtand an 
ihren unwürdigen Geliebten erinnert, hier rufte die Umgebung 
ihr nie fein Andenken zurück. Sie konnte auf den Helvel⸗ 
lyn blicken, ohne zu erwarten, ihn auf einem von deſſen 
Hügeln zu ſehen, und am Ufer der Seen wandern, ohne ſich 
mit dem Verſuche zu beſchäftigen, in der Geſtalt des fernen 
Fiſchers die ſeine zu enträthſeln. Ihre Geſundheit iſt jetzt ganz 
wieder hergeſtellt, und ob ſie gleich noch nicht völlig heiter, iſt 
doch ihr Gemüth ruhig, und findet ſelbſt in der ſtillen und mil: 
den Schwermuth, mit welcher ſie auf ihre frühere Kümmer⸗ 
niſſe zurückſchaut, einen Genuß. « . 
»Etwa vor einem Jahre ward ich durch Zufall mit einem 
benachbarten Edelmann bekannt, Ellen's Benehmen gefiel ihm, 
und er bath mich um meine Erlaubniß, ihr ſeine Huldigungen 
bezeugen zu dürfen. Der Mann war wohlhabend, brav und 
angenehm, und ich hätte es wohl gern geſehen, daß meine 
Tochter ſeine Anträge angenommen, um nach meinem Ableben 
in ihm einen Beſchützer zu erhalten. Als ich aber darüber mit ihr 


263 


ſprach, rief fie aus: »O mein theurer Vater, quäle mich nicht 
mit einem Wunſche, den ich Dir unmöglich erfüllen kann! 
Meine Liebe iſt in der Jugend geknickt, ſie kann nicht wieder 
aufblühen. Mein einziger Troſt iſt der, an Karin zu denken, wie 
er war, als fein Herz noch unverdorben ſchlug, und mir vorzu— 
fielen, daß meine Seele immer noch mit ihm Eins ſey. Er⸗ 
laube mir, zu bleiben wie ich bin. Laß mich hoffen, daß mein 
Naheſeyn Dir Freude macht, und dann bin ich recht, recht 
glücklich! «— Unmöglich war es, ihrem Verlangen zu widerſte⸗ 
hen, und der Werber ward dankbar zurückgewieſen.« 

„Sie find nun, meine Freunde, mit der Urſache der Schwer⸗ 
muth, die noch manchmahl im Auge meiner Tochter zu leſen iſt, 
bekannt. Nicht wunderbar iſt ihre Geſchichte; was ſie erlebte, 
erduldeten Tauſende: aber unverkennbar war Ihre Theil⸗ 
nahme, und ſo bitte ich nicht um Vergebung, Sie mit Din— 
gen unterhalten zu haben, die Ihnen ganz! unbedeutend ſchei⸗ 
nen müſſen. « 

Hier ſchloß der wackre Alte ſeine Erzählung, wir dankten 
ihm herzlich dafür, und gingen nun mit ihm wieder zu ſeiner 
Tochter, um den Thee bey dieſer zu trinken. Nichts macht 
uns vertrauter mit einem edlen weiblichen Weſen, als wenn 
wir die unverdienten Leiden ihres trefflichen Herzens kennen; 
es iſt uns dann ein ſüßer Genuß, unſre Thränen mit den 
ihrigen zu miſchen. So nahte ich mich denn jetzt Miß Torre: 
ſter mit der Theilnahme eines alten Freundes, und würde 
den kaltblütigen Sterblichen verachtet haben, der mir einge: 
wendet hätte, unſre Bekanntſchaft ſey ja kaum einige Stun⸗ 
den alt. 

Der Thee war kaum getrunken, und noch ſchlug der Re⸗ 


264 


gen heftig an die Fenſter, als der Bebiente mit der Meldung 
eintrat, daß ein wandernder Muſikus vor der Thür ſtehe, und 
um Schutz und Schirm für dieſe Nacht bitte. Mr. Forreſter 
ging hinaus, um mit ihm zu ſprechen. Als er wieder kam, 
ſagte er uns, daß er ein Lager! für den Bittenden im Neben- 
hauſe habe vorrichten laſſen, und ihn ſelbſt gebethen habe, wenn 
er ſich in der Küche getrocknet, zu uns in's Sprachzimmer zu 
kommen, um uns vielleicht durch ſeine Geſchicklichkeit einige 
Unterhaltung zu gewähren. Bald darauf trat der Fremde ſelbſt 
ein; entſchuldigte ſich aber damit, daß ſeine Violine durch 
den heftigen Regen fo viel gelitten habe, daß keine Saite ei⸗ 
nen Ton gebe. Er wollte eben in die Küche zurückkehren, als 
ihn Mr. Forreſter, nachdem er uns deßhalb um Erlaubniß ge⸗ 
bethen hatte, erſuchte, bey uns zu bleiben. »Ihr Muſiker,“ 
fagte er, »ſeyd die beſten Geſchichtsforſcher unſerer Hügel 
und Thäler, und wenn Sie uns alſo auch nicht mit Ihrer 
Tonkunſt unterhalten können, ſo ſind Sie vielleicht doch im 
Stande, uns etwas recht Intereſſantes zu erzählen. « 
Der Fremde, ein junger, kräftiger, doch wie es ſchien, 
anf Einem Auge blinder Mann, ſchien keine große Luſt zu 
haben, die ihm dargebothene Erlaubniß anzunehmen. Nur mit 
Mühe konnten wir ihn dahin bringen, ſich zu ſetzen, und er 
ſprach faſt nichts; auf das, was wir ihn fragten, nur kurz 
antworten). 
Forreſter hatte bereits mit feiner fröhlichen Art indeß ein 

Paar Liedchen geträllert, als wir auch den Fremden dringend 
bathen, uns einen Geſang zum Beſten zu geben. Er that es, 
und fang mit einer Empfindung, wie ich ſelten etwas Aehnli⸗ 
ches hörte, das Folgende: 


263 


O Mädchen, ob Du hoch von Stand, 
Und niedrig ich und klein, 
Nicht ſey Dein Blick von mir gewandt, 
Laß ihn nicht zürnend ſeyn! 


Fi Ich blick' zu Dir, wie zu dem Stern, 
Dem Schmuck der dunkeln Nacht; 
Zwar iſt er von mir, ach! ſo fern, 
Doch mir ſein Licht auch lacht. 


Und Andre mögen Worte Dir 
Und Liebeswerbung weihn, 
Es bleicht nur Lieb' die Wange mir, 
Mein Seufzer nur iſt Dein. 


Kaum hatte er geendet, als Miß Forreſter, die während 
des Geſangs unverwandt auf ihn geblickt hatte, ausrief: »Er 
iſt's! er iſt's!« und in Ohnmacht auf ihren Seſſel ſank. Jetzt 
gerieth Alles in Verwirrung. Lange waren die Anſtrengungen, 
ſie wieder zu ſich zu bringen, fruchtlos, und als ſie endlich 
die Augen öffnete, und ihr Blick auf den Sänger fiel, kehrte 
der vorige Zuſtand faſt wieder zurück. Das ſchnelle Uebelbe⸗ 
finden der Miß, und die wenigen Worte, welche ſie geſprochen 
hatte, ließen mich nicht daran zweifeln, daß der Fremde ihr 
Geliebter ſey. Indeß aber hatte Sorge für die Tochter unſern 
Wirth verhindert, dieſelbe Bemerkung zu machen, bis ſich der 
Fremde an Ellen's Seite ihr zu Füßen warf, und tief bewegt 
mit bebender Stimme ausrief: »Vergib mir, immer geliebtes, 
aber doch ſo tief gekränktes edles Weſen, daß ich es wagte, 


266 


mich in Deine Nähe zu drängen. Vergib mir, daß ich mir es 
nicht verſagen konnte, Dir und Deinem Vater wenigſtens 
meine Zerknirſchung zu zeigen. O nie, nie könnt Ihr mir 
wieder die Zuneigung ſchenken, die ich ſonſt genoß; aber denkt 
wenigſtens künftig an mich, als einen Reuigen, einen Wieder⸗ 
gekehrten zum Wege der Tugend! 

Eine Aufklärung ſo zarter Art, wie ſie hier nothwendig 
Statt finden mußte, konnte nicht gut in Gegenwart vor Frem⸗ 
den geſchehen. F. — und ich zogen uns daher in's Nebenzim⸗ 
mer zurück, wo wir den Erfolg mit ſteigender Ungeduld er⸗ 
warteten. Noch war keine Stunde vorüber, als Mr. Forreſter 
wieder zu uns kam. Adamſon hätte, erzählte er uns, zwar noch 
nicht in's Einzelne ſeiner Verhältniſſe eingehen können; aber 
ihm doch hinreichende Beweiſe gegeben, daß er feine jugendli⸗ 
chen Verirrungen innig bereue, und geſonnen ſey, wieder ein 
würdiges Mitglied der menſchlichen Geſellſchaft zu werden. 
„Ich habe ihn, « fuhr er fort, »mit Ellen allein gelaſſen, um 
ſeinen Frieden mit dieſer zu ſchließen. Gelingt ihm das, und 
ich hoffe es, denn in ihrem Herzen ſpricht noch ein mächtiger 
Anwald für ihn, fo wollen wir zu ihm. 

Adamſon trat bald darauf ſelbſt in unſer Zimmer, und 
fein Anblick ließ errathen, daß feine Bitte um Verzeihung 
freundlich erhört worden ſey. In der That zeigte fein Aeußeres, 
wie ſein Benehmen einen ſolchen Unterſchied von dem, was er 
bey ſeinem erſten Eintreten geweſen war, daß, wenn er mir 
anderswo begegnet wäre, ich ihn gewiß nicht wieder erkannt 
haben würde. Die Binde, welche ſein Auge deckte, hatte 
er weggenommen, er zog ſich nicht, wie zuvor, ſcheu vom 
Licht zurück, und ſprach jetzt freymüthig, und mit der Hal⸗ 


267 


tung eines Mannes, der den Ton der beſſeren Geſellſchaft ge⸗ 
wohnt iſt. 

Miß Forreſter ließ ſich entſchuldigen, daß ſie uns heute nicht 
mehr ſehen könne, und Adamſon, welcher wußte, daß unſer 
Wirth uns mit feiner frühern Geſchichte bekannt gemacht has 
be, kam uns ſelbſt mit der Erzählung ſeiner ſpäteren Aben— 
theuer entgegen. 

„Als ich,“ fo erzählte er, »in Folge meiner Vergehungen, 
aus dem Hauſe meines verehrten Freundes gewieſen, und mir 
aller fernere Umgang mit feiner liebenswürdigen Tochter ver: 
bothen worden war, befand ich mich in einem Zuſtande, deſſen 
Elend Worte nicht ſchildern. Ich fühlte nun erſt ganz den Werth 
des Glücks, das ich durch meine Thorheit verloren, und die 
Nichtswürdigkeit der Dinge, die ich mir, ſtatt feiner, erworben 
hatte. Selbſt mitten unter der Herabwürdigung meiner fittlis 
chen Verhältniſſe war doch meine Anhänglichkeit an Ellen in 
gleicher Gluth und Reinheit in meiner Seele geblieben, und 
fie blühte in meinem Buſen, wie eine einzelne Blume in ei— 
ner weiten, öden Wüſte. Nicht ſelten verließ ich mit Ekel 
meine elenden Gefährten, ſtahl mich in's Freye, und blickte 
bey'm Schimmer des Mondes mit von Thränen überſtrömen— 
den Augen auf die Wohnung, in der ſie lebte. Doch wagte ich 
es nie, mich in dieſes Heiligthum wieder einzudrängen. Ellen 
ward mir ein höheres Weſen, das man ehrfurchtsvoll in der 
Ferne anbethen müſſe, nicht ein Geſchöpf, dem man in Ver⸗ 
traulichkeit ſich nähern könne. Aber ob ich dieß gleich fühlte, 
ſo waren doch die Ketten des Laſters zu eng um mich geſchlun— 
gen, als daß ich ihnen hätte entrinnen können. Zwar verach— 
tete ich meine Gefährten; aber dennoch gefielen mir ihre 


268 


Schmeicheleyen, die Vetheuerungen ihrer Anhänglichkeit zogen 
mich an, und der Wunſch, meine Oberherrſchaft über fie fer— 
ner zu behaupten, ließ mich in jeden noch ſo koſtſpieligen Plan 
eingehen, den fie für unſre Zerſtreuung erfanden.« 

»Nicht lange währte dieß, ſo ward Armuth mein Loos, 
und dann verließen mich die, welche bis dahin mir am treue— 
ſten ergeben geſchienen. In meinen eignen Augen verworfen, 
geflohen von allen Rechtlichen, und ſelbſt von denen, die mei⸗ 
nen Ruin mit herbeygeführt hatten, verſpottet, war meine La- 
ge fürchterlich. In dieſem Zuſtande fing ich an, ernſtlich in mich 
zu gehen. Nur eigne Uebereilung, nur eigne Schuld hatte mein 
Elend geſchaffen, und ich beſchloß feſt, mein Betragen zu än⸗ 
dern. Welche Entbehrungen mir auch bey meiner künftigen 
Laufbahn bevorſtünben, ich war entſchieden, jene lieber mit Ge⸗ 
duld zu ertragen, als je wieder vom Pfade der Rechtlichkeit 
abzuweichen. Als ich endlich dieſen Entſchluß feſt in mir auf⸗ 
genommen hatte, fühlte mein Gemüth ſich leichter, ward mei⸗ 
ne Seele ruhiger, als ſeit Jahren. Doch mußte ich mich noth⸗ 
wendig aus der Gegend entfernen, wo meine Verirrungen 
ſo allgemein bekannt waren, und ich wanderte mithin nach 
London. « N 

»In dieſer Hauptſtadt erntete ich nun die bittern Folgen 
der Saat meiner frühern Vergehungen. Ob ich gleich eine 
ſchöne Hand ſchrieb, auch mit der Buchhalterey gut bekannt war, 
wollte man mich doch ohne Zeugniſſe nirgends anſtellen, und 
dieſe mir zu verſchaffen, war ich außer Stande. So mußte 
ich mich endlich als Handlanger bey einem öffentlichen Gebäu⸗ 
de anſtellen laſſen, und ob ich gleich manchmahl unter der Lat 
dieſer ungewohnten Arbeiten faſt erlag, ſo hatte doch mein Ge⸗ 


269 


wiſſen aufgehört, mich zu befeinden, und fo war ich in der That 
glücklicher, als damahls, wo ich noch in Wollüſten ſchwelgte.« 

„Mehrere Monathe hindurch lebte ich fo, und es ſchien 
nun faſt gewiß, daß ich mein ganzes Leben fortan in der Ein— 
förmigkeit der niedrigſten Handarbeit würde fortſchleppen müf- 
ſen, als ich eines Tages, im Vorübergehn bey einem ſehr be— 
ſuchten Theile der Stadt, ein Taſchenbuch fand, das jemand 
dort verloren haben mußte. Als ich deſſen Inhalt unterſuchte, 
zeigten ſich mir Banknoten von bedeutendem Werthe. Dieſes 
war eine Verſuchung, die meine neuen beſſern Grundſätze auf 
die ſtärkſte Probe ſtellte, und bekennen will ich es, daß ich ei⸗ 
nen Augenblick anſtand, ob ich die gefundenen Schätze nicht 
zu meinem eigenen Nutzen verwenden wolle. Hier lag die Wahl 
zwiſchen Armuth und Verachtung, oder Reichthum und Ans 
ſehn vor mir. Doch, Gott ſey Dank, der innere Kampf dau- 
erte nicht lange. Ueberhaupt war Gewinnſucht nie meine Lei— 
benfchaft geweſen, und fo entſchloß ich mich, um fo eher das 
Taſchenbuch mit feinem reichen Inhalte an den wahren Eigen> 
thümer zurückzugeben. Kaum hatte ich dieſen Vorſatz gefaßt, 
als die reinſte Freude mein ganzes Innres durchſtrömte. »Ich 
bin nun Deiner Freundſchaft wieder werth, mein zweyter Va— 
ter !« ſo rief ich laut aus, »ich bin nun Deiner Liebe nicht ganz 
unwürdig, o Du, die ich mehr liebe, als eine Schweſter! denn 
ſelbſt die Verſuchung, wieder um Euch zu ſeyn, hat mich nicht 
vermocht eine ſchlechte Handlung zu begehn. « 

»Einige Briefe, die das Taſchenbuch enthielt, zeigten mir, 
daß der wahre Eigenthümer derſelben Sir William — ſey, der 
vor Kurzem das Erbtheil ſeines Vaters, Ihres Verpächters, 
mein theurer Freund, und des meinigen angetreten hatte. Ich 


270 


ſuchte ihn in feiner Wohnung auf, und ward leichter vor ihn 
gelaſſen, als ich nach der ärmlichen Kleidung, in welcher ich 
damahls einherging, hätte erwarten können. Sir William hat⸗ 
te den größten Theil feiner Jünglingsjahre auf einer engliſchen 
Univerſität zugebracht; ich war ihm daher gänzlich unbekannt. 
Man hatte ihm jedoch gemeldet, daß ich ihn in einer dringen⸗ 
den Angelegenheit zu ſprechen wünſche, und ſo nahm er mich 
mit würdevoller Höflichkeit an. Auf meine Frage, ob er nicht 
ohnlängſt einen Gegenſtand von großem Werthe verloren ha— 
be, und ſeine Bejahung darauf, übergab ich ihm ſein Taſchen⸗ 
buch. « — »Was darin enthalten iſt, « erwiederte er nun, als 
er es in die Hand nahm, »würde ich nicht leicht haben entbeh⸗ 
ren können. Ich verehre daher die Rechtlichkeit, mit der Sie 
es mir zurückgeben, hoch, und dieß um ſo mehr, da ich nicht 
vorausſetzen darf, daß Ihre Börſe beſſer verſorgt iſt, als die 
meine. Hier einſtweilen eine Kleinigkeit zum Danke. Kommen 
Sie morgen wieder, und ich werde es verſuchen, dieſen Dank 
ſprechender auszudrücken.« Bey dieſen Worten legte er mir 
eine Banknote von fünfzig pfund in die Hand, und entfernte 
ſich. f 
Pünctlich ſeinem Befehle nachkommend, wartete ich dem 
Baronet am folgenden Tage wieder auf. Nach einigen andern 
Geſprächen fragte er mich, ob ich etwas vom Rechnungsweſen 
verſtehe. Ich bejahte dieß. — »Das iſt ſehr gut, entgegnete er, 
ich habe große Beſitzungen in Weſtindien, und bin mit dem 
Benehmen meines dortigen Agenten ſehr unzufrieden. Wollen 
Sie dieſe Stelle annehmen, fo können Sie fie mit einem jähr⸗ 
lichen Gehalte von dreyhundert Pfund ſogleich antreten. Ich 
werde ſie mit den ausführlichſten Inſtructionen verſehen, und 


27% 


verlange keine Bürgſchaft für Ihre Rechtlichkeit, als die, wel⸗ 
che mir geſtern in ſo hohem Grade zu Theil worden iſt.« 
»Dieſer Edelmuth rührte mich tief, da ich aber doch noch 
fürchtete, meine beſſern Grundſätze, welche Armuth hervorge— 
rufen hatte, möchten dem Wohlſtande wieder unterliegen, ſo 
lehnte ich Sir Williams Anerbiethen ab. Ich entdeckte mich 
ihm ganz, erzählte ihm meine frühere Geſchichte, und machte 
ihn mit meinem vollen Unwerthe bekannt. Er hörte mir mit 
großer Geduld zu, und entgegnete, als ich endete: — »Alles 
ſteht ja beſſer, als ich hoffte. Ich werde das Glück genießen, 
dem Sohne eines Mannes, den mein Vater ſchätzte, einen 
Dienſt zu erzeugen, und nicht nöthig haben, mich Jemand ans 
zuvertrauen, den Unerfahrenheit leicht zu Fehltritten verleiten 
könnte. Die Treue deſſen, der die Bürde des Laſters von ſich 
warf, iſt unverdächtiger, als die des Jünglings, der nie firaus 
chelte, weil nie Verführung feinen Pfad ſchlüpfrig machte.« — 
»Vergebens ſtritt ich noch darüber mit dem edlen Manne, 
er zwang mich ſein Anerbiethen anzunehmen. Wohl verſehen 
von ihm mit allem Nöthigen, und zur Reife ausgerüſtet, um 
mit Anſtand in Weſtindien auftreten zu können, ſchiffte ich 
nun bald nach Antigua, Einrichtungen, die ich dort traf, lin⸗ 
derten auf der einen Seite das Schickſal der Negerſclaven, 
beſſerten die Umſtände der andern Angeſtellten, und vermehr⸗ 
ten auf der andern die Einkünfte meines Wohlthäters faſt 
um das Doppelte. Mein eigenes Loos, obſchon durch die Erin⸗ 
nerung an die Freunde im Vaterlande, deren Achtung ich vers 
loren hatte, verbittert, war außerdem in jeder Hinſicht ange— 
nehm, und ſo ſah ich ohne Widerwillen einem ſehr langen Auf⸗ 
nthalt in Weſtindien entgegen. Kaum hatte ich jedoch vier 


272 


Jahre dort zugebracht, als Sir William mir ſchrieb, daß er 
feine dortigen Befigungen verkauft habe, und mich daher bit— 
te, nach Europa zurückzukommen, wo ich auf jeden Beweis 
ſeiner innigen Freundſchaft rechnen könne. Und von dieſer ha⸗ 
be ich ſeither die ausgezeichnetſten erhalten. Als ich ankam, 
war die Pachtung, welche mein Vater vordem über ſich gehabt 
hatte, erledigt. Dieſe bewilligte der edle Baronet mir unter 
den vortheilhafteſten Bedingungen, und drang mir das Inven— 
tarium auf ſeine eigenen Unkoſten auf, um, wie er ſagte, mir 
damit ein ſchwaches Kennzeichen des Dankes zu geben, den er 
mir ſtets ſchuldig bleiben werde. 

„Jetzt, auf der Reiſe, meine pachtung in Beſitz zu nehmen, 
beſchloß ich Sie, mein Vater, in verſtellter Kleidung zu bes 
ſuchen, mich Ihnen aber dießmahl nicht, ja überhaupt nicht 
eher zu erkennen zu geben, bis ſelbſt diejenigen, die früherhin 
Zeuge meiner Verirrungen geweſen waren, meine Sinnesän⸗ 
derung billigend anerkannt, und mich dadurch würdiger ge⸗ 
macht hätten, um Ihre und Ihrer Tochter Freundſchaft wie- 
der zu bitten. Der Scharfblick meiner einzig geliebten Ellen 
hat mich gezwungen, dieſen Plan aufzugeben, und ſchon hat ſie 
das himmliſche Wort der Vergebung mir zugeflüftert. O ver⸗ 
ſagen auch Sie dieſe Vergebung dem Reuigen nicht! Mein ganz 
zes Leben ſoll dem Beſtreben gewidmet ſeyn, Ellen glücklich, 
Sie zufrieden zu machen. O ſeyen Sie verſichert, daß ich 
die Qualen des Laſters zu tief empfunden habe, um nicht auf 
ewig der Tugend Treue zu ſchwören.« 

Da ergriff der alte Mann des Jünglings Hand, und ver⸗ 
ſuchte ſein Entzücken zu ſtammeln. Aber das Wort: »Sohn!“ 
war das Einzige, daß F. — und ich deutlich hörten, wäh⸗ 


273 


rend auch unſern Augen fanfte Thränen des Mitgefühls ent⸗ 
quollen. 

Am Morgen barauf reiſten wir wieder ab, glücklich in der 
Ueberzeugung, daß Ellen in dem Vereine mit dem Geliebten 
ihrer erſten Wahl, der nun gereinigt ſey in dem Feuer der 
Trübſal, einem Leben voll der reinſten Wonne und des uns 
getrübteſten Friedens entgegen ſehe. 


Theodor Hell. 


Kunſthöh e. 


Die Menge. 


Uns nehm t in Aug', damit wir Euch verſtehen, 
Wir ſind gewiß nicht dumm, allein wir meinen: 
Macht's nicht zu hoch! 
Dichter. 


Ihr Herrn! zu hoch wird ſcheinen 
Der Fußweg ſelbſt, wenn wir im Graben ſtehen. 


Klar ſey die Kunſt, ich will's Euch zugeſtehen, 
Doch klar wie Demant, klar wie Sonnenſcheinen; 
Ihr aber glaubt, das ſey nicht zu vereinen, 
Und Waſſer fließe von des Pindus Höhen. 


Nicht fragen dürfen wir: wird's Euch gefallen, 
Was ich mir da in meinem Innern ſpinne? 
Und iſt's dem Vetter recht, und auch der Muhme? 


Wie's in uns klingt, ſo laſſen wir's erſchallen; 
Den Saamen ſtreun wir aus mit gläub'gem Sinne, 
Und iſt er gut, kommt wohl von ſelbſt die Blume. 


Deinhardſte iu. 


C 


feel. 


Kunſtrichter. 


Sr die bey'm Luſtſpiel uns zu Gaſt müßt laden, 
Schreibt's nur zu luſtig nicht, damit ſich's ſchicke: 
Ein wenig Leiden, und ein wenig Glücke, 
Gewähltes Wort, Rührung in kleinen Graden. 


Ein Bischen Witz kann allenfalls nicht ſchaden, 
Doch fein nur, fein; er eben iſt die Klippe. 
So ſprechen wir, Kenner der Aganippe, 
Und Richter auch zugleich von Gottes Gnaden! 


Publicum. 


Hört, Dichter! nicht auf all die tollen Sachen, 
Wir fliehn zu Euch in dieſem traur'gen Leben, 
In Eurer luſt'gern Welt uns zu ergehen. 


Drum laßt uns nur ihr buntes Treiben ſehen! 
Wir ſind ſo frey, wenn's uns gefällt, zu lachen, 
Und fragen nicht: wird man's uns auch vergeben? 


Dein hardſte in. 


S 2 


276 


Grün oder Blau. 


»Wie ſoll des Stübchens Farbe werden? « 
Grün, wie ſeit Jahren, liebe Frau! — 
»Da nichts beſtändig iſt auf Erden, 
Rieth dießmahl ich zu Himmelblau!“ — 


Ja, jetzt wohl grünen Flur und Büſche, 
Jetzt mag das Grün entbehrlich ſeyn; 
Doch, wo gewinn' ich Lebensfriſche, 
Wenn jene fallen und verſchneyn? — 


„Wie? ſollte ſie nicht auch beleben 
Die Aetherbläue, zart und mild? 
Vom Erdenthal und Himmel geben 
Die blauen Wänd' manch reitzend Bild. 


Des Bächleins klare Wellen blauen, 
Das ſilbern erſt durch Epheu bricht, 
Und in den reinen Spiegel ſchauen, 
Selbſt blau, gleich ihm, Vergißmeinnicht. 


277 


Vergäßeſt du auch der Cyanen, 
Die Flora webt durch Aehrengold; 
So denke, daß durch Azurbahnen 
Sie ſelbſt, die goldne Sonne, rollt. 


Mag Nordwind durch die Wälder ſauſen, 
Der blätterloſe Baum verſchneyn; 
Mag Sturmgewölk ſich ballen draußen — 
Um Dich wird immer Himmel ſeyn!« — 


Du weißt die Sache gut zu führen, 
Und immer Recht behält die Frau. 
Nicht — blaue Augen zu berühren, 
So war doch — Gellerts Hecht auch blau! 


Zwar möcht' ich lieber Grün — indeſſen 
Geſcheh' Dein Wille, holdes Kind! 
Wie könnt' ich, ſeh' ich Dich, vergeſſen, 
Daß in dem Himmel Engel ſind? 


Sr. Kind. 


271 


Maria Magdala, keine Büßerin. 


Zu einem Bilde. 


ar: 

In ſtilldunkler Felſengrotte, 
Andachtsvoll in ſich geſchmiegt, 

Knieet vor dem Kreuzesgotte 
Magdala; ein Lächeln fliegt 

Ueber ihr Geſicht in Thränen, 

Voll von überird'ſchem Sehnen. 


Soll ſie ihre Schönheitsfülle 
Geißeln nur in Aſch' und Staub? 
Nein, ihr Herz hat Ruh’ und Stille, 
Iſt nicht mehr des Vorwurfs Raub. 
Die vom rechten Weg Verirrte 
Fand gar bald der gute Hirte. 


Gleich erkannte ſie mit Schmerzen 
Ihrer Sünde Unrecht hell, 

Und Er ſah in ihrem Herzen, 
Einen ſchönen Liebesquell, 


279 


Der, geläutert nur vom Schlamme, 
Spiegel wird der reinſten Flamme. 


Und ihr Glück ſind nun die Lehren 
Aus des Meiſters hohem Mund, 
Und der Saame treibt bald Aehren 
In des weichen Herzens Grund, 
Wärmſte Schülerin der Wahrheit, 
Lebt ſie nur in Lieb' und Klarheit. 


Hinter ihr liegt das Bereuen 

Und Bejammern ihrer Schuld: 
Sicher iſt ſie vom Verzeihen — 

Mehr noch — von des Himmels Huld. 
Denn, zur Freundin aufgenommen, 
Haben ſie die reinſten Frommen. 


An der Heilandsmutter Seite, 

In der Jünger heil'gem Kreis 
Geht fie in des Herrn Geleite: 

Ja, ihr Herz iſt rein und weiß, 
Und, von Qual und Angſt geſchieden, 
Labt ſie Gottes ſüßer Frieden. 


Mit der Hehreſten der Frauen, 
Mit dem Jünger hochgeliebt, 
Darf den Herrn ſie ſterbend ſchauen, 
Schmerzzerriſſen, todtbetrübt; 
Darf mit denen Ihn beſtatten, 
Welche Ihn gm liebſten hatten. 


280 


Wallt dann zu den Felſengrüften, 
Wo ihr treuer Meiſter ruht, 
Sieht darin, aus Himmelslüften 
Engel, licht, wie Morgengluth. 
Die die Jünger ſelbſt nicht fanden, 
Künden ihr: Er iſt erſtanden! 


Ach, und als der Unerkannte 

Selber ſichtbar vor ſie trat, 
Sie fo hold: Maria! nannte, 

Wie Er ſtets im Leben that — 
Stammlend kann fie, Ihm zu Füßen, 
Kaum: Rabuni! noch Ihn grüßen. 


Was, nach ſolcher Wonn' und Schmerzen, 
Kann die Welt noch für ſie ſeyn? 

Nur Erinnerung im Herzen 
Flüchtet ſie in Wüſteneyn, 

Wo ſie liebeſehnend weinet, 

Bis der Tod dem Herrn fie einet. 


Thereſe v. Artner. 


281 


Heu wird's um mich. Iſt dir's mein Geiſt gelungen, 
Den Ausgang aus den dunklen Irrgewinden 

Des Erdenwandelns glücklich früh zu finden? 

Haſt du zu höherm Seyn dich aufgeſchwungen? 


Von Wunſch, Entſagung, Lieb' und Qual umſchlungen, 
Sah ſchnell ich meines Lenzes Blüthe ſchwinden; 
Doch höhres Leben ſeh' ich ſich entzünden, 

Und mich wie aus der Knoſpe neu gedrungen. 


Wem dank ich's? Dir, der unſchuld reiner Engel! 
Der ſich mich freundlich wollte hier geſellen; 
Des Lichtes Bahn wies mir dein Liljenſtengel. 


„Rein mußt du lieben“ ſprachſt du, »und entſagen, 
Kein Sinnendrang darf deinen Buſen ſchwellen, 
Dann wird des Friedens Welt dir himmliſch tagen.« 


R. Walther. 


283 


Die Grotte in Adelsberg. 


W. von dem öden Gipfel in Ruin 

Die Burg zerfiel, die ſich im Aether thürmte, ) 
Wo noch zum alten Herft die Adler ziehn, 

Der feit Jahrhunderten fie nährte, ſchirmte; ) 


*) Der Weg zu dieſer merkwürdigen Grottenreihe, worüber 
Valvaſor (Ehre des Herzogthums Krain) und Gr u⸗ 
ber (hydrographiſche Briefe aus Krain) umſtändliche Bes 
ſchreibungen liefern, führt von Adelsberg aus an einem 
hohen, nur unterhalb durch einige neue Culturen ange- 
bauten Berge hin, auf dem noch einige Gemäuer der ehe⸗ 
mahls nicht unberühmten Burg Adelsberg vorhanden ſind. 


*) Man hält dafür, der urſprüngliche Name des Orts und 
7 5 Ae ſey: Adlersberg, wegen der vielen dort horſten⸗ 
117) 5 7 


283 


Da glänzt die Grotte, wunderbar erhellt 

In graden Richtungen, in Flammenbögen 
Als ob Dämone einer Feuerwelt 

Hier weilten, und dort auf- und niederzögen. 


Entlang des Fluſſes, der im Dunkeln ſchweift, 

Daß erſt nach Meilen er das Licht erblicke, ) 
Bedeckt den Abgrund, jäher abgeteuft, 

Im Höhlenvorgrund eine Doppelbrücke. 


Tief drunter rauſcht es in dem Wogenfall, 

Hoch droben zieht ſich fort im weißlich gelben 
Gebäude, gleich gediegenem Kriſtall, 

Der Säle Reih' in magiſchen Gewölben. 


Da wirkt in ihrem einſamen Gebieth 

Still die Natur, doch ſtets nach gleichen Normen; 
Den Tropfen wandelt ſie zum Stalaktit, 

Aus dieſem wechſelndes Gebild zu formen. 


Denn, wie im Tropfen aus der Berge Dach 

Sich ſenkend, und aus ungeſehnen Spalten, 
Die Säule wächſt, verändern allgemach 

In Größ' und Umfang ſich die Felsgeſtalten. 


*) Die Poigk fällt innerhalb der Grotte, deren einen Theil 
fie durchſtrömt, in die Tiefe, und kommt, erſt unfern der 
nächſten Poſtſtation, Planing, wieder zum Vorſchein. 


284 


Erkannt in Mitteln, unerkannt im Ziel, 

Weiß die Natur bey'm Widerſtreit der Maßen 
Stein und Gewäſſer wie zum leichten Spiel 

Zu trennen, und verbunden aufzufaßen. 


Sie läßt mit der Geſteine weißem Flor 
Die »Säulenreihen« wolkengleich verhängen; 
Es wächſt die „Trau bes unter'm Blatt hervor, 
Die »Palm es ſcheint der Schuppenaſt zu zwängen.) 


Ein »T hron« erhebt ſich dort im Flimmerglanz, 
Hier ladet, Durſt'ge täuſchend, zur Erfriſchung 

Ein „Borns; es blüht »der Garten Ferdinand s« *) 
In tauſend Stauden wunderbarer Miſchung. 


Und wo die Schöpfung ſelbſt im Nachtgefild 
Des Höhlenabgrunds laut den Schöpfer predigt, 
Steht »der Altar« und das »Madonnenbild,« 
Und eine »Kanzel,« nie fürs Herz erledigt. 


*) Die Stalaktiten bilden zuweilen einen weißen, dünnen, faſt 
durchſichtigen Flor, der ſich um das feſtere Geſtein wie 
Wolkenvorhänge ſchlingt; die Trauben, Palmen, der Thron, 
der Altar, das Madonnenbild, die Kanzel u. . f. find ohne 
gewaltſame Anſtrengung der Einbildungskraft zu erkennen. 


en) Eine nicht unbedeutende Grotte gleicht einem mit man⸗ 
nigfachen Stauden und niedrigen Gewächſen angebauten 
Garten; ſie wird, nach dem Namen Sr. kaiſerl. Hoheit 
5 Erbprinzen von Oeſtreich, »der Garten Ferdinands,“ 
enennt. 1 


285 


Erinnrung auch blieb nicht dem Herzen fern; 

Denn trog mein Blick nicht, glänzte in der Weihe, 
Die ſie erſchuf, ein wohlverwandter Stern — 

Das Sinnbild der Beſtändigkeit und Treue. ) 


Er glänzte über dieſer Feuerwelt 

Zugleich bewohnt von Gnomen und Najaden; 
So wird das Dunkel freundlich oft erhellt! 
So beut die Treue Ariadne's Faden! 


Ermuthigt ſchreitet drum des Wandrers Fuß, 
Durchkreuzend all die ſeltnen Irrgewinde, 
Bis zu der Höhle, wo der Wallfahrt Schluß 
Ihn mahnt, daß ſchwerlich Höheres er finde. 


Dort öffnet ſich, entdeckt durch neuern Fleiß, 

5 Die weiteſte und herrlichſte der Hallen; 

Ein Kampfheld möchte dort Turnier“ im Kreis 
Der Ritter halten und der Kronvaſallen. ) 


) Die ſchätzbare Vorſorge und Erinnerung einiger unver⸗ 
geßlichen Bekannten in Trieſt hatte die Beleuchtung der 
Grotte und zugleich die Veranſtaltung angeordnet, daß 
ein, dem Dichternamen des Verfaſſers entſprechendes Sterns 
bild in der Höhe der Grotte die Reiſenden überraſchte. 


*) Die erſt vor einiger Zeit entdeckte und zugänglie⸗ ge⸗ 
wordene Turnierhöhle iſt die umfänglichſte und ſchönſte 
unter allen. Hier ſchließt ſich gewöhnlich die Wandrung 
der Beſchauenden, obwohl bis an das Ende der Grotten 
eine faſt eben ſo große Weite als die zurückgelegte bevor⸗ 


286 
Und all der Höhlen Labyrinthenbau 
In Wechſelſtrahlen, tauſendfarb'gem Glimmer! 


Das Alabaſterweiß zum Lazurblau! 
Rubinenbläſſe zu Demantenſchimmer ! 


Was gilt das Menſchenwerk, die Fürſtenpracht, 
Wo du, Natur, du Unerforſchte, walteſt 

In ſtiller Größe, unermeßner Macht, 
Alltäglich wirkeſt, und doch nie veralteſt! 


Arthur vom Nordſtern. 


ſtünde; aber nur ſelten wird wegen der oft gefährlichen 
Gänge, und da das Geſehene einige Stunden Zeit erheiſcht, 
der ohnehin noch nicht zweifelloſe Endpunkt der Grotte 
gufgeſucht. 


287 


Unerfüllte Weisfagung. 
An R. B. 


(Sm Jahee 1308.) 


Daß er des reinen Feuers Gluth bewahre, 
Tritt, aus des Tempelhaines dunkler Stille, 
Das Haupt, die Bruſt bedeckt mit weißer Hülle, 
Der fromme Prieſter bethend zum Altare. 

Wie Göttliches mit Irdiſchem ſich paare, 
Und durch das Weltall dringt der Gottheit Fülle, 
Erſpäht er dort, damit der höchſte Wille, 
Durch ihn dem Volk ſich herrlich offenbare! 

Rein ſind dir, Jüngling, Geiſt, Gemüth und Sinne, 
Geläutert haſt du dich in ſtiller Demuth, 
So offenbart ſich dir die heil'ge Kunde! 

Ich blick' auf dich mit Freud’ und hoher Wehmuth; 
Vollende Bruder, was ich ſchwach beginne: 
Das Evangelium vom neuen Bunde! — 


F. L. Z. Werner. 


en 


288 N 


Die m euer 


(Im April 18 0 7.) 


Wer iſt der Große? — Dem in dem Gemüthe 
Der Gottheit Funke hell und herrlich brennt! 
Denn von des Lichtes Urquell ungetrennt, 
Iſt Er der Allmacht Spiegel und der Güte. 
In Demuth ſtrebend: daß Er rein behüthe, 
Was ewig ſein, und was die Welt nicht kennt, 
Iſt Liebe feines Weſens Element, 
Und all ſein Thun der Schönheit Frucht und Blüthe !— 
Sou nun ein Solcher laut das Heil verkünden; 
(Ein Marterthum! — Denn ſtill ſich zu verflären 
Liebt, welche wohnt in Ihm, des Lichtes Kraft!) — 
So — mag durch Reingluth Er die Welt entzünden, 
Mag Er ſie lenken durch den Sang der Sphären, 
Wir ahnden Gott und nennen's: Meifterfchaft! — 


F. L. Z. Werner. 


sn Bo 8 & 


Bi: Durand, Erzählung von C. A. Well, 5 
Der Wanderer, von Thereſe v. Artner. „ 
n » 12 Wein an 
In das Stammbuch eines Freundes, von Demſelben. 


Lieder, von Helmine v. Chezy. 8 . 0 2 
An die Quelle in Gaſtein, von C. Freyin v. Bogelſang. 
Sehnſucht nach Thränen, von Carl Förſter. > 0 


d 0 ee, ene 
Leitfaden, von Demſelben. . . . x - 
Deviſe eines roſenfarbenen Kalenders, als Sylveſtergabe, 
von Fr. Kuhn. 5 . 2 A > - 
Die Unerfahrene, Erzählung von Joſephine v. Perin, ges 
bornen Freyin v. Vogelſang. . x 5 > » 
Abſchied von Wien, von Arthur vom Nordſtern. 
Der Leibarzt des Fürſten, von J. F. Caſte ll. 
Der brennende Buſch, von F. Kind. 5 A 2 0 
Die Libelle, von Baron Schlechten. 
Der Allſehende, von Th. Hell. N 8 . 
Auf dem Kirchhofe zu Leipzig, von Deine ein 0 
Geiſtliche Muſik, von Carl Forſter. „ 
T 


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Karl und Kathy, von F. L. Z. Werner. e 
Die Stieftochter, Erzählung von Caroline Pichler, ges 

bornen v. Greiner. 0 9 3 . f 155 


Der Glaube an die Frauen, von Fr. Kuhn. 4 . 214 
Bilder aus der Natur, von Ludwig Jeitteles. ° . 233 
Die vier Elemente, von Klotilde. x 1 0 238 


Der Geiſt des Gewäſſers, von Varon Schlechta. 241 
Adlerſinn, von Caroline Freyin v. Vogelſang. . 243 


Der Luftſchiffer, von Johann Gabr. Seidl. > . 245 
An meines Töchterchens erſtem Gebursstage , von Carl 
Förſter. + 0 * * 2 0 * 0 0 248 


Tharants Ruinen, von F. L. Z. Werner. . 250 
Ein ſchottiſches Reiſeabentheuer, von Theodor Hell. 0 28 
Kunſthöhe, von Deinhardſtein. A 5 A 8 „ 274 
Luſtſpiel, von Demſelben. g 5 . R . 275 
Grün oder Blau, von Fr. Kind. 276 
Maria Magdala, keine Büßerin, von Th. v. e 278 
An Emma, von R. Walther. . 5 5 5 aan 
Die Grotte in Adelsberg, von Arthur vom Ne . 282 
Unerfüllte Weisſagung, von F. L. Z. Werner. x 287 
Der Meiſter, don Demſebenn‚”. 288 


Aus der Dfficin des Verlegers. 
(Papier von J. G. Uffenheimer in Wien.)